Kann es eine Schule
für alle geben, wenn das Gymnasium weiter existiert? Was
geschieht gerade in Hamburg und Berlin, wo unter ganz anderen
Bedingungen, mal schwarz-grün, mal rot-rot, das Schulsystem
umgestaltet? Geht das in die richtige Richtung? Und wie wird es
nach dem 9. Mai in NRW weiter gehen, wenn die LINKE im Landtag
sitzt?
Über diese und andere
Fragen diskutierten Bildungsfachleute – und wer ist das nicht? –
auf der schul- und bildungspolitischen Konferenz der Rosa
Luxemburg Stiftung NRW mit dem Titel „Eine Schule für alle:
Gemeinschaftsschule in NRW und anderswo“ Gemeinsam mit
FachvertreterInnen und PolitikerInnen erarbeiteten die rund 80
TeilnehmerInnen am 20. Februar in Essen Kriterien, Perspektiven
und Realisierungschancen für das Konzept der Gemeinschaftsschule
in NRW.
Susanne Thurn, Leiterin
der Laborschule in Bielefeld, konzentrierte sich in ihrem
Eröffnungsvortrag darauf, was „Eine Schule für alle“ leisten
müsse. Deutschland bräuchte eine Schule für alle Kinder, die auf
einer Kindertagesstätte aufbaut, in den wissenschaftlich
ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher (!) bereits eine
angemessene Bildung bieten würden. Eine Schule mit einer
veränderten Lern- und Unterrichtskultur, die jedem Einzelnen
gerecht werden könne. Eine Schule, die auf
Leistungsdifferenzierung verzichte. Eine Schule, in der Kinder
die gesellschaftlich vereinbarten Mindeststandards in
Pflichtkursen erreichen könnten und darüber hinaus individuell
vielfältige weitere Lernangebote und wahldifferenzierende
Profilierungsmöglichkeiten erhalten würden, mit denen sie zu
ihren individuellen Höchstleistungen herausgefordert würden.
Eine Schule, die Kinder dazu befähige, diese Lernangebote
selbstbestimmt wahrzunehmen und für ihr Lernen selbst
Verantwortung zu übernehmen. Diese Schule könne auf Noten als
sachfremde Scheinmotivierung verzichten. In ihr arbeiten
PädagogInnen mit unterschiedlichen Kompetenzen, mit
gleichwertiger Ausbildung und daher gleicher Bezahlung
miteinander. Und eine Schule in der Gemeinde und Nachbarschaft
mit einer anregenden Lernumgebung, die das andere Lernen
unterstütze – Schule als Kinder-, Jugend-, Sport-, Kultur-,
Technik-, Bibliotheks-, Medien- und Gemeindezentrum für
vielfältige Aktivitäten, die ganztägig und ganzjährig für alle
geöffnet seien. Zum Schluss betonte Thurn, dass eine Änderung
des Schulsystems durch die Politik nicht damit getan sei,
Türschilder einfach auszuwechseln. Die Veränderung müsste den
Kern betreffen.
In der anschließenden
Diskussionsrunde sprachen zwölf FachvertreterInnen aus
unterschiedlichen Bereichen darüber, ob und wie eine darüber, ob
und wie eine Schule für alle in NRW zu realisieren ist. Die
Fachbuchautorin Christel Jungmann gab zunächst einen Überblick
über Herkunft und Geschichte der Gemeinschaftsschule: „Das erste
Konzept wurde früher in Schleswig Holstein unter rot-grün
entwickelt.“ Der darauf folgende Politkrimi um Heide Simonis
(SPD) hätte schließlich die Realisierung verhindert. Das Konzept
sei danach zunächst von Sachsen und später von Berlin als
Pilotprojekt, das neben den bisherigen Schulformen existiert,
übernommen worden.
Kritik an dem Konzept
der Partei DIE LINKE kam von Werner Kerski von der Initiative „Gemeinnützige
Gesellschaft
Gesamtschule“:
„Der Partei fehlt der Weg zum Ziel.“ Einen Unterschied zwischen
einer Gemeinschaftsschule und einer Gesamtschule gebe es seiner
Meinung nach nicht. Das wurde jedoch von Seiten des Publikums
heftig dementiert: „In einer Gesamtschule wird nach Leistung
differenziert. Die Gemeinschaftsschule bietet allen die gleiche
Chance und bezieht Behinderte und Lernschwache mit ein“. Kerski
ergänzte, dass die Gesamtschule ausgebaut und das Gymnasium mit
in die Reform einbezogen werden müsse. Außerdem müsse eine
Umorientierung im Lehramtsstudium stattfinden.
Für eine inklusive
Schule plädierte Wolfgang Blaschke,
Vorstand der Initiative 'mittendrin' Köln. Damit ist gemeint,
dass alle existierenden Schulen in einer
Gemeinschaftsschule zusammengefasst werden. „Wenn alle für ihr
Kind das Gymnasium wollen, warum solle diese Schule dann nicht
Gymnasium heißen?“
Auf die Praxis ging
Thomas Jaitner, bildungspolitischer Referent der
Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenvertretung NRW
(LAGA) ein: „Wir leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft, das
muss im Unterricht berücksichtigt werden.“ Er sprach sich für
frühzeitigen mehrsprachigen Unterricht aus, durchaus mit
Migrantionssprachen. Positive Beispiele dafür gebe es in der
einer bilingualen Grundschule in Köln, wo türkisch und deutsch
gelehrt wird.
Hassan Metwally,
bildungspolitischer Sprecher der Partei DIE LINKE, brachte seine
Erfahrungen mit der bereits umgesetzten Gemeinschaftsschule in
Berlin ein. Dort seien mit dem Schuljahr 2008/09 die ersten elf
Gemeinschaftsschulprojekte mit 17 Schulen als Pilotprojekt
gestartet. Darunter seien Grundschulen, die mit weiterführenden
Schulen kooperieren. Ebenso gebe es Zusammenschlüsse von
verschiedenen Schultypen (Haupt-, Real- und Gesamtschulen), aber
auch eine Schulneugründung in Pankow. Die Schüler blieben bis
zur zehnten Klasse zusammen und könnten entsprechend ihres
erreichten Leistungsniveaus alle geltenden Abschlüsse erwerben
und dem Weg zum Abitur gemeinsam fortsetzen. Es gebe kein
zwangsweises Sitzenbleiben. Eine freiwillige Wiederholung und
ebenso das überspringen einer Jahrgangsstufe sei möglich. Es
gebe Förderangebote, in denen Interessen und Neigungen sowohl
der Lernschwächeren als auch der Leistungsstarken Rechnung
getragen würde. Mit dem „Runden Tisch Gemeinschaftsschule“
existiere ein offenes Forum von Interessierten aus Schulen,
Gewerkschaften, Verbänden und Parteien, die das Vorhaben für
bessere und gerechtere Bildungschancen in der Stadt unterstützen
würden. Pro Jahr sollen drei bis vier Schulen hinzukommen. „Es
gibt mittlerweile mehr nachfragen, als Plätze“, fügte Metwally
hinzu.
Über die Erfahrungen in
Hamburg berichtete Klaus Bullan, Landesvorsitzender der
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hamburg. Dort
werden Mitte Juli die BürgerInnen per Volksentscheid darüber
abstimmen, ob die Kinder weiter nur vier oder künftig sechs
Jahre gemeinsam zur Grundschule gehen. In Hamburg sei ein
regelrechter Klassenkampf aufgebrochen: „Hier kämpft die
privilegierte Schicht um ihre um ihre Schulstruktur.“ Die
Initiative „Eine Schule für alle“, deren Sprecher Bullan ist,
findet, dass der Antrag der schwarz-grünen Landesregierung auf
längeres gemeinsames Lernen schon mal ein kleiner Schritt in die
richtige Richtung sei: „Wir wollen erreichen, dass sich in
Zukunft alle weiterführenden Schulen zu fördernden und
integrativ arbeitenden Gemeinschaftsschulen bis zur zehnten
Klasse entwickeln“, ergänzte Bullan. Problematisch sieht Bullan
die geplante Einführung des Probejahrs an Gymnasien: „Wir
befürchten, dass dieses Experiment den Grundgedanken der
individuellen pädagogischen Förderung in der 7. Klasse aushebelt
und letztlich zu schärferer Auslese führt.“ Die allgemeine
bildungspolitische Auseinandersetzung zeige überall in
Deutschland, dass es so mit dem Bildungssystem nicht mehr
weitergehen könne.
In der nächsten
Diskussionsrunde ging es um Umsetzungschancen. Reinhard Frind,
Dezernent Familie, Bildung, Soziales der Stadt Oberhausen und
Vorsitzender des Schulausschusses des Städtetags NRW stellte die
Position der Kommunen dar. Sie wollen mehr Freiheiten, um ihre
Schulsysteme individuell gestalten zu können. Ob Verbundschule,
Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen oder
Gemeinschaftsschulen – das solle jede Kommune selbst entscheiden
können. Ein Schulangebot ohne Gymnasien halten Frind und der
Städtetag jedoch für illusorisch. Man könne nicht über Köpfe
hinweg entscheiden. Der Städtetag hat sich unter anderem dafür
ausgesprochen, dass regionale Bildungsbüros in NRW eingerichtet
werden sollen. Darin würden ein Lehrer und ein Mitarbeiter
erarbeiten, „wo Bildung noch stattfindet.“ Die Kosten dafür
müssten die Kommunen tragen.
Bezogen auf die Stadt
Köln erklärte Özlem Demirel, für DIE LINKE im Rat der Stadt
Köln, dass die Gesamtschulen immer mehr Zulauf hätten. Über 800
SchülerInnen seien im letzten Jahr abgelehnt worden. Die
Landesregierung lege einer Lösung für dieses Problem bewusst
Steine in den Weg. In einer repräsentativen Umfrage Ende 2009 in
Köln seien Eltern von Kindern im dritten Schuljahr unter anderem
gefragt worden, welche Schule sie sich für ihr Kind wünschen,
mit dem Ergebnis: 59 Prozent wünschten sich das Gymnasium, 23
Prozent die Gesamtschule, 16 Prozent die Realschule und ein
Prozent die Hauptschule. Das zeige, dass sich Eltern für ihre
Kinder die best möglich Schulform wünschten. Außerdem hätten in
der Studie zwei Drittel aller Eltern ein längeres gemeinsames
Lernen befürwortet. Demirel betonte, dass das neue Schulsystem
allerdings nicht in einzelnen Schritten verwirklicht werden
könne.
„Schwarz-gelb
wird die Spaltung in der Gesellschaft weiter führen“, fürchtet
Andreas Meyer-Lauber, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
(GEW), Landesvorsitzender NRW. Der Weg zur „Einen Schule für
alle“ erfordere einen langen Reformprozess. Aber der ist
gangbar. Dafür spricht auch, dass sich immer mehr SchülerInnen
für Gesamtschulen entscheiden. In den Schuljahren 2008/09 und
2009/10 haben sich rund 15000 SchülerInnen an Gesamtschulen
angemeldet, jedoch keinen Platz bekommen. Somit würden die
Eltern um das Recht der freien Schulwahl gebracht.
Beim abschließenden
politischen Podium diskutierten Landesvertreterinnen von SPD,
Grünen und Linken miteinander. Die SPD hätte sich bereits 2007
bei ihrem Bildungsparteitag für eine Gemeinschaftsschule
eingesetzt, so Renate Hendricks, MdL NRW. Damals sei aber die
Bereitschaft der Gesellschaft für Veränderungen nicht da
gewesen. Die SPD mache sich für „Eine Schule für alle“ stark und
bevorzuge dabei den Weg der kleinen Schritte: „wir können ja
nicht einfach allen Schulen das neue Konzept aufdrücken.“ Die
Gymnasien sollten in den Prozess einbezogen werden. Die
Lehramtstudenten müssten jetzt schon auf die Veränderungen
geschult werden. Angst hätte sie vor einem erneuten Schulkampf.
Daniela Schneckenburger,
Landesvorsitzende Bündnis 90/DIE GRÜNEN NRW, setzte sich für
längeres gemeinsames Lernen ein. Durch das derzeitige
gegliederte Schulsystem würde soziale Ungleichheit verstärkt.
Kinder lernten aus Milieus und sozialen Gruppen. Das System
könne nur mit Eltern und Lehrern gemeinsam umgestellt werden.
Ihre Partei wolle pro Jahr 10 Prozent der Schulen umstellen.
Bärbel Beuermann,
Spitzenkandidatin für DIE LINKE in NRW erklärte, dass ihre
Partei an einer Gemeinschaftsschule arbeite, weil die
Regelschulen unter anderem nicht auf Schüler mit besonderen
Fähigkeiten eingehen würden. Schüler von Förderschulen hätten
keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Ihre Partei wolle gleiche
Chancen für alle in jedem Lebenslager schaffen. Durch
Ganztagsschulen würden Kinder eine bessere Förderung erhalten.
Außerdem sollten die Klassen verkleinert werden, wodurch eine
individuelle Ausbildung eines jeden Schülers möglich sei. Wie
der konkrete Weg der Umsetzung aussehen sollte, konnte Beuermann
allerdings nicht beantworten: „Wir arbeiten daran.“
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel von der Autorin für diese Ausgabe.
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