Materialistische Dialektik und marxistische Erkenntnistheorie

von Peter Wollen

03/11

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Den Begriff Dialektik benutzen wir für die 'weitere Logik', die das offene System eines unendlichen, sich (im Prozess der Totalisierung oder 'Verganzheitlichung') ständig wandelnden Ganzen untersucht; im Gegensatz zur 'engeren' oder 'formalen Logik', die es nur mit geschlossenen (d.h. endlichen bzw. begrenzten oder abgegrenzten) Systemen zu tun hat.

Im Alltagsleben ist die formale Logik in Form des gesunden Menschenverstandes ganz nützlich und hat ihre Berechtigung. Sie kann in 3 Axiomen (Grundannahmen) zusammengefasst werden: A ist gleich A (Gesetz der Identität); A ist ungleich Nicht-A (Gesetz des Gegensatzes); es existiert kein B, welches gleich A und gleich Nicht-A (Gesetz des ausgeschlossenen Dritten). Es ist ganz praktisch anzunehmen, dass ein Kilo Zucker genau einem Kilo Zucker entspricht, auch wenn dies in Wirklichkeit nicht ganz stimmt.

Wird diese Methode jedoch zur Religion erhoben und ihre Beschränktheit geleugnet, kann dies schwere Folgen haben. So kann es streng genommen keine Entwicklung in der Natur geben; aus einem Ei kann kein Kücken schlüpfen und aus einem Kücken wird schließlich keine Henne bzw. kein Hahn. In der Gesellschaft wird diese Argumentation dazu verwendet, um die momentanen Zustände zu verteidigen und die Unmöglichkeit einer siegreichen Revolution aufzuzeigen. Die Formallogik ist somit die herrschende Ideologie in der Wissenschaft, aber auch in der modernen ArbeiterInnenbewegung, in der ja Jahrzehnte lang das friedliche Zusammenleben von Kapitalisten und ArbeiterInnen und das Ende von Klassenkämpfen geprädigt wurde, wie dies auch heute noch im ÖGB überwiegend der Fall ist.

In seiner Polemik 'Josef Dietzgen' (1907) schreibt Plechanow: "(...) wäre noch zu sagen, dass die »_Erkenntniskritik_«, die in der von Marx gegebenen Charakteristik der materialistischen Dialektik enthalten ist, ausführlicher in den Werken von Engels, insbesondere im ersten philosophischen Teil des »Anti-Dühring« dargelegt worden ist.

Wohl ist sie dort nicht in systematischer Form, sondern in polemischer Form dargelegt. Immerhin, wenn das ein Fehler ist, so bloß ein formaler, und dadurch wird der Inhalt der philosophischen Gedanken, die Engels in der Polemik mit Dühring darlegt, nicht geändert."

Soetwas wie eine eigene 'marxistische Philosophie' kann also weder bei Marx noch bei Engels in ausgearbeiteter Form vorgefunden werden. Marx schreibt: "Das Wort (...) 'wissenschaftlicher Sozialismus' ist gebraucht worden nur im Gegensatz zum utopischen Sozialismus, der neue Hirngespinste dem Volk aufheften will, statt seine Wissenschaft auf die Erkenntnis der vom Volk selbst gemachten sozialen Bewegung zu beschränken". (Konspekt über Bakunin, 1874, MEW 18, S. 635 f.)

Engels selbst schreibt im 2. Vorwort zu seinem 'Anti-Dühring', "die Polemik schlug um in eine mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung, und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten. Diese unsre Anschauungsweise hat, seit sie zuerst in Marx' »Misére de la philosophie« und im »Kommunistischen Manifest« vor die Welt trat, ein reichlich zwanzigjähriges Inkubationsstadium durchgemacht, bis sie seit dem Erscheinen des »Kapital« mit wachsender Geschwindigkeit stets weitre Kreise ergriff" und fasst hiermit den 'Marxismus' als Einheit der "dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung". Doch er schreibt weiter, "sowenig diese Schrift den Zweck haben kann, dem »System« des Herrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen, so wird der Leser doch hoffentlich in den von mir aufgestellten Ansichten den innern Zusammenhang nicht vermissen."

Auf dem Begräbnis von Karl Marx sagte Engels (Rede veröffentlicht in "Der Sozialdemokrat" Nr. 13 vom 22. März 1883):

"Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: Die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; dass also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen - nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.

Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen, sowohl der bürgerlichen Ökonomen wie der sozialistischen Kritiker, im Dunkel sich verirrt hatten." (MEW 19, S. 335 f.)

Dialektik und Materialismus

Aufbauend auf den Ergebnissen der Forschung auf dem Gebiet der Naturwissenschaft gelangten die Gelehrten der Antike zu neuen Erkenntnissen im Bereich der Philosophie. Ihre methodischen sowie erkenntnistheoretischen Schlussforgerungen können als spontane Dialektik und naiver oder naturwissenschaftlicher Materialismus bezeichnet werden. (Begriffserklärung s.u.)

"Die philosophische Dialektik wurde zunächst gewonnen aus der Beobachtung der Verwandlungen in der Natur und so von den griechischen Naturphilosophen (Vorsokratiker) erstmals formuliert." (Wal Buchenberg, 4.2.2002)

Am Bekanntesten ist der Grieche Heraklit, dem der Satz "Panta rhei, oudei menei." (Alles fließt, nichts steht.) zugeschrieben wird. Auch Hegel entwickelte seine 'Dialektik' aus den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, allen voran jener in der Evolutionsgeschichte. Doch bis heute ist die Theorie des Beständigen, die formale Logik, das herrschende Paradigma. Die Kapitalisten nutzen sie, um den 'status quo' zu verteidigen, die ArbeiterInnen sprechen ihrem Arbeitsprodukt eine 'ewige Lebensdauer' zu und die Religion verteidigt die Entstehung der Natur durch das (einmalige) Eingreifen Gottes.

Doch immer mehr WissenschafterInnen kommen zu dialektischen Schlussfolgerungen, ohne Heraklit, Hegel oder Engels auch nur gelesen zu haben. Zu augenfällig sind die formalistische Verklärtheit in Wissenschaft und Schulbildung und die Existenz von Veränderungen in der Natur und der Gesellschaft.

Die Dialektik kommt aber immer 'von außen', sie ist Ausdruck dessen, wie wir die Welt und ihre Geschichte begreifen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, welches zu philosophischen Überlegungen im Stande ist. Bereits in seinen Frühschriften machte Marx das klar. So schreibt er beispielsweise: "Jede Entwicklung, welches ihr Inhalt sei, lässt sich darstellen als eine Reihe von verschiedenen Entwicklungsstufen, die so zusammenhängen, dass die eine die Verneinung (=einen Gegensatz) der anderen bildet." (Moralisierende Kritik, MEW 4, S. 336)

Dialektik ist aber auch nicht einfach alles und jedes. Alt und neu, Werden und Vergehen sind fundamentale Kategorien der Dialektik und drücken die Widersprüchlichkeit der Entwicklung aus. Doch auch in der formalen Logik gibt es Widersprüche und von solchen zu sprechen macht uns noch lange nicht zu 'DialektikerInnen'. Das wohl klassischste und bekannteste aller Beispiele für das Vorkommen von Bewegunsprozessen in der Natur ist die Keimung des Gerstenkorns.

Engels erklärt: "Nehmen wir ein Gerstenkorn. Billionen solcher Gerstenkörner werden vermahlen, verkocht und verbraut, und dann verzehrt. Aber findet solch ein Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Einfluss der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl. Getreidearten verändern sich äußerst langsam, und so bleibt sich die Gerste von heute ziemlich gleich mit der von vor hundert Jahren." Ein weiteres Beispiel ist das Verdampfen und Vereisen von Wasser.

Weiter unten heißt es: "Es versteht sich von selbst, dass ich über den besondern Entwicklungsprozess, den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation. Denn da die Integralrechnung ebenfalls Negation der Negation ist, würde ich mit der entgegengesetzten Behauptung nur den Unsinn behaupten, der Lebensprozess eines Gerstenhalms sei Integralrechnung oder meinetwegen auch Sozialismus. Das ist es aber, was die Metaphysiker der Dialektik fortwährend in die Schuhe schieben. Wenn ich von all diesen Prozessen sage, sie sind Negation der Negation, so fasse ich sie allesamt unter dies eine Bewegungsgesetz zusammen, und lasse ebendeswegen die Besonderheiten jedes einzelnen Spezialprozesses unbeachtet. Die Dialektik ist aber weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens."

Die dialektische Methode befähigt uns nicht, mechanische Voraussagen über eine Entwicklung aufzeigen zu können. Genau gegen diese Konzeption von Dialektik argumentiert Engels in dem zitierten Abschnitt. Zuvor hat er aufgezeigt, dass Marx in seiner Darlegung der ursprünglichen Kapitalakkumulation in England nicht einfach schreibt "Es ist Negation der Negation", sondern zuvor lange ausführt, welche die genaue Entwicklung war und unter welchen konkreten Umständen diese sich vollzog.

In Anlehnung an Hegels 'Logik' fasste Engels die "allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens' wie folgt zusammen: - Gesetz des Umschlagens von Qualität in Quantität und umgekehrt - Gesetz der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze - Gesetz der Negation der Negation

Die beiden letzten lassen sich auch formulieren als 'Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze' und 'Zusammenhang zwischen der Negation des Alten und der Durchsetzung des Neuen im Entwicklungsprozess'. Aber er warnt seine LeserInnen: "Definitionen sind für die Wissenschaft wertlos, weil stets unzulänglich. Die einzig reelle Definition ist die Entwicklung der Sache selbst, und diese ist aber keine Definition mehr." (Engels, MEW 20, S. 578)

Somit ist Dialektik eine Methode, eine Art zu Denken und Dinge zu analysieren. Sowohl die formale Logik als auch die Dialektik abstrahiert vom Unwesentlichen und verallgemeinert ihre Resultate. Beide begreifen Abstraktion als die Erhebung unterschiedlicher Bereiche aus eine Ebene, indem unter Berücksichtigung aller Unterschiedlichkeiten das Gemeinsame ausgearbeitet wird. Doch die VertreterInnen der formalen Logik meinen, dass nun das Wesentliche, die Substanz, von allen mystischen Verhüllungen befreit wäre, während sie diese 'Substanz' zum eigentlichen Ausgangspunkt ihrer Forschung machen, so wie sich die Menschen einen Gott schufen, um anschließend durch diesen die Welt zu erklären.

"Erst wird eine Abstraktion aus einer Tatsache gezogen; dann erklärt, dass diese Tatsache auf dieser Abstraktion beruhe. Wohlfeilste Methode, deutsch, tief und spekulativ zu erscheinen. Zum Beispiel:
Tatsache: Die Katze frisst die Maus.
Überlegung:
Katze = Natur, Maus = Natur,
Verzehren der Maus durch die Katze = Verzehren der Natur durch die Natur = Selbstverzehren der Natur. Philosophische Darstellung der Tatsache: Auf dem Selbstverzehren der Natur beruht das Gefressenwerden der Maus von der Katze." (K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 469 f.)

(Anmerkung: Das 'Selbstverzehren der Natur' ist eine Entdeckung Platons, des Stammvaters aller modernen Philosophen: "Denn von nirgends her fand ein Zugang oder Abgang statt, (...) sondern ein Sichselbstverzehren gewährt der Welt ihre Nahrung" Platon, Timaios 33 d)

Die Dialektik hingegen betrachtet die Gegenstände in ihrem Zusammenhang. Weder haben die ForscherInnen ein fixes Ziel vor Augen, auf das sie ihre Theorien und Hypothesen ausrichten, noch bauen sie auf irgendeinem abstrakten 'Ding-an-sich' oder spekulaticen Wesen aus. Sie gehen analytisch vor, indem sie das Ganze in seine Einzelteile zergliedern, doch erheben sie diese Teile nicht einfach wieder zu einem Ganzen, sondern gehen synthetisch vor. Oftmals wird die dialektische Methode deshalb auch als analytisch-synthetisierende oder regressiv-progressive Methode bezeichnet.

Die deduktive Methode der formalen Logik kann mit folgendem Satz umschrieben werden: "Jeder Mensch muss sterben. Franz ist ein Mensch, also muss er sterben." Hier wird vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, während bei der Induktion vom konkreten Phänomen, dem Ausgansgpunkt der Analyse (in unserem Fall Franz), zur Essenz (hier: die Gattung Mensch) 'synthetisiert' bzw. hingeführt wird. Die Dialektik ist als solche also immer konkret.

1904 kritisiert Lenin das Dialektikverständnis Rosa Luxemburgs in 'Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Eine Antwort N. Lenins an Rosa Luxemburg' mit den folgenden Worten: "Dieses ABC der Dialektik besagt, dass es keine abstrakte Wahrheit gibt, dass die Wahrheit immer konkret ist." (Werke 7, S. 484) Er zitiert hier den russischen Sozialisten Tschernischewsky, der in Anlehnung an Hegel schreibt: "Eine abstrakte Wahrheit gibt es nicht, die Wahrheit ist konkret - Alles hängt von den zeitlichen und räumlichen Umständen ab" "Die Praxis steht über dem theoretischen Wissen, weil sie nicht nur die Fahigkeit des Universellen besitzt, sondern auch der momentanen Realität", schreibt Lenin.

"Wenn die Dialektik uns lehrt, 'Wahrheit ist immer konkret', dann gilt dieses Gesetz mit gleicher Stärke für die Kritik. Es reicht nicht aus, eine Definition abstrakt zu nennen. Man muss ihre Mängel aufzeigen. Sonst wird die Kritik selbst unfruchtbar." fügt Trotzki in 'Verteidigung des Marxismus' hinzu. (Von einer Schramme - zur Gefahr der Knochenfälle, 2. Teil; Das abstrakte und das konkrete, Ökonomie und Politik, 1940) Bereits im Dezember 1923 schreibt er in 'Der neue Kurs' (5. Kapitel) affirmativ: "Die leninistische Wahrheit ist immer konkret."

Gleichzeitig schreibt Hegel, der das Beste aus der deutschen philosophischen Tradition zu einem System zusammenfasste und den deutschen Idealismus zu seinem Höhepunkt und Abschluss brachte: "Die Wahrheit ist das Ganze." Welches ist nun unser Verhältnis zur Philosophie Hegels?

Dazu schreibt Marx im Nachwort (bzw. Vorwort) zur zweiten Auflage des 'Kapital' (1873): "Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopfe umgesetzte und übersetzte Materielle. Die mystifizierende Seite der Hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band es 'Kapital' ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als 'toten Hund'. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken." (MEW 23, S. 27 f.)

Um dies zu erläutern: Hegel setzte sehr wohl die (materielle) Natur dem individuellen, menschlichen Verstand oder Geist voraus, glaubte jedoch an eine der Natur innewohnende Logik oder höhere Struktur. Diese Denktradition wird in der Philosohpie häufig auch als Metaphysik bzw. bei Kant als Trandszendentaldialektik bezeichnet, da dieser "absolute Geist", das Ding-an-sich, bei Kant dem Menschenverstand verborgen und nicht zugänglich ist. Mehring schreibt in seinem Artikel 'Kant, Dietzgen, Mach und der historische Materialismus' (Neue Zeit, 1910) "er wollte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen".

Dialektische Methode oder DIAMAT?

Zum ersten Mal verwendet wird der Terminus 'dialektischer Materialismus' von Josef Dietzgen 1887 in seinem Werk 'Streifzüge eines Sozialisten'. Popularisiert wird er durch Georg Plechanows 1891 erschienen Essay 'Fundamental Problems of Marxism'. Wie Karl Korsch in seiner Arbeit über den Sieg des Positivismus (sprich der Formallogik und ihrer mechanischen Weltanschauung) in der 2. und 3. Internationel ausführt, hat vor allem Kautsky dazu beigetragen, den 'dialektischen Materialismus' zur homogenen Weltanschauung der sozialistischen und kommunistischen ArbeiterInnenbewegung zu machen.

Dietzgen vertritt ähnlich dem deutschen Philosophen Feuerbach einen spontanen Sensualismus und vertritt die induktive Methode in der Wissenschaft. Tatsächlich stand er der Philosophie Feuerbachs näher als der materialistischen Auffassung der Geschichte von Marx und Engels. Die erste Feuerbachthese kann heute auf Dietzgen ebenso angewandt werden wie auf viele selbsternannte MarxistInnen unserer Zeit:

"Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher wurde die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im Wesen des Christentum nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der 'revolutionären', der 'praktisch-kritischen' Tätigkeit." (MEW 3, S. 5)

Marx schreibt in einem Brief an Engels: "Aus dem einliegenden Brief von Dietzgen wirst du sehen, dass der Unglückliche rückwärts 'vorangegangen' und richtig bei der 'Phänomenologie' 'angekommen' ist. Ich halte den Fall für unheilbar." (5.1.1882, MEW 35, S. 31)

Ich denke, wir sollten in Anlehnung an diese These stets vom historischen Materialismus als unserer Methode und Weltanschauung sprechen, und nicht vom 'dialektischen Materialismus' oder von der marxistischen Philosophie, da solche Termini meist nur in einer verkehrten, pervertierten Form verwendet werden. Bereits zu Marxens Lebzeiten hatten Engels und er mit Vereinfachungen ihrer Theorien und Plattheiten unter den SozialistInnen zu kämpfen. Eine 'Dialektik der Natur' wurde von Engels niemals publiziert. Stets hatten Marx und Engels den Menschen selbst als Gegenstand ihrer Arbeiten und keine entmenschlichte, abstrakte Theorie.

Karl Marx soll, in Anlehnung an Martin Luther, gesagt haben: "Ich bin kein Marxist!" In einem Antwortbrief an eine (jugendliche) Fraktion französischer SozialistInnen, die sich als marxistisch bezeichneten, reagierte er mit eben diesen - ironisch gemeinten - Worten: "Ce qu'il y a de certain c'est que moi, je ne suis pas marxist." Also: "Eines ist sicher (was mich betrifft) ich bin kein Marxist." (Brief von Engels an C. Schmidt in Berlin, 1890)

Keynes hat wiederum, in bewusster Anlehnung an Marx, gesagt: "Ich bin kein Keynesianer." Und Friedrich Engels hat weiter gesagt: "Wer Marxist ist, hat Marx niemals verstanden."

Dieser Streit wurde auch nach ihrem Tod fortgeführt. Lenins Schriften 'Drei Quellen' und 'Empiriokritizismus sind in ebendiesem Kontext zu lesen. "Der unmittelbare Hintergrund dieses Streits ist in der ganz unvorhergesehenen Bildung der Räte in der russischen Revolution von 1905 und dem Entstehen des Syndikalismus als eines Konkurrenten des Marxismus im westlichen Europa (und mit dem Aufkommen der 'International Workers of the World'/IWW auch in den USA) zu sehen. Es ist zudem bezeichnend, dass sowohl die holländische als auch die russische Entwicklung verbunden waren mit philosophischer (und ebenso politischer) Heterodoxie - Pannekoek und Gorter befürworteten die monistische Wissenschaftsreligion von Joseph Dietzgen und Bogdanow den monistischen Positivismus von Ernst Mach. Diese philosophischen Abweichungen entsprachen dem Wunsch, eine Aufgabe für die kollektive Subjektivität in der Politik zu finden, die weit über die vom wissenschaftlichen Sozialismus auferlegten Grenzen hinausging, mit dem Ziel, sie der syndikalistischen Mystik der Arbeiterklasse als einem Kollektiv und der damit einhergehenden Akzentuierung des Aktivismus (in extremer Form bei Georges Sorel) anzunähern.

Nach der Revolution der Bolschewiki wandten sich Linkskommunisten mit philosophischen Neigungen von dem Szientismus Dietzgens und Machs (mit ihrer Betonung des Monismus und des subjektiven Faktors in der Wissenschaft) ab und wurden "knallharte" Hegelanhänger, abgesichert durch die "Aufmerksamkeiten", die Marx Hegel entgegenbrachte."


 

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Artikel von
http://redtux.org/text/dialectics.html

Er wurde entnommen aus: aus: Peter Wollen, Zwischen Marxismus und Surrealismus: 'A Bitter Victory', in: 'On the Passage of a few people through a rather brief moment in time: The Situationist International 1957-1972'. Boston 1989; Übersetzung aus dem Englischen: Eckhard Kloft