Aufruhr auf den Antillen

von Bernard Schmid

03/09

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Der Generalstreik auf den französischen Karibikinseln befindet sich in seiner sechsten Woche. Es deutet sich an, dass die Hauptforderung der Streikenden (200 Euro Erhöhung für alle niedrigen Löhne) erfüllt werden dürfte – obwohl verbunden mit staatlichen Steuer- und Abgabenerlässen für die Arbeitgeber. Nach dem massiv befolgten Arbeitskampf und (darüber hinausreichenden) Gesellschaftskonflikt wird sich, unabhängig von den materiellen Ergebnissen, einiges in den postkolonialen Inselgesellschaften verändert haben.

Mister Bean ist nicht mehr sehr beliebt auf den Antillen. In jüngster Zeit glaubt man seinem Wort nicht mehr. „Mister Bean“, das ist der Spitzname, den man auf den administrativ zu Frankreich gehörenden Karibikinseln Guadeloupe und La Martinique dem Pariser „Überseeminister“ Yves Jégo – einem aufstrebenden Jungpolitiker der rechtskonservativen und wirtschaftsliberalen Regierungspartei UMP – gegeben hat.  Und der Mann sieht wirklich so aus... 

Letzterer hatte in den letzten Wochen zuerst mit Vertretern der Protestbewegung auf Guadeloupe verhandelt, war aber dann am 9. Februar o9 überstürzt und ohne Vorwarnung nach Paris abgereist. Als er zurückkam, galt sein zuvor abgegebenes Wort nicht mehr. Vor seiner Abreise hatte der Minister noch ein Protokoll unterschrieben, das die Anhebung aller Niedriglöhne um 200 Euro vorsieht. Genau dieser Forderung aber, so verlautbarte die Pariser Regierung nach seiner Rückkehr auf die Insel drei Tage später unisono, werde auf keinen Fall nachgegeben: Alles andere ja, aber dies komme nicht in Frage. Aus Sicht der französischen Generalregierung würde es einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen: Nach den Einwohnern der französischen Antillen könnten dann ja auch die Menschen in anderen „Überseegebieten“ Forderungen stellen – etwa in La Réunion im Indischen Ozean, wo ab dem 5. März o9 zum Generalstreik aufgerufen wird. Und, warum nicht, danach auch in Festlandfrankreich? 

Es war nicht das erste Mal, dass die Protestbewegung brüskiert wurde, denn auch der Präfekt hatte zuvor (Anfang Februar) eine laufende Verhandlungsrunde unvermittelt verlassen. Beide werden allem Anschein nach durch die Pariser Zentralregierung unter enger Kontrolle gehalten. Premierminister François Fillon schien seinem Minister zu misstrauen, in dem Sinne, dass er bei den Zugeständnissen schon zu weit gegangen sein könnte.  

Jégo war anscheinend vom Verhalten führender Repräsentanten der Béké - einer weißen Gutsbesitzerkaste, die aus Nachfahren der früheren Sklavenhalter besteht und bspw. auf der Insel Martinique nur knapp ein Prozent der Bevölkerung (3.OOO von 400.900 Einwohner/inne/n) stellt, aber 52 Prozent des Bodens besitzt - wirklich entsetzt. Er hatte jedenfalls öffentlich ein „archaisches (altertümliches) Arbeitgeberlager“ auf den Inseln kritisiert.  

Erst vor kurzem löste ein prominenter Vertreter der „Béké“ auf La Martinique - Alain Huyghues-Despointes, einer der führenden Unternehmer der französischen Überseegebiete - einen Skandal aus. Am 6. Februar 2009 hatte er im Regionalfernsehen „die Rassenmischung“ für die Unruhen verantwortlich gemacht. In „Mischlingsfamilien“ herrsche ihm zufolge Unordnung, da „die Kinder unterschiedlicher Hautfarbe“ seien.  „Wir“, die Beke, „haben immer auf die Reinhaltung unserer Rasse geachtet“, meinte er und war dabei völlig ernst. Und dann fiel der Satz, aufgrund dessen inzwischen viele Einwohner der Karibikinsel, aber auch die französische antirassistische Vereinigung MRAP von Paris aus Strafanzeige gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft der Inselhauptstadt Fort-de-France erstattet haben: „Die Historiker neigen dazu, die Probleme ein bisschen zu übertreiben. Sie reden überwiegend von den negativen Seiten der Sklaverei. Aber es hat auch positive Seiten gegeben.“ Auf die Nachfrage, was denn die positiven Seiten gewesen seien, führte er aus: „Manche Herren (von Sklaven) sind auch sehr menschlich gewesen.“  

Die Sklaverei ist seit wenigen Jahren, seit einem Gesetz aus dem Jahr 2001, durch die Französische Republik offen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Insofern hat Huyghues-Despointes, den Klägern zufolge, den Straftatbestand der Leugnung oder Apologie eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt. Die Sklavenhaltung war auf den französischen Antillen zunächst 1794 unter der Revolution abgeschafft worden. Auf der Insel Guadeloupe, wo die Gesandten der Pariser Jakobiner sich mit den freigelassenen Sklaven verbündeten, wurden zahlreiche  Vertreter der „Béké“ unter der Jakobinerherrschaft nach dem revolutionären RR-Prinzip behandelt (also „Rüber runter!“, was man zumindest bei Sklavenhaltern auch nicht wirklich zu bedauern vermag). Nicht so auf La Martinique, denn die Insel war zwischenzeitlich für einige Jahre unter britische Herrschaft geraten, und die feudalen Sozialstrukturen wurden dort bewahrt. Und dies weitgehend bis heute, denn nachdem die Sklaverei im April/Mai 1848 zum zweiten Mal und nun definitiv abgeschafft wurden, zahlte der französische Staat den bisherigen „Herren“ der Sklaven fette „Entschädigungs“zahlungen für deren Befreiung.  

In den letzten Jahrzehnten sind es auch die wichtigsten Béké-Familien von La Martinique, denen nicht nur auf ihrer „eigenen“ Insel, sondern auch im benachbarten Guadeloupe – wo die alte Feudalklasse durch die historischen Ereignisse bedingt „ausfiel“ - grobe Teile der Inselökonomie gehören. Zwar wurden auf Guadeloupe nach „harten“ Streiks in den 1970er Jahren die groben Bananenplantagen aufgeteilt. Aber die „Béké“, die einen Teil ihres landwirtschaftlich genutzten Bodens zugunsten einer Diversifizierung der Agrarwirtschaft verloren, konnten –auch nachdem sie den Monokultur-Anbau auf einem Teil ihres Terrains einstellten - sich anderweitig hemmungslos bereichern, u.a.  an lukrativen Grundstückungsspekulationsgeschäften (etwa im Bereich des Luxustourismus). 

Auf den Antillen existiert eine Form kolonialer Ökonomie, die weitgehend am Tropf der „Metropole“, also des europäischen Frankreich, hängt. Neben den Tourismuseinnahmen - die in den letzten Wochen aufgrund des Generalstreiks und der dadurch zum Erliegenden gekommenen Treibstoffversorgung weitgehend ausbleiben - basiert die Inselwirtschaft weitgehend auf landwirtschaftlichem Großgrundbesitz und auf Einfuhrmonopolen. Letztere, die berühmte „Containerwirtschaft“, befindet sich nach wie vor fest in der Hand von Angehörigen der „Béké“. Daraus resultieren die immensen Preisunterschiede zur Metropole, zum europäischen Festlandfrankreich - wie beispielsweise im Falle der inzwischen sprichwörtlich gewordenen Zahnbürste, die im europäischen Frankreich einen Euro und in Guadeloupe 4,50 Euro kostet. Die so genannte freie Konkurrenz – die dem in der wirtschaftsliberalen Theorie entgegenstünde - kann diese Mechanismen nicht aushebeln, da aufgrund der geographischen Inselsituation nur wenige Vertriebswege existieren, die fest in der Hand der örtlichen Monopole liegen.  

Deswegen beruhte die faktische Kolonialökonomie auf Monopolpositionen, die faktisch fest in der Hand der alten; weiben „Béké“-Elite liegen. Aber auch europäische Firmen, etwa vom französischen „Festland“, profitieren von den „politisch festgesetzten“ Preisen – die wichtigsten Verbraucherpreise, die auf einer offiziellen Liste aufgeführt sind, werden vom Präfekten (juristischen Vertreter des französischen Zentralstaats) festgelegt – und den dadurch ermöglichten Superprofiten. So verkauft der französische Erdöl-Multikonzern TOTAL auf Guadeloupe Treibstoff zu weit überhöhten Preisen, und streicht dabei selbst einen deutlichen Extraprofit ein. Zudem ist etwa der oben zitierte Alain Huyghues-Despointes, der reichste Mann auf den Karibikinseln, offizieller Lizenzinhaber für den Verkauf von rund 400 Industrieprodukten auf Guadeloupe und La Martinique, die an ihm vorbei dort nicht vertrieben werden können. Deren europäische Herstellerfirmen und die „Béké“ teilen sich die Extraprofite unter sich auf.  

Die Lebenshaltungskosten sind gegenüber denen auf dem französischen „Festland“ um rund 40 Prozent überhöht, und ein Untersuchungsbericht im Auftrag des französischen Parlaments kam ziemlich offiziell zu dem Ergebnis, diese Preisunterschiede seien absolut nicht durch die  objektiven Transportkosten zu rechtfertigen. Zumal die Inhaber von Einfuhrlizenzen sich nicht scheuen, auch dort relativ hohe Transportkosten zu erzeugen, wo es schlichtweg unnötig wäre. Den Kindern und Jugendlichen in den Schulkantinen auf den französischen Antillen werden Früchte aus Neuseeland serviert. Unnötiger geht es nicht: Aufgrund des geradezu paradiesischen Klimas wachsen so gut wie alle Tropenfrüchte direkt nebenan. Aber der Import von Kiwis aus Neuseeland wirft Einfuhrprofite ab. 90 Prozent des Bedarfs der Inseln werden derzeit importiert. (Und „wenn die überhöhten Preise angeblich an den Transportkosten liegen, warum ist dann Fruchtsaft auf den Inseln teurer als im europäischen Kontinentalfrankreich, obwohl er auf den Inseln hergestellt wird? Warum ist Zucker auf den Antillen teurer als auf dem Festland, obwohl das Zuckerrohr auf den Inseln angebaut wird? Warum sind Bananen teurer als auf dem europäischen Festland, obwohl die Früchte von den Karibikinseln dorthin exportiert werden?“ Übrigens einmal völlig abgesehen von den EU-Agrarsubentionen... Die soeben zitierten Fragen werden in einem Dossier in der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ vom Samstag Abend des 28. Februar aufgeworfen.) 

Insofern stellt sich die Frage nach der Umverteilung der Reichtumspositionen auf den Inseln, aber für manche politische Bewegungen auch jene nach der politischen Unabhängigkeit von Frankreich (oder, im Falle der KP Guadeloupes, nach Autonomie im französischen Staatsverband bei gleichzeitiger Integration in die Karibikregion). Aber in der Vergangenheit wurden Unabhängigkeitsbewegungen mehrfach blutig unterdrückt. Die Niederschlagung von Demonstrationen und Streiks im Mai 1967 kostete 110 Todesopfer, ebenso blutig fiel die vorangegangene Repressionswelle am 14.  Februar 1952 hochgradig blutig aus. Heute wäre dieser Schritt allerdings für die französische Staatsmacht schwerer zu unternehmen, da Handy-Kameras und Internet dafür sorgen würden, dass die Bilder alsbald um die Welt gingen. 

Die letzte oppositionelle Bewegung, die Forderungen gegen das Elend offen mit der Unabhängigkeitsfrage verknüpfte und aus der heraus Einzelne – unter ihnen namhafte Intellektuelle und Lehrer – zu Bombenangriffen gegen französische Institutionen übergingen, wurde 1985 brachial niedergeschlagen. Daraus haben die Oppositionskräfte auf Guadeloupe gelernt. Zwar treten die wichtigsten sozialen Oppositionsbewegungen in der Regel auch für die Unabhängigkeitsforderung ein. Etwa der Gewerkschaftsbund UGTG auf Guadeloupe, der die Mehrheitsheitsgewerkschaft der Insel – mit 52 Prozent der Stimmen bei den letzten Arbeitsgerichtswahlen Anfang Dezember 2008  stellt.  

Aber in diesem Jahr hält die soziale Protestbewegung sich mit der politischen Unabhängigkeitsforderung zurück, die in keinem der Forderungskataloge auftaucht. Um die Einheit mit Oppositionskräften in der „Metropole“ zu ermöglichen und nicht vom französischen Staat von den Bewohnern des europäischen Frankreichs isoliert zu werden, rücken ihre Wortführer ausschlieblich soziale Forderungen in den Vordergrund. Soziale Inhalte, die auch für Menschen auf dem französischen „Festland“ verbindend wirken können. Gleichzeitig ist es momentan eher die französische Rechtspresse, die – in denunziatorischer Absicht – den Gedanken einer Unabhängigkeitsbewegung in den Raum wirft. In seiner Ausgabe vom 26. Februar behauptet das konservativ-liberaler Pariser Wochenmagazin ‚L’Express’ beispielsweise, die sozialen Forderungen der Bewegungen seien nicht ernst zu nehmen, denn diese wolle „ohnehin nicht ernsthaft verwandeln“, sondern nur – auf dem Umweg über das Herbeiführen eines Chaos – die Inseln in die Unabhängigkeit treiben. Eine Umfrage im Auftrag des  konservativen Wochenmagazins ‚Figaro Magazine’  (Ausgabe vom 28. Februar o9) ergab zur selben Zeit, dass angeblich 51 Prozent der Festlandsfranzosen in Europa sich für eine Unabhängigkeit der Antillen aussprächen – die Frage war so gestellt worden, dass sie dem Publikum suggerierte, dass die Karibikinseln „uns viel kosten“. (Auf Guadeloupe selbst vertreten die für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien circa 20 % der Stimmen. Ein Teil der örtlichen Gesellschaft ist gegen die Unabhängigkeitsforderung, u.a. weil sie davon ausgeht, dass man mit einem französischen EU-Pass besser in der Welt reisen könne als mit einem „karibischen Inselpass“.)  Insofern wird die Unabhängigkeitsforderung zumindest im Augenblick eher von rechts her in den Raum geworfen, um zu Spaltung und Entsolidarisierung zu führen.  

Generalstreik und Radikalisierung der Protestformen 

Seit dem 20. Januar 2009 läuft nun der Generalstreik auf Guadeloupe – und seit dem 5. Februar o9 auch auf La Martinique -, der im ersteren Falle vom Netzwerk Liannay kont pwofitasyon (LKP) organisiert wird, im letzteren durch die örtlichen Gewerkschaften. Dieses Netzwerk LKP, dessen Name auf Kreolisch so viel wie „Kollektiv gegen Ausbeutung“ bedeutet - im Hochfranzösischen ergäbe er ungefähr „Ensemble contre l’exploitation“ - setzt sich aus einem Geflecht von Gewerkschaften, kulturellen Vereinigungen wie etwa karibikfranzösischen Karnevalsgruppen, Stadtteilgruppen und ähnlichen Initiativen zusammen. Es animierte über fünf Wochen lang den massenhaft befolgten Generalstreik auf der Insel, der sich hauptsächlich „contre la vie chère“, also „gegen das teure Leben“ richtet. Der Protest wird so mit einem Ausdruck bezeichnet, der im vergangenen Jahr 2008 in drei Dutzend französischsprachiger - vor allem afrikanischer - Länder zur Benennung von Brotrevolten und sozialen Protesten benutzt wurde.   

Am 16. Februar begann auf Guadeloupe die Radikalisierung des Protests, durch die Errichtung zahlreicher Strabensperren. Gleichzeitig setzte auch die Repression ein. Die linksliberale Tageszeitung Libération schildert: „Sie sind alle weiß und laufen - Knüppel in der Hand - herum, inmitten der Kokospalmen-Stümpfe, Reifen, Abfälle und großen Steine, mit denen die Fernverkehrsstraße blockiert ist. Sie sind alle schwarz und weichen vor dem Ansturm zurück, indem sie ihre Hymne singen (…).“ Einige Zeilen weiter wird geschildert, wie 50 Demonstranten und Blockierer festgenommen werden: „<Worauf warten wir, um das alles einzuladen>, befiehlt ein Gendarm“, bevor die Verhafteten in einen bereit stehenden Bus steigen. Ein ortsansässiger Weißer bekundet den Gendarmen: „Heute schäme ich mich dafür, Franzose zu sein. Ich gehe jetzt auf die Flagge pissen.“ Woraufhin ihm geantwortet wird, er möge sich doch „ein anderes Land aussuchen“, vielleicht in Afrika. Ein verhafteter Gewerkschafter, Alex Lollia, wird bei dieser Gelegenheit durch Einsatzkräfte als „dreckiger Neger“ beschimpft und verletzt.

In den Tagen darauf eskalierte die Situation. In der Nacht zum 18. Februar etwa wurden 15 Geschäfte geplündert, rund dreißig Autos angezündet und etwa sieben Industrieniederlassungen angegriffen. Diese Attacken geschehen allerdings nicht willkürlich und nach dem Zufallsprinzip, sondern erfolgen sehr gezielt auf Angehörige jener „Béké“familien, die nahezu die gesamte Inselökonomie kontrollieren. Zu ihnen zählt namentlich der Konzern GBH (Groupe Bernard Hayot) des Karibik-Tycoons Hayot, dem zahlreiche Autohändler, zwei riesige Supermärkte und andere Geschäfte auf der Insel gehören - mehrere von ihnen wurden in Brand gesteckt.  

Aber der Zorn explodierte auch auf unkontrollierte Weise. Jugendliche Hitzköpfe schlossen sich zu bewaffneten Jugendgangs zusammen. Sechs Angehörige der uniformierten „Ordnungskräfte“ wurden laut offiziellen Angaben in der ersten Nacht der Unruhen durch Schüsse - die aus Pump-guns abgegeben wurden - „leicht verletzt“. Feuer loderten an zahlreichen Orten auf Guadeloupe. Aber möglicherweise erschossen jugendliche Hitzköpfe in der Nacht vom 17. Zum 18. Februar an einer Strabensperre auch den 48jährigen Gewerkschafter Jacques Bino, der sich im Auto auf der Rückkehr von einer Veranstaltung der Protestbewegung befand. Den Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaften zufolge hielten sie ihn für einen Zivilpolizisten, von denen viele in nicht als Polizeifahrzeuge gekennzeichneten Wagen verkehren. Eine Kugel durchschlug die Brust des Gewerkschaftsaktivisten und tötete ihn. Das LKP rief daraufhin zu Besonnenheit auf – „Gefährdet nicht euer Leben und das von Anderen!“ -, gab aber der Staatsmacht die überwiegende Schuld an der eingetretenen Eskalation. Nichts habe sich von ihrer Seite her bewegt, bevor es zu einem solchen Ausbruch des Zorns wie in den Tagen zuvor gekommen war.  

Allerdings fordern viele Opponenten – unter ihnen auch LKP-Sprecher Elie Domota – dringlich eine „unabhängige Untersuchung“ des Todes von Jacques Bino. Ihnen zufolge gibt es zumindest einen Restzweifel, ob es sich nicht etwa um einen Auftragsmord im Interesse der „Béké“ handeln könnte: Jacques Bino war nicht nur Gewerkschafter, sondern auch Finanzbeamter, und als solcher über solche manche Machenschaften der ökonomischen Elite auf dem laufenden.. Unterdessen wurden allerdings seit dem Donnerstag, 26. Februar sechs Tatverdächtige. Unter ihnen gilt der 34jährige Gelegenheitsarbeiter Ruddy H., der bereits aufgrund von Gewaltdelikten vorbestraft sein soll, als der mutmabliche Todesschütze. Trifft diese Version zu, dann hätten tatsächlich junge Hitzköpfe von einer Barrikade aus auf den Gewerkschafter geballert, ihn für einen Zivilpolizisten haltend. Diese Version kann zur Stunde nicht ausgeschlossen, aber auch nicht definitiv bestätigt werden. (In der vorangegangenen Woche hatten die Polizisten bereits einen jungen Mann in seinem Zimmer festgenommen und misshandelt, der sich im Nachhinein als an der Tat völlig unschuldig herausstellte.)  

Ab dem 19. Februar zeichnete sich zunächst erstmals ab, dass auch die Zentralregierung – die ihren Überseeminister Jégo zuvor zurückgepfiffen hatte – bei der Forderung nach 200 Euro mehr für die tiefen Löhne auf den Antillen einlenken könnte. Im Laufe des Tages wurde dies dann jedoch wieder relativiert: Premierminister François Fillon präzisierte, es handele sich lediglich um eine vorgezogene Anwendung des „Sozialen Aktivitätseinkommens“ RSA, das ab Juni schrittweise in ganz Frankreich flächendeckend eingeführt werden wird, aber auf den Karibikinseln und in anderen „Überseegebieten“ erst mit zweijähriger Verspätung „ankommen“ sollte. Dieser Mechanismus entspricht grob einem „Kombilohn“, bei dem Unternehmer zwar Tiefstlöhne auf Hungerniveau bezahlen dürfen, diese aber durch den Staat – steuerfinanziert – aufgestockt werden. Ab diesem Jahr wird der neu eingeführte RSA, dessen gesetzliche Grundlage im Herbst verabschiedet worden ist, auf dem französischen „Festland“ alle bisherigen Sozialhilfesätze ersetzen. Er ist allerdings mit einer Quasi-Pflicht zur Lohnarbeit – in der Regel zu Tiefstlöhnen, unter Teilzeit- und anderen prekären Bedingungen – verbunden. Noch im Januar 2009 hatte Präsident Sarkozy präzisiert, ab der zweiten Ablehnung eines Jobangebots werde RSA-Empfängern „der Hand zugedreht, und dann ist aus“. Der RSA betrifft nur Löhne, die höchstens auf ungefähr gleichem Niveau mit dem gesetzlichen Mindestlohn (SMIC) für eine Vollzeitstelle liegen.  

Fillon fügte hinzu, für die anderen Löhne solle es keine Aufstockung geben, „denn dies würde der anderen Forderung widersprechen: Jene nach Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf den Antillen“. Auch das Arbeitgeberlager auf den Inseln hatte sich in den vergangenen Wochen – unter dem massiven Druck der Proteste – bereit erklärt, der 200-Euro-Forderung nachzugeben, wollte diese allerdings seinerseits durch Erlässe bei den Steuern oder Sozialabgaben in entsprechender Höhe gegenfinanziert wissen.  

Unterdessen zeichnete sich ab, dass Ankündigungspräsident Sarkozy die Sache vorläufig in die Hand nehmen wird. Nach einem Treffen mit Parlamentariern von den Antillen kündigte er an, im April 2009 auf die Karibikinseln zu reisen. Zudem sollen in jedem einzelnen Überseebezirk „Generalstände“- also ein grober Kongress – zu seiner Zukunft einberufen werden, „sobald wieder Ruhe eingekehrt ist“. Unterdessen sollen 580 Millionen Euro für dringende soziale Bedürfnisse bereitgestellt werden, von denen allerdings allein 280 Millionen auf den umstrittenen RSA – der ohnehin einige Monate später, wie überall in Frankreich, eingeführt worden wäre - entfallen. Sarkozy erkannte die Realität von rassistischen Diskriminierungen auf den Antillen an und forderte, diese müssten nun in eine „neue Entwicklungslogik“ eintreten. Unterdessen schlugen die beiden Ombudsmänner, die vom Elysée-Palast als Vermittler eingesetzt worden waren, eine staatliche Sonderprämie an die Empfänger von Niedriglöhnen während einer Dauer von zwei Jahren zu bezahlen.  

In den letzten Februartagen, am 26. und 27. Februar, zeichneten sich Konturen eines Abkommens zwischen den wichtigsten sozialen Akteuren ab. Es würde in etwa beinhalten, dass die Arbeitgeber auf der Insel 50 Euro aus eigener Tasche auf die niedrigen Löhne (bis circa 1.400 Euro netto, dem 1,4fachen des gesetzlichen Mindestlohns SMIC) hinzulegen und nochmals 50 Euro, die ihnen der Staat durch eine Senkung von Steuern oder Sozialabgaben erlässt. Nochmals 80 Euro würden als Sonderprämie zusätzlich zum RSA bezahlt, die allen unteren Lohngruppen bis zum 1,4fachen SMIC – freilich gestaffelt – zugute kommen soll. Dadurch würden die Lohn- und Gehaltsempfänger zumindest zeitweise 180 Euro pro Monat mehr in der Tasche haben (was annäherungsweise an die 200 Euro-Forderung herankäme), finanziert würde die Beinahe-Erfüllung dieser Forderung jedoch aus unterschiedlichen Quellen. 

Auf Guadeloupe näherte sich die Situation daraufhin einem sozialen „Friedensschluss“ an, der zunächst jedoch durch die Grobunternehmer blockiert wurde (der zentrale Arbeitgeberverband MEDEF unterzeichnete das Abkommen bislang nichtà, während viele „kleine“ Arbeitgeber die angestrebten Lohnerhöhung recht bereitwillig akzeptieren. Unterdessen fingen die Proteste auf La Martinque – wo der Generalstreik seit dem 5. Februar andauert – an, sich zu radikalisieren. Aber auch dort deutet sich seit dem Wochenende an, dass die Streikenden 200 Euro Lohnerhöhung bekommen dürften (sie fordern dort allerdings 250 Euro). Und vielleicht kann ja zukünftig auch die französische „Metropole“ noch etwas von der Kampfkraft der Inselbewohner/innen lernen...

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.