trend spezial:  Die Aufstände in Nordafrika

Nordafrika, '1979', '1989' und die Analysen der Quacksalber

von
Bernard Schmid

03/11

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Erleben wir im arabischen Raum gerade eine Zeitenwende, den Beginn einer neuen Epoche, mit neuen weltpolitischen Konstellationen, so wie 1989? Absolut ja: Der arabische Aufstand ist nicht mit der Implosion des sowjetischen Blocks vergleichbar – aber auch nicht mit der iranischen Revolution & Konterrevolution von 1979. Er wird etwas Neues hervorbringen. Nicht viel Neues hingegen bedeuten die Analysen der Quacksalber & Kurpfuscher, die ihre jeweilige Weltsicht in ihren Interpretationen der Ereignisse in Nordafrika (und inzwischen auch auf der arabischen Halbinsel) wiederzufinden versuchen. Handelt es sich in den Augen der Neokonservativen-Nachplapperer um eine angeblich lupenrein liberale pro-westliche Revolution, die zudem vermeintlich den Kriegskurs und die strategischen Ziele Bushs bestätigt, so suchen in Stalino-Tradition stehende Antiimperialisten ihr Heil in einer Annäherung der Umbruchstaaten an den iranisch/syrischen Regionalblock.

Revolutionen scheinen mitunter auch die Zeitmessung durcheinander zu bringen. Haben wir gerade 1979 oder ist es nicht doch eher 1989? Oder gar 1917? Vielleicht auch 1789? Darf es, eventuell auch 1776 sein? Und was hätten wir sonst noch im Angebot? Hinter diesen Jahreszahlen verbergen sich Interpretationen dessen, was soeben in Tunesien und kurz darauf in Ägypten geschehen ist, oder aus Sicht verschiedener Beobachter angeblich geschehen sein soll. Historische Interpretationsraster sind schnell zur Hand, schnell zusammen geschnitzte Analysen wohlfeil zu haben. 

Ein zweites 1989 oder Die definitive Bestätigung des westlichen Demokratiemodells? 

Eine der gängigen Interpretationen des Umbruchs in Nordafrika lautet derzeit, es lasse sich eine Parallele zwischen ihm und den „demokratischen Revolutionen“ in Osteuropa im Laufe des Jahres 1989 ziehen. So lautet die eher optimistische Variante im westlichen, bürgerlich-liberalen Mainstream. Darauf antworten eher pessimistische liberale Stimmen, und auch eindeutig rassistisch konnotierte Unkenrufe hört man, die warnen: Nein, es könnte sich vielmehr um ein Remake der „iranischen Revolution“ von 1979 handeln.

Das Etikett „1989“ soll signalisieren, es bestehe deswegen Hoffnung, weil sich die Demokratie in der Form der westlichen Industrieländer ein weiteres Mal durchsetze. Die bürgerlich-liberale Demokratie mit parlamentarischem Repräsentativsystem und kapitalistischer Wirtschaftsordnung sei dabei, sich wieder einmal als die auf Dauer einzig richtige Ordnung zu bestätigen. Dies ist freilich Unsinn. Denn auch, wenn mit den Umbrüchen in beiden Fällen ein demokratischer Impuls einherging, so sind doch die Ursachen ebenso wie die zu erwartenden Auswirkungen sehr unterschiedlich. 1989 und 1990 waren Jahre, in denen der „Jugend der Welt“ eine leuchtende Zukunft versprochen wurde. Die Scorpions aus Hannover besangen den „Wind of Change“ und hörten, dass „die Freiheitsglocke schlägt“. Sie versprachen: „The children of tomorrow will be free!“ Doch handelte es sich wirklich um eine demokratische Revolution? Die Bevölkerungen östlich von Elbe oder Donauknick konnten zwar im Laufe der Monate eine alte, autoritäre Herrschaft abschütteln, aber den Auslöser dazu bildete nicht ein Aufstand, sondern eine Implosion des Systems von innen her.

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Die Revolutionen in Nordafrika
Referent: Bernard Schmid (Paris)

Sonnabend, den 5. März 2011 um 19.00 Uhr
Schule für Erwachsenenbildung Berlin
Mehringhof
Gneisenaustrasse 2a
10961 Berlin

EINTRITT FREI

Die durch Michael Gorbatschow ab 1985 in der UdSSR eingeleiteten Reformen waren ein Versuch, das staatssozialistisch-bürokratische System zu retten, doch sie schlugen fehl. Das System hatte sich im Laufe der Geschichte in eine Sackgasse manövriert und den technologischen Wettbewerb, der in den achtziger Jahren durch den von Ronald Reagan angeschobenen Rüstungswettlauf nochmals verschärft wurde, hoffnungslos verloren. Es scheiterte letztendlich auch an inneren Widersprüchen. Staatssozialistische Planwirtschaft, die angeblich „nach den Bedürfnissen plante“, konnte ohne Demokratie und Ausdrucksmöglichkeiten der Gesellschaft nicht funktionieren, sondern führte dazu, dass konsequent an der Wirklichkeit vorbei geplant wurde. Die Massenmobilisierungen auf den Straßen erfolgten zum Großteil, als die ersten Staatsparteien im sowjetischen Block bereits „von oben her“ abgedankt hatten. Eine Ausnahme bildete Polen, wo in den frühen achtziger Jahren eine Gewerkschaftsbewegung das System herausgefordert hatte, die aber in Teilbereichen eher einen „besseren Sozialismus“ anstrebte als eine Übernahme des westlichen Systems forderte.

Die Umbrüche „im Osten“ waren zwar aus Sicht der Bevölkerungen in bestimmten Punkten, auf politischer Ebene, zu begrüßen – sieht man einmal von dem (gewichtigen) Umstand ab, dass sie zumindest im Russland Boris Jelzins mit einer drastischen Verarmung breiter Kreise und der Entstehung einer Mafiaökonomie einhergingen. Jedenfalls wird man Mauer & Stacheldraht, Stasi und SED-Politbüro als solchen sicherlich nicht nachweinen. Gleichzeitig hatten diese Umwälzungen aber außerhalb des bisherigen sowjetischen Blocks eher negative Auswirkungen. Denn viele politische Bewegungen, aber auch Regierungen frisch entkolonisierter Staaten, hatten bis dahin vom Bestehen eines „Systemantagonismus“ profitiert, um zwischen beiden Blöcken ihre eigenen Spielräume zu erweitern. Viele Länder der „Dritten Welt“ etwa wurden nicht durch die eiserne Hand des Weltmarkts erdrosselt. Der Wegfall einer „Systemkonkurrenz“ und einer Möglichkeit des Lavierens zwischen gesellschaftspolitischen Alternativen löste deswegen in weiten Teilen des Planeten eine verheerende politische Depression aus.

Das dadurch entstehende Vakuum wurde durch politische Kräfte gefüllt, die nicht etwa ein anderes Wirtschaftssystem auf grundsätzlich aufgeklärter Basis anstrebten, sondern als Alternativoption eine Rückkehr zu Nation, Rasse oder Religion anboten. Während Norbert Blüm 1989 in Westdeutschland ausrief: „Karl Marx ist tot und Jesus lebt!“, antworteten ihm zeitgenössische Politaktivisten beispielsweise in Algerien: „Und Mohammed auch!“ So wurde die politische Bewegung des Islamismus in manchen Ländern zum Hoffnungsträger eines Teils der Ausgebeuteten und Unterdrückten, waren sie doch scheinbar die einzige verbleibende Fundamentalopposition. Daraus erwuchs in der historischen Verlängerung dann auch die Konstellation rund um den 11. September 2011 - ein Datum, das deswegen als solches eben keine „Zeitenwende“ darstellt (trotz des Gelabers in den bürgerlichen Medien, dass hinterher angeblich „nichts mehr so sei wie zuvor“), sondern eine Konsequenz aus den Frontverläufen, wie sie aus der Weltordnung von 1989/1991 erwuchsen. Deren wichtigste Eckdaten lauteten: scheinbarer Wegfall jeder progressiven Alternative vulgo „Ende der Geschichte“ à la Francis Fukuyama, erster massiver Nord-Süd-Krieg im Iraq 1991 (nachdem der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner im Juni 1990 die „neuen Bedrohungen aus dem Süden“ nach dem Ende „des Kommunismus beschworen hatte), imperialistische Arroganz. „Imperialismus versus Islamismus“ schien deswegen für Viele in der südlichen Hemisphäre des Planten die vermeintlich übriggebliebene Wahl zu lauten.

Hätten die Menschen beispielsweise in Algerien, wo das alte Ein-Partei-System im Winter 1988/89 aufbrach, denn just im Augenblick der Veränderungen im „Ostblock“ mehrheitlich den Sozialismus als Alternativoption begreifen können? Wohl kaum, oder nur äußerst schwer. Auch solche Linke, die nie auf das so genannte sowjetische Modell gesetzt hatten, wurden mit in den Strudel der Geschichte gezogen. Anderswo waren es nicht religiös-nationale, sondern ethnisch-identitäre Bewegungen, die ihren Siegeszug antraten. 1990 ist auch das Jahr, in dem der jugoslawische Bürgerkrieg mit seinen völkischen Frontverläufen seinen Ausgang nimmt. Und der postsozialistische Siegestaumel der ehemaligen DDR-Bevölkerung hatte auch sehr hässliche Ausformungen: „Als Deutsche“ begehrten die Ostdeutschen qua „Wiedervereinigung“ Einlass in das vermeintliche kapitalistische Paradies. 1991 in Hoyerswerda oder 1992 in Rostock machte eine nicht unbeträchtliche Zahl unter ihnen klar, wie die Kehrseite davon aussah.

No remake of 1989

Die derzeitigen Umbrüche in Nordafrika gestalten sich ganz anders. Hier war es tatsächlich die Eigenaktivität von Millionen Menschen, die den Anstoß zum Sturz bislang fest im Sattel sitzender Regimes gaben. Letztere hatten bislang eine starke Unterstützung durch die westlichen Großmächte genossen und nie im Kalten Krieg mit ihnen gestanden. Und die gestürzten Staatsparteien standen nicht für eine etatistisch-sozialistische, sondern für eine mafiös-kapitalistische Gesellschaftsordnung. Ihr Kippen macht den Weg für Alternativen, auch progressive, frei. Linke und Gewerkschaften waren überall an den Mobilisierungen beteiligt, freilich nie alleine.  

Auch das iranische „Modell“ ist keines

Und hier kommt die andere Chiffre ins Spiel: 1979. Sie suggeriert, der Schuss drohe vielmehr nach hinten loszugehen, was die Hoffnungen auf Demokratie und mehr Freiheiten betrifft. Auch im Iran habe man sich dies schließlich erhofft, doch dann sei alles andere gekommen - und innerhalb weniger Jahre sei eine neue Diktatur errichtet worden, die sich als mindestens so übel erwies wie die alte. Den Iran betreffend, trifft dies durchaus zu: Binnen zwei Jahren fegte die Konterrevolution unter Ayatollah Khomenei, dessen Anhänger zuvor in der allgemeinen Aufstandsbewegung „mitgeschwommen“ waren, deren demokratische und soziale Errungenschaften weg. Unterstützt durch die Kriegssituation, da der Angriff des - dabei durch quasi alle Großmächte unterstützten - irakischen Regimes auf den Iran im September 1980 einen Ausnahmezustand vorgeblich rechtfertigte.

Zur Zeit des damaligen Aufstands im Iran waren die Anhänger des politischen Islam und seiner speziellen khomeinistischen Variante keineswegs allein oder vorrangig als die Träger einer Alternative erschienen. Vielmehr nahmen kommunistische, andere marxistische, linksnationalistische und liberale Strömungen genauso am Sturz des Schah-Regimes statt. Die Khomeinei-Anhänger genossen keineswegs allgemeine Unterstützung, vielmehr wurden sie insofern unterschätzt, als man ihr politisches Projekt nicht ernst nahm, sondern als aussichtslose reaktionäre Utopie belächelte. Umso brutaler wütete die Konterrevolution, als sie zahlreiche andere politische Strömungen erst aus dem Weg räumen musste: Sie verfügte über keinerlei gesellschaftliche Hegemonie, sondern musste ihre Vorherrschaft erst durch extreme Gewalt herstellen und absichern.

Anders schien es in den neunziger Jahren zeitweilig um islamistische Bewegungen in anderen Ländern zu stehen: Es sah phasenweise so aus, als schafften sie es tatsächlich, mehr oder weniger hegemonial zu werden - weil sie vom Wegfall anderer, besonders linker, ernstzunehmender Alternativen profitierten und die entstandene politische Lücke als „Systemopposition“ ausfüllten.

In Algerien 1991 schien es definitiv keine andere „radikale“ Opposition, die halbwegs glaubwürdig gegenüber den Machthabern auftreten konnte, zu geben. Und doch waren sie gesellschaftlich nicht total hegemonial: Nur rund 3,5 von dreizehn Millionen erwachsenen Algeriern stimmten bei den Parlamentswahlen ab, die infolge des Wahlsiegs der „Islamischen Rettungsfront“ abgebrochen wurden. Und diese hatte nur aufgrund des, durch das alte Regime eingeführten, Mehrheitswahlrechts einen scheinbar überwältigen „Totalsieg“ vermelden können - in Wirklichkeit erhielt sie rund 40 % der Stimmen, von jenem guten Viertel bis erwachsenen Drittel der algerischen  (Erwachsenen-)Gesellschaft, das überhaupt abstimmen gegangen war. Echte „Erdrutsche“ politischer Art sehen anders aus.

Viele der Wähler und Anhänger teilten dabei auch nicht den Kern des islamistischen Programms - die „Gesundung“ der Gesellschaft durch autoritäre „Moralisierung“ und Rückkehr zu einer verschütteten kulturellen Identität, als angebliches Heilmittel gegen Korruption, soziale Ungerechtigkeit und gegen die Dominanz des Westens. Sondern viele von ihnen wollten lediglich die heftigste Opposition gegen das bestehende Regime unterstützen. Es waren das Mehrheitswahlrecht und das Präsidialsystem, die vom alten Regime nach der Demokratisierung von 1988/89 als Repräsentationsmodus ausgewählt worden waren, welche die Stellung der (relativen) Wahlsieg zur absoluten politischen Vormacht auszubauen drohten. Nachdem die radikalen Islamisten, ihres Wahlsiegs „beraubt“, zu den Waffen griffen und einige „befreite Zonen“ vor allem in Unterklassenvierteln rund um Algier errichteten, verloren sie jedoch einen Gutteil ihrer sozialen Basis. Hatten sie ihr doch außer „Moral“diktaten auf die Dauer nichts zu bieten. Eine aktuelle Lehre, die man aus der algerischen Erfahrung ziehen muss, lautet, dass man etwa in Tunesien und Ägypten jetzt unbedingt Mehr-Parteien-Systeme mit Verhältniswahlrecht und einem plural zusammengesetzten Parlament benötigt und um keinen Preis Präsidialverfassungen beibehalten darf. Dann wird man übermorgen auch nicht vor dem Dilemma stehen, eventuell nur noch zwischen dem Wahlsieg eines autoritär-nationalistischen oder eines islamistischen Präsidentschaftskandidaten wählen zu können bzw. zu müssen.

Die aktuellen, demokratischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten wurden durch die Islamisten weder ausgelöst noch kanalisiert oder beherrscht. Im Gegenteil. Den zündenden Funken bildeten mehrere Selbstverbrennungen bzw. öffentlich vollzogenen Selbstmorde von Arbeitslosen, die in Tunesien am 17. und 23. Dezember 2010 stattfanden und denen weitere in Algerien, Mauretanien und Ägypten folgten. Sie lösten zunächst eine Revolte in den sozialen Unterklassen in Zentraltunesien aus, die sich dann auf das ganze Land und breitere gesellschaftliche Kreise ausbreitete und später auf die Nachbarländer übergriff. Was immer man von einer extremen „Protestform“ wie der Selbstverbrennung hält - die man jedenfalls nicht zur Nachahmung empfehlen möchte, die aber zugleich ausdrückt, dass man den Tod einem schlechten Leben vorzieht -, sie steht auf jeden Fall in scharfem Widerspruch zu orthodox-islamischem ebenso wie islamistischem Denken. Denn beide verbieten strikt jede Form von Freitod außerhalb von Kampfhandlungen und betrachten ihn als eine der allerschlimmsten Sünden: Nach herrschender theologischer Lehre führt er dazu, dass man, weil man „das durch Gott geschenkte Leben verschleudert“, sowohl das irdische Leben als auch das Paradies im Jenseits verliert.

Von vornherein war der Anlass der Revolte also nicht „islamisch“ konnotiert. Zwar hat der - in Nordafrika zeitweilig beliebte - Prediger Yussuf al-Qaradawi aus taktischen Gründen noch nach Anknüpfungspunkten gesucht, indem er in einer Fatwa erklärt, im Falle des Selbstmords von Mohammed Bou’azizi in Tunesien könne man mal eine Ausnahme machen, da er zum Sturz eines „gottlosen Tyrannen“ beigetragen habe. Ihm widersprachen jedoch sogleich die Hüter der sunnitischen Orthodoxie von Al-Azhar in Kairo auf das Heftigste. Die Islamisten und konservativ-islamische Kräfte standen im Abseits, als die so lange unterdrückten Emotionen, Frustrationen und verdrängte Wünsche für ein besseres Leben „entfesselt“ wurden.

Selbstverständlich nahmen später - nachdem die Mobilisierung einmal losgetreten war - auch islamistische Aktivisten oder Kader an den Demonstrationen teil; als Repräsentanten einer unter mehreren politischen Kräften, die eine (jeweils unterschiedliche) politische Orientierung anzubieten suchten, oder auch als Trittbrettfahrer. So wurde beispielsweise in Algier der frühere Feuerprediger & islamistische Chefideologe Ali Belhadj bei zwei jüngsten Anlässen (an zwei Samstagen im Februar 2011) auf einem Protestmarsch gesichtet, an dem ansonsten überwiegend junge Gewerkschafter/innen, Frauenrechtlerinnen und Anhänger einer laizistischen Oppositionspartei teilnahmen. Und selbstverständlich werden sie morgen, in demokratisch strukturierten Staaten, eine politische Kraft unter anderen darstellen und sich mit ihren Projekten zu Wort melden. Dies ist jedoch besser als der gestrige Zustand: Bis vor kurzem wurden die Islamisten etwa in Tunesien und Ägypten mit Knochensägen und Elektroden an den Geschlechtsteilen traktiert. Gleichzeitig wuchs ihr Einfluss auf Teile der Gesellschaft im Verborgenen. Denn ihre Ideologie benötigt, anders als linke oder liberale Vorstellungen, keine Erklärung und keine offene Diskussion. Sie profitiert im geeigneten historischen Augenblick davon, dass sie vermeintlich „evident“ erscheint, weil ihre Träger sich angeblich auf den Koran und einen weit verbreiteten „kulturellen Fundus“ beziehen - auch wenn dieser allen Islamisten gemeinsame Bezugspunkt in Wirklichkeit zu höchst unterschiedlichen Politikformen und -strategien führt, wobei unterschiedliche islamistische Kräfte auch eine jeweils verschiedene soziale Basis aufweisen.

Die Islamisten werden keineswegs hegemonial werden. Es sei denn, dass alle anderen politischen Kräfte ihnen diesen Platz durch eigene Unfähigkeit, soziale und politische Alternativen zu Diktatur und Elend wie auch zu einem autoritären Neoliberalismus in demokratischem Gewand zu entwickeln, überlassen. Ihre Stärke erwüchse dann aus der inhaltlichen Schwäche von Liberalen, Linksnationalisten, Linken, Gewerkschaftern und Anderen.

Bitte keine „Demokratisierungshilfe“ oder politische „Patenschaft“… ! 

Letztere müssen ihre eigenen Konzepte und Antworten entwickeln und ihrer Gesellschaft progressive, demokratische, solidarische Auswege aus ihren Krisen anbieten. Diese werden nicht aus dem Norden kommen, nicht von der Europäischen Union, nicht aus Washington oder Tel Aviv und auch nicht vom Internationalen Währungsfond.

Deshalb ist es auch absolut falsch, wenn Olivier Piecha und Thomas von der Osten-Sacken in ‚Jungle World’  forderten, die EU möge „auf jene Programme zurückgreifen, mit denen Mitte der siebziger Jahre auf der iberischen Halbinsel oder Anfang der neunziger Jahre in Osteuropa die Transformation der dortigen Systeme unterstützt wurde. (Vgl. http://jungle-world.com/artikel/2011/04/42491.html) Diese Programme führten unter anderem dazu, dass in Osteuropa nach dem Poststalinismus neben bürgerlicher Demokratie auch ein brutaler Wirtschaftsliberalismus installiert wurde; und in Portugal etwa sorgte die Friedrich-Ebert-Stiftung ab 1975 mit sehr viel Geld dafür, dass eine an Bonn und Brüssel orientierte Sozialdemokratie aufgebaut wurde und den gesellschaftlichen Prozess der „Nelkenrevolution“ zurückdrehte. Von der Europäischen Union muss man in diesem Zusammenhang ansonsten nur eins fordern, nämlich, die betreffenden Länder so weit wie irgend möglich in Ruhe zu lassen.   

Diese beiden Autoren zählen zu den intellektuellen Sympathisanten der politischen Strömung der US-Neokonservativen. Gleichzeitig treten beide derzeit mit einem enormen Enthusiasmus über die arabischen Revolutionen und Umbrüche in Nordafrika auf - der wahrscheinlich durchaus echt ist, in dem Sinne, als beide wirklich an das glauben, was sie predigen. (Die US-Neokonservativen und die politische Rechte in den USA „im Original“ sind dagegen eher gespalten: Ein Teil von ihnen begrüßt die aktuellen Entwicklungen enthuasistisch und erblickt in ihnen eine Bestätigung der eigenen These, eine aggressive und militarisierte Außenpolitik sei notwendig und sinnvoll, im Namen einer „Ausbreitung der Demokratie“. Ein anderer Teil von ihnen jammert hingegen darüber herum, dass die aktuellen Umbrüche brandgefährlich seien, da die Islamisten zu erstarken drohten, und übersetzt „Demokratieforderungen in arabischen Ländern“ automatisch mit „Bedrohung für Israel“. Ähnlich gespalten sind etwa auch die pro-neokonservativen Medien in Frankreich. Auf der Webseite DRZZ.info beispielsweise zeigten sich manche Autoren erfreut über den Wandel in Nordafrika; dagegen verzog der weit rechts stehende Bush-Nostalgiker, liberale Ideologe und Buchautor Guy Millière nur säuerlich sein Gesicht und faselte von einem Sieg der Muslimbrüder und einer Gefahr für Israel.)

Das politische Problem liegt nicht darin, dass die oben zitierten Autoren die aktuellen Umbrüche begrüßen. Vielmehr besteht das Hauptproblem darin, dass sie diese Entwicklung durch ihr ideologisches Raster zu zwängen versuchen und auf eine Weise interpretieren, dass hinterher nur Murks dabei herauskommt.

Neokonservative Interpretationen: purer Murks
Den zitierten Autoren geht es darum, eine politisch und wirtschaftlich bürgerlich-liberale Entwicklung zu konsolidieren. Thomas von der Osten-Sacken - hinfort als „v.d.O.“ abgekürzt - fällte an anderem Ort etwa folgendes, grundsätzlich gemeinte Postulat: „Schlägt die Revolution, der es anfangs um Freiheit und Bildung neuer Institutionen geht, in die sog. << soziale Frage >> um, ist sie vorbei, bzw. transformiert in Terreur.“ (Vgl. http://www.wadinet.de ) Jüngst bekräftigte er dies: Hilfreich wäre an dieser Stelle doch eher eine, etwa von Hannah Arendt vorgeschlagene, Trennung in politische und soziale Revolution vor zu nehmen. Politische Revolutionen sind bilang selten gescheitert, erst wenn sie sich  in soziale transformierten, begann der terreur. Das Vorbild aller großen politischen Revolutionen war und ist übrigens noch immer die amerikanische Revolution, der weder terreur noch Volkstribunale etc. folgten.“ (Artikel vom 04. Februar 11, vgl. http://www.wadinet.de/blog/?p=3535#more-3535 ) Nein, sondern nur die Sklaverei in groβem Maβstab - bis im Jahr 1865 -, die Ausrottung der Ureinwohner Nordamerikas und vielerorts die Herrschaft religiöser Fanatiker, möchte man dem spontan hinzufügen.

Diesem Ideologie-Schrott liegt zunächst eine grandiose Fehlinterpretation der Französischen Revolution zugrunde - ihre Terreur-Phase in den Jahren 1793/94 gehört zu einer bürgerlichen und nicht zu einer sozialistischen Revolution. Und resultierte unter anderem aus dem Krieg der jungen Republik mit den europäischen Monarchien in Berlin und Wien, aus welchem Staatskrise und Hyperinflation resultierten. Die Diktatur Robespierres war keinesfalls deswegen eine, weil die Revolution etwa „zu sozial“ geworden wäre. Tatsächlich waren unter der Diktatur des 1793/94 regierenden Comité de salut public (wörtlich „Komitee/Ausschuss zur Rettung des Staates“; in der verbreiteten deutschen Murks-Übersetzung auch als „Wohlfahrtsausschuss“ bekannt, was hanebüchener Quatsch ist, denn es handelte sich um eine gemeinsame Diktatur von Innen- & Kriegsministerium) gesetzliche Vorschriften geschaffen worden, die Verhaftungen und Hinrichtungen auf puren Verdacht politischer Gegnerschaft hin und ohne ein Minimum an rechtsstaatlichen Garantien ermöglichten. Dadurch wollte der junge bürgerliche Staat seine Stabilisierung durchsetzen und gleichzeitig - in einem ebenso hilflosen wie brutalen Versuch - die noch unverstandenen und unbeherrschten Gesetze der bürgerlichen Ökonomie bezwingen. Denn ein Teil des Hinrichtungsapparats richtete sich gegen Reste der alten Aristokratie, und ein anderer Teil des Terrors wandte sich gegen accapareurs et agioteurs („Wucherer & Schieber“), die vermeintlich für die Hyperinflation und wirtschaftlichen Krisentendenzen verantwortlich zu machen waren - welche in Wirklichkeit aus den Kriegsausgaben, dem Ankurbeln der Notenpresse und der daraus resultierenden Geldentwertung erwuchsen.

Wenn die Revolution im selben Zeitraum überhaupt in einer Hinsicht auf „sozialer“ Ebene über die bürgerliche Revolution hinaus schoss, dann in Gestalt der vollständigen Abschaffung der Sklaverei durch den Konvent - das revolutionäre Parlament - vom 04. Februar 1794. (Unter Napoléon I. wurde die Sklaverei auf den Antillen, den französischen Karibikinseln, am 20. Mai 1802 wieder hergestellt und dauerte danach noch bis 1848 fort.) Hingegen waren in der ersten Phase der bürgerlichen Revolution in den Jahren 1791/92 die großbürgerlich-wirtschaftsliberalen ,Girondins’ am Ruder, die, wie ihr Name verrät - La Gironde ist der Bezirk rund um Bordeaux - überwiegend die Interessen der Sklavenhändler-Bourgeoisie in den Hafenstädten Bordeaux, Nantes und Saint-Nazaire vertrat. Ab 1793 wurden sie vorübergehend durch die Fraktion der  Jakobiner, die ihre Anhängerschaft zum Teil eher aus dem Kleinbürgertum rekrutierte, verdrängt. Durch die Bemühungen um eine autoritäre Kontrolle der Lebensmittel- und Grundversorgungspreise - siehe oben - gewann ihre Regierung zeitweilig auch gewisse Sympathien in kleinen Handwerker-, Tagelöhner- und Plebejer-Kreisen. Wobei das Bemühen um das Drosseln des Preisanstiegs (durch die Mittel brutaler Repression gegen einzelne wirtschaftliche Akteure) nicht vorrangig aus einem „sozialen“ Anliegen, sondern aus dem Stabilitäts-Anspruch des jungen bürgerlichen Staates erwuchs.

Seit den ansatzweise geschichtsrevisionistischen Schriften von François Furet (1927-1997), eines enttäuschten Ex-Kommunisten, der ein für allemal mit dem „Mythos Revolution“ aufräumen und ihn definitiv beerdigte wollte, hat sich in liberalen, konservativen und rechten Kreisen eine vorherrschende ideologische Interpretation der Jahre 1789 ff. durchgesetzt. Sie lautet: Hätte die Revolution es vermieden, die Phase der konstitutionellen Monarchie und der Herrschaft der Girondins von 1791/92 zu überschreiten, dann wäre alles gut verlaufen. Es war der - so lautet die rechte Sichtweise - politische Wahn, die Revolution weitertreiben und ihr zu hohe Umwälzungsziele (Abschaffung der Monarchie, „soziale“ Ansprüche) setzen zu wollen, welcher unmittelbar in die Katastrophe führte. Deswegen darf in Zukunft niemals wieder eine radikale Umwälzung der Verhältnisse angestrebt werden. François Furet proklamierte im Übrigen eine noch weiter gehende Interpretation: Die Revolution sei bis 1792 ein Projekt von politischen Eliten - und keineswegs der „Masse“ der Gesellschaft - gewesen. Die Zwischenphase der Jahre 1793/94 hingegen markiere den katastrophenartigen Einbruch „der Massen“ in die Geschehnisse, der für alle Übel ursächlich geworden sei. Hätte die Revolution die ruhigen Bahnen einer durch die Eliten gesteuerten und gelenkten „Modernisierung von oben“ nicht verlassen, dann wäre alles gut geblieben.

Abgesehen davon, dass diese Sichtweise generell anti-demokratischen Schrott beinhaltet, seien dazu nur zwei kurze Anmerkungen gestattet:

1)     Bei der Machtausübung durch die Girondins zu bleiben, hätte u.a. auch bedeutet, den politischen Repräsentanten des Sklavenhandels (im „Dreiecksgeschäft“ Frankreich/Afrika/Antillen = französische Karibikinseln) direkt die politische Macht zu überlassen. Zu einer Abschaffung der Sklaverei wäre es nie gekommen.

2)     Es waren unter anderem die Groβbürgerfraktionen und der bis im April 1792 noch amtierende König - Ludwig XVI., - die in Frankreich 1792 zum Krieg drängten. Erstere weil aus wirtschaftlichen (Profit-)Gründen, und Letzterer, weil er glaubte, ein europäischer Krieg werde zum Sieg der Monarchien Preuβens und Österreichs und zur Wiederherstellung des französischen Throns führen: Luddwig XVI. spekulierte insgeheim auf eine militärische Niederlage des revolutionären Frankreich. Die als irgendwie „radikaler“ geltenden Jakobiner hatten den Krieg ursprünglich eher nicht gewollt, sahen sich aber seit ihrer Machtübernahme dann ab 1793 der Notwendigkeit ausgesetzt, seine politischen und wirtschaftlichen Folgen zu verwalten. Sicherlich führten sie den Krieg gegen die wichtigsten europäischen Monarchien später dann auch aus eigenem Antrieb weiter.

Die historischen Grundlagen dieser Aussage „unserer“ neokonservativen Intellektuellen à la Thomas v.d.O., nur rein „politisch“ und im Rahmen institutioneller Veränderungen bleibende Revolutionen seien positiv - „soziale“ Revolutionen hingegen Katastrophen -, beruhen also auf Quatsch, Unfug und Geschichtsklitterung.

Vor allem aber möchte der Autor durch eine solche Orientierung das Leitziel vorgeben, die aktuelle Entwicklung in Nordafrika müsse ihrerseits auf jeden Fall in einem bürgerlichen Rahmen und jenem der bestehenden Wirtschaftsordnung bleiben. Ernsthafte Zweifel seien angemeldet, ob dies wirklich ist, was die Bewegung geratenen Gesellschaften mehrheitlich und ausdrücklich wollen.

Dazu passt dann wie die Faust aufs Auge folgender Ausdruck von nacktem „Sozial“-Rassismus - gegen die unproduktiven Fresser & die Überzähligen -, welcher auf derselben Webseite wie die oben zitierten Ausführungen von Thomas v.d.O. publiziert wurde. Verfasser ist ein früherer Internationalist und heutiger (pardon) zynisch gewordener alter Sack aus der Ex-Linken-Szene, der einstmals bei der Hilfsorganisation medico international tätig war. Zu der Situation in Ägypten führt er u.a. aus: „Was soll, was kann eigentlich Gaza, Syrien, Ägypten, der Iraq oder Kurdistan produzieren? Bei dem Großteil der failed states des Nahen Ostens handelt es sich um Rentierformationen: man verkauft Öl oder bezieht Tantiemen aus den Suez-Passagen oder generiert Geld aus dem Tourismus oder dem Schmuggel, und eine Elite erkauft sich mit dessen Erlös die Gunst der Bevölkerung – so lange dies eben möglich ist. Produktiv ist das alles nicht ! Eine Wertschöpfung findet hier nicht statt!“ (Wichtig: doppeltes Ausrufezeichen, damit’s auch ja verstanden wird.) Tatsächlich wird beispielsweise in Ägypten durchaus viel gearbeitet, und die Arbeitszeiten dort - etwa in der Textilindustrie - zählen zu den längsten in der Welt. Doch eine Wertschöpfung vor Ort findet tatsächlich in geringem Ausmaβ statt, einfach deswegen, weil im Falle so genannter ausländischer Direktinvestitionen die Gewinne in aller Regel aus dem Lande abflieβen. Und weil die örtliche Produktion Teil einer internationalen und interkontinentalen Wertschöpfungskette sind, deren Profiteure nun mal eben mehrheitlich anderswo sitzen als in Ägypten.

Aber von solch unschönen Dinge wie internationaler Arbeitsteilung, Kapitalverhältnissen oder gar - schrecklich’ Wort, und bestimmt irgendwie antisemitisch… - Imperialismus, möchte man in solchen Kreisen ja nie etwas gehört haben. Und so geht es also weiter: Ihnen Bildung zu verschaffen hat solang geringen Sinn, wie keine Arbeit da ist. Arbeit ist nicht da, weil diese Gesellschaften samt ihren Eliten zwar unentwegt Forderungen stellen und ausgesprochen ressentimentgeladen agieren, sich aber selten die Frage stellen, wie denn ihre Realproduktion aussehen sollte und könnte. Ha, haben wir sie doch ertappt! Unnütze, überflüssige Fressmäuler sein und dann auch Ansprüche stellen wollen - welch eine Frechheit, so etwas… Der bislang zitierte Dreck wurde übrigens an diesem Ort publiziert: http://www.wadinet.de/blog/?p=3705#more-3705

Nicht der eben zitierte Hans Branscheidt - denn um ihn handelt es sich -, wohl aber seine neokonservativen Wegbegleiter wie Thomas von der Osten-Sacken treten unterdessen lautstark als die angeblich hitzigsten, besten und entschiedensten Unterstützer der Umwälzungen in Nordafrika und in den arabischen Ländern auf. Darüber könnte man glatt vergessen, dass dieselben Leute bis vor kurzem noch ziemlich anderen „konkreten Utopien“ anhingen. Beispielsweise der - irgendwie auch schönen - Utopie von einem neuen Imperium Romanum, das der Welt die Zivilisation einbläut, pardon, vorbeibringt: Das waren noch Zeiten, als der Taunus uns von den Barbaren im Norden schützte und das Mittelmeer so viel näher schien als die Nordsee. (…)Ist das nicht wundervoll: Nabatäer (also die Vorfahren der heutigen Araber), Judäer und Assyrer wachten über die Sicherheit der Zivilisation vor den Germanhorden aus den dunklen deutschen Wäldern, über deren Lebensstil es in dem Büchlein so schön hieß, römische Legionäre hätten das unterentwickelte und von Hungersnöten heimgesuchte Germanien in etwa so beschreiben, wie GI’s die Situation in Somalia im Jahr 1992. (Vgl. http://www.wadinet.de/blog/?p=72 )

Ansonsten träumte man bei diesen Herren bislang, eher als von Revolutionen, übrigens bisweilen auch - von konstitutionellen Monarchien. Völlig im Sinne eines François Furet übrigens (vgl. oben), denn laut dessen Auffassung hätte die Französische Revolution ja eben genau bei selbiger historisch stehenbleiben müssen. Aber hören wir nochmals Thomas v.d.O. im Originalton: Mit einem irakischen Freund pflegte ich früher zu scherzen, dass einzig Monarchien im Nahen Osten (mit Ausnahme des saudischen Königshauses) für ein Minimum an Zivilität und Fortschritt sorgen. Queen Rania beweist einmal mehr, wie wahr dieser vermeintliche Scherz ist. Das progressivste an Jordanien, meinte dieser Freund, sei sein Königshaus. Tja, recht hat er wohl. Long live the Qeen. (Artikel vom 10. Februar 2007; vgl. hier: http://www.wadinet.de/blog/?p=92 )

Heute spricht Thomas v.d.O. eher von Republiken, die in Nordafrika und im Nahen Osten zu gründen seien - und dies ist sicherlich nicht das Übelste an seinem Diskurs -; und schwingt sich dabei gleich noch zum Interpreten dessen auf, was die Menschen vor Ort denn so wollen (und vor allem auch: nicht wollen). Allerdings unterläuft ihm dabei mitunter auch so mancher Ausrutscher. Etwa, wenn ihm ein garantiert nicht revolutionär ausgerichteter Tunesier - welcher im Gegenteil eher das hohe Lied des alten Regimes anstimmt - unter jene Tunesier „rutscht“, denen er das Wort erteilt, um über die Ziele der Revolution (wie sie seiner Interpretation zufolge zu sein haben) zu berichten. Kostprobe: Tahar Ben Guiza, Philosophieprofessor der Universität Tunis, unterstützt die Forderungen der Frauenorganisationen und ist an diesem Punkt sogar dem Ben-Ali-Regime dankbar: << Indem er die Islamisten unterdrückte, half der Präsident, dieses neue Tunesien zu schaffen. >>“ (Anm.: Dies ist genau die Schutzbehauptung, die die Anhänger des Ben Ali-Regimes lange Jahre hindurch vortrugen, um ihr Folterregime zu rechtfertigen.) Und weiter im Text: „Und während noch eine Spontandemonstrationen stattfindet, deren Teilnehmer schmunzelnd erklären, man demonstriere einfach << gegen das Alte und für das Neue >>, f(ä)hrt er fort: << Nun brauchen wir eine neue Verfassung und dann Ruhe, damit zumindest die Touristen wiederkommen. >> Den Amerikanern sei er dankbar, weil sie jetzt nicht mehr auf Seite der Diktatur stünden, sondern der der Bevölkerung. (…) Und abschließend zitiert er lächelnd noch Konrad Adenauer: <<Keine Experimente! Wenn nicht in spätestens sechs Monaten wieder Ruhe herrscht, werden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme unklösbar werden >>.“ Das Ganze, aus der Feder von Thomas v.d.O. und unter der Überschrift „Tunesier kämpfen für eine moderne Republik“ - während jedenfalls der soeben zitierte Tunesier erst einmal gar nichts erkämpft - ist nachzulesen in der Springerzeitung ,Die Welt’, vgl. hier: http://www.welt.de/

So weit ist also alles in bester Ordnung in der Weltsicht des Thomas v.d.O. - Nur, wehe, wenn dann plötzlich massenhaft Leute in Tunesien eben doch nicht so sehr auf den Spruch „Keine Experimente!“ abfahren, sondern vielmehr sehr bewusst auf Veränderung setzen. Etwa, wenn am 25. und 26. Februar weit über 100.000 Menschen in Tunis für den Sturz der Übergangsregierung unter dem bisherigen Premierminister Mohamed Ghannouchi demonstrieren. Das findet Thomas v.d.O. dann aber gar nicht mehr konstruktiv, sondern richtig bitter: Was an deren Stelle (Anm.: jene der Übergangsregierung) treten soll, bleibt dabei völlig unklar. Vermutlich zeichnet sich hier schon eine der großen Gefahren bzw. Herausforderungen ab, vor denen all die Länder stehen werden, deren Regierungen gestürzt wurden: die Jugendlichen machen einfach weiter. Denn sie haben sonst kaum eine Perspektive, stehen vor einem Vakuum. Auch fehlt eine institutionelle Einbidung, einfach die Möglichkeit jetzt irgendwie konstruktiv an dem gewünschten und gemeinsam erkämpften Neuanfang mitzuarbeiten.

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Neostalino-Antiimperialisten oder: Nützliche (?) Idioten für Diktatoren in Libyen, Syrien und im Iran

Intellektuell noch anspruchsloser und auch im Auftreten eher freudlos kommen da die Spinner von der „spiegelverkehrt“ anderen Seite daher: jene „Antiimperialisten“ aus lupenrein stalinistischer oder neostalinistischer Tradition, die jetzt für die Bevölkerungen Tunesiens & Ägyptens ihre prächtigen Ratschläge bereit stehen haben. Besonders jenen, sich nun - nachdem die bösen (= ,pro-westlichen’) Diktaturen gestürzt seien, doch bitte schön schleunigst den netten (= irgendwie ,anti-westlichen’) Diktaturen an den Hals zu werfen. Das sind nämlich die Guten in der Region.

Beispielhaft zitiert sei das der „prima“ Ratschlag eines früheren DDR-Staatsspions, der es fertig bringt, in einem Atemzug eine möglichst radikale Revolution gegen die frühere tunesische Diktatur und einen 200%igen Kniefall vor der (gewiss nicht harmloseren, ganz im Gegenteil…) Diktatur im Iran zu fordern. Ihre jeweilige auβenpolitische Stellung zu Rainer Rupps Hauptfeind, in Washington, scheint dabei den gemeinsamen Nenner bzw. das einzige Kriterium für die Einteilung der Regime in Gut & Böse zu liefern. Doch der politische Unfug sei im Original zitiert: Nur, wenn auch die Reste des alten Regimes, das insbesondere europäischen und US-amerikanischen Kapitalinteressen gedient hat, davongejagt werden, hat die Revolution in Tunesien Aussicht auf Erfolg. (…)Da kommt der Rat des iranischen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani an seine tunesischen Glaubensbrüder genau richtig. Er warnt sie, sich ihre Revolution nicht stehlen zu lassen und vor den Hilfsangeboten »bestimmter Länder auf der Hut zu sein, die bis vor wenigen Tagen noch die alten Strukturen unterstützt haben«. Und die Quelle für diesen zum Himmel stinkenden Dreck findet sich hier: http://www.jungewelt.de/2011/01-19/032.php

Zu den zumindest relativ netten Diktaturen zählt aber auch Libyen, in jenem Land, wo die Revolution gerade Station macht. Über dessen Regime erfahren wir aus derselben, trüben Quelle u.a. folgende Punkte: Libyen ist nicht Ägypten. Sein Führer, Muammar Al-Ghaddafi, war keine Marionette des Imperialismus wie Hosni Mubarak. Über viele Jahre war Ghaddafi Verbündeter von Ländern und Bewegungen, die den Imperialismus bekämpften. “ Und weil es so schön war, gleich noch einmal: Zweifellos finden die Kämpfe für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit, die die arabische Welt erfa(ss)t haben, Anklang in Libyen. Zweifellos ist die Unzufriedenheit mit dem Ghaddafi-Regime die Motivation für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung. Progressive überall sollten jedoch wissen, da(ss) viele, die vom Westen jetzt als Oppositionsführer gefördert werden, langjährige Agenten des Imperialismus sind.“ (Vgl. http://www.jungewelt.de/2011/03-01/048.php?sstr=libyen) Stehen tut das Ganze in dem Berliner Stalinoblättchen ,jungen Welt’. Eine Zeitung, zu welcher das Proletariat wohl nur sagen kann: HAU WEG DEN SCHEISS!

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe

Bernard Schmid, Jurist & Journalist, lebt und arbeitet in Paris. Er beschäftigt sich intensiv mit den nordafrikanischen Staaten. Dazu veröffentlichte er u. a.  beim Unrastverlag: "Algerien - Frontstaat im globalen Krieg?" und "Das koloniale Algerien". Zur Zeit arbeitet er an dem Buch "Frankreich in Afrika".

Zur Lage in den nordafrikanischen Staaten wie z. Beispiel in Algerien und Tunesien veröffentlicht er seit 10 Jahren Artikel bei TREND.