Deutsche Zustände I 2009
Das kurze Leben des David S.


von
Peter Nowak

03/09

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: Die im Trend 12/2008 unter dem Namen „Deutsche Verhältnisse“ begonnene Berichterstattung, wird jetzt mit diesem historisch treffenderen Titel in loser Folge fortgesetzt. Ich danke Antonin Dick für den Hinweis.(P.N.)

Was sich in der Nacht zum 16.Juli 2008 in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg wirklich zugetragen hat, wird sich vielleicht nie mehr endgültig klären lassen. Sicher ist nur, dass der 23jährige David S. an den schweren Schnittverletzungen an seinen Unterarmen stirbt, die er sich mit einer Rasierklinge zugefügt hat. Also ein erfolgreicher Selbstmord ? Das dachten wohl viele, denn sonst hätte der Tod des jungen Mannes eigentlich zu einem Medienthema werden müssen. S. hatte unmittelbar nachdem er sich die Verletzungen zufügte, den Alarmknopf gedrückt und Mitgefangene, die das gehört hatten, schlugen ebenfalls Alarm. Zwei Justizangestellte blickten kurz durch eine Klappe im Zellenfenster, wo sie den stark blutenden Mann sahen, der sie um Hilfe bat. Dann dauerte es eine halbe Stunde, bis zwei Sanitäter eintrafen, die sich telefonisch vom Gefängnisarzt medizinischen Rat holten. Der riet per Ferndiagnose die Wunden mit Klammerpflastern zu versorgen. Dann wird S. in einem Rollstuhl in die Krankenabteilung der JVA Nürnberg gebracht, wo eine Erstversorgung der Wunden erfolgte. Kurz darauf verliert der Mann das Bewusstsein und stirbt wenig später an den Folgen des hohen Blutverlusts.

Das ist der aktualisierten Folge der von der Antirassistischen Initiative Berlin herausgegebenen Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ zu entnehmen (Bestelladresse: http://www.ari-berlin.org/doku/titel.htm).

David S. hatte keinen deutschen Pass. Der Verdacht, dass die Umstände seines Todes deswegen keine öffentliche Reaktion auslösten, ist nicht unbegründet. Er kam als 15jähriger mit seinen Eltern aus Armenien nach Deutschland. Während sie wegen verschiedener Krankheiten einen Passersatz bekommen hatte, betrieb die zuständige Ausländerbehörde die Abschiebung von S.,, nachdem er volljährig geworden war. Er durfte nicht arbeiten und wurde aus der Familie herausgerissen, weil er in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht wurde. Selbst die Tatsache, dass er seien asthmakranke Mutter pflegte und sehr an seinen Eltern hing, trug nicht zur Änderung dieser bürokratischen Entscheidung bei.

Als David S. am frühen Morgen des 18.Februar 2008 von der Polizei unter dem Vorwurf verhaftet wurde, an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt gewesen zu sein, war er mit seiner Mutter alleine. Die bekam daraufhin einen schweren Asthmaanfall und musste vom Notarzt behandelt wurden.

In der Haft durfte der junge Mann seine Eltern weder sehen noch mit ihnen telefonieren. Das Amtsgericht Nürnberg hatte eine von S. Rechtsanwalt beantragte Besuchserlaubnis für den Vater mit der Begründung abgelehnt, "dass die Besuchserlaubnis aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht erteilt werden kann, was mit dem Zweck der Haft nicht vereinbar ist gem. § 119 Abs. 3 StPO". Er sei dringend verdächtig, zusammen mit derzeit noch nicht bekannten Personen einen schweren Raub begangen zu haben. Da er keine Aussage machte, bestehe Verdunklungsgefahr. David S. erhoffte sich von einem Haftprüfungstermin am 15. Juli die Freilassung. Der war wegen der zwischenzeitlichen Anklageerhebung gestrichen worden. Einen Tag später fügte sich der junge Mann, die tödlichen Verletzungen zu. Bei allen Unklarheiten, eins scheint. sicher: es war der Hilferuf eines Verzweifelten, der leben und nicht sterben wollte.

Doch es bleibt eine Fülle von Fragen: Warum dauerte es mehr als 30 Minuten, bis Erste Hilfe geleistet wurde? Ist die Erstbehandlung eine solche Verletzung nicht eine Routineangelegenheit, die eigentlich auch das Justizpersonal beherrschen muss? Wäre das Leben von S. zu retten gewesen, wenn diese Maßnahmen sofort eingeleitet worden wären?

Der zweite Fragenkomplex dreht sich um die Verhaftung? Verstößt ein totales Kontaktverbot sogar für die nächsten Angehörigen über mehrere Monate nicht gegen grundlegende Menschenrechte, die auch von Deutschland unterschrieben wurden? Sollte S. damit unter Druck gesetzt und zu einer Aussage gedrängt werden? Oder wie ist der Hinweis zu verstehen, dass er die Aussage verweigert, was ja sein gutes Recht ist.
Und was hatte es überhaupt mit dem Raub auf sich, den S. mit unbekannten Personen verübt haben soll? Wird in der Angelegenheit weiter ermittelt oder wurde nach dem Tod des jungen Mannes die Akte geschlossen? Und wie plausibel war der Verdacht gegen S., wenn es gute Chancen für seine Freilassung beim Haftprüfungstermin gab? Oder war es nur eine Inszenierung um ihn endgültig abschieben zu können?

Doch damit nicht genug der Fragen: Warum wurde ein junger Mann, der seine Jugend gemeinsam mit seinen Eltern in Deutschland verbringt, aus seinem Leben rausgerissen in Zwangsunterkünfte gezwungen, nur um in ein Land abgeschoben zu werden, in dem er niemand kennt?

„Die Menschenrechte von Flüchtlingen in der bundesdeutschen Rechtswirklichkeit werden häufig missacht und den allermeisten Schutzsuchenden wird durch Sondergesetze ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben und ein Bleiberecht abgesprochen“ skizziert Elke Schmidt von der Antirassistischen Initiative die deutschen Verhältnisse. David S. hat sie nicht überlebt.
 

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.