trend spezial:  Die Aufstände in Nordafrika

Der Westen und der Bürgerkrieg in Libyen
Warum Gaddafi weg soll

von der Gruppe "vonmarxlernen"

03/11

trend
onlinezeitung

Die USA und die EU haben eine UN-Sicherheitsratsresolution zur Ächtung des Gaddafi-Regimes erwirkt: Auf allen vormilitärischen Ebenen sollen diesem immer noch nicht vertriebenen „Tyrannen“ und seinem Anhang die Machtmittel aus der Hand geschlagen werden (Konten werden eingefroren, Sanktionen verhängt) – der diplomatische Respekt ist ihm aufgekündigt, eine Anklage vor dem internationalen Gerichtshof wird vorbereitet. Demonstrativ werden militärische Verbände in die Gewässer vor Tripolis verlegt und Einsatzmöglichkeiten erwogen. „Alle Optionen liegen auf dem Tisch“, lässt US-Außenministerin Clinton verlauten und auch die EU-Mächtigen debattieren verschiedene Möglichkeiten von Interventionen. Obama und Rasmussen, der NATO-Sekretär, drohen mit militärischem Eingreifen, falls Gaddafi sich weiter mit Gewalt – womit sonst? – gegen seine Gegner behaupten möchte. Damit hat sich der Westen offen als Partei in einem noch nicht beendeten Machtkampf innerhalb Libyens positioniert und den Sturz Gaddafis bzw. den vollständigen Sieg der Rebellen zu seiner Sache erklärt. Offen sind nur noch, sofern Gaddafi nicht klein beigibt, der Zeitpunkt und die Methode des Zuschlagens sowie das Ausmaß der erreichbaren diplomatischen Rückendeckung durch den Rest der Welt (UNO, Arabische Liga, Afrikanische Union).

Begründungen und Gründe
Die offizielle Begründung für diese eindeutige Parteinahme gegen Gaddafi, in der sich alle wichtigen Staaten des Westens einig geworden sind, lautet: Dieser Mann, der sein eigenes Volk bombardiert, hat damit alle Rechte verloren, sein Land zu regieren. Dass der libysche Staatschef nicht bereit ist, freiwillig die Macht aus den Händen zu geben und sich ins Exil zu verdrücken, stattdessen mit aller in solchen Fällen üblichen Gewalt gegen die Rebellen in seinem Land vorgeht, wird ihm zum finalen Vorwurf gemacht. Die Begründung ist verlogen. Dass es sich nicht gehört, wenn ein Staatschef auf sein „eigenes Volk“ schießen lässt, ist schließlich keine allgemein beherzigte Maxime des Westens – man denke nur einmal an das benachbarte Algerien, wo die per demokratische Wahl an die Macht gekommenen Islamisten gewaltsam niedergemacht wurden, unter lautem Beifall und mit voller Unterstützung der westlichen Regierungen. Würde Gaddafi seine beachtlichen Kampfmittel gegen antiwestliche Volksteile einsetzen, fände man das vielleicht bedauerlich, aber unvermeidlich und hilfreich. Umgekehrt geht ja auch der wenig zimperliche Gewalteinsatz der Rebellen gegen Gaddafianhänger (oder Leute aus anderen Ländern, die man für seine „Söldner“ hält) moralisch voll in Ordnung.

Was an Gaddafis Gewalttaten gegen die ihrerseits keineswegs friedliche Rebellion stört, ist der Selbstbehauptungswille eines Herrschers, der die „Zeichen der Zeit“ nicht erkannt hat, die die westlichen Staaten in die aktuelle Umbruchssituation in Nordafrika hineindeuten und praktisch zu machen versuchen. So wenig sie diese Aufstände vorhergesehen oder gar bestellt haben, sehen sie in ihnen mittlerweile Erfüllungsgehilfen des eigenen Interesses an stabilen Regimen mit prowestlicher Ausrichtung; sie setzen darauf, dass demokratische Reformen in den Machtstrukturen dieser Länder diesen Staatswesen mehr Verlässlichkeit implantieren, die Willkür von Autokraten ausschalten (auch wenn sie selbst einiges dafür tun müssen, dass die Revolten genau das zum Ergebnis haben). Gaddafis wirkliches Verbrechen ist, dass er sich diesem Erneuerungsprozess, den der Westen unter Instrumentalisierung der „Freiheitskämpfer“ intendiert, in den Weg stellt. Statt die Notwendigkeit von Reformen einzusehen und seine eigene Abdankung dafür in Kauf zu nehmen, kündigt er – in den ersten Tagen der Auseinandersetzung scheinbar schwer angeschlagen – einen unerbittlichen Kampf bis zum eigenen Tod an, um dann nach und nach mit immer größerem Erfolg die scheinbar schon sicheren Positionsgewinne der Rebellen wieder zunichte zu machen. Diese Impertinenz des „Diktators“ bestätigt für die Aufsichtsmächte des Westens einmal mehr, was sie immer schon an ihm und seinem Regime gestört hat: Ein nationales Programm, das alles andere als Unterordnung unter westliche Bedürfnisse und Ansprüche im Sinn hat, ein Nationalismus, der dagegenhält. Seitdem der Aufstand läuft, addieren sich alle Vorbehalte, die früher oder auch in den letzten Jahren noch gegen Gaddafis Regime geltend gemacht wurden zu dem eindeutigen Votum gegen ihn und zur Entschlossenheit, es auch nach Kräften wahr zu machen. Insofern wird der Bürgerkrieg in Libyen, der ohne westliches Zutun zustande gekommen ist, als ein „Fenster der Gelegenheit“ betrachtet – und behandelt! –, um einen Regimewechsel herbeizuführen.

Was für die Völker gut oder schlecht ist, ist für die westliche Beurteilung der Lage genau so scheißegal wie die Frage, was die selber eigentlich wollen. Als Großmächte, die ihre wirtschaftlichen, politischen und militärstrategischen Interessen auf jeden Winkel dieser Erde projizieren, nehmen sie es sich einfach heraus, jede Auseinandersetzung zwischen Oben und Unten irgendwo auf der Welt auf sich und ihre Ansprüche zu beziehen und entsprechend Partei zu ergreifen. Weil sie die Macht und deswegen das Recht dazu haben, tun sie das und reklamieren je nachdem, wie es ihnen passt, die Machthaber oder deren Gegner als ihre Partei. Oder verhalten sich auch mal gleichgültig dazu, egal was an Gewaltorgien abgeht.

Warum Gaddafi die Feindschaft des Westens nie wirklich los wurde

Gaddafi hat seinem Staatswesen vor einiger Zeit einen ziemlichen politischen Schwenk verordnet. Er hat sich von Verfehlungen früherer Jahre (insbesondere dem Lockerbie-Attentat) distanziert, seiner langjährigen Ächtung als „Terrorist“ und der westlichen Blockadepolitik entgegengearbeitet hat und ist in der Folge Interessen und Forderungen der westlichen Staaten in wichtigen Punkten entgegengekommen. Seit Gaddafi seine früheren antiimperialistischen Ambitionen (Unterstützung antiwestlicher Bewegungen in Afrika, Kampf für eine antiwestliche und antiisraelische panarabische Union, direkte einzelne Terrorattacken in Europa) unter dem Druck westlicher Sanktionen und auch angedrohter oder real gemachter Militärschläge demonstrativ zurückgeschraubt und auch sein Bemühen um eine atomare Bewaffnung seiner Streitkräfte aufgegeben hat, ist er von der schwarzen Liste der „Terrorstaaten“ gestrichen worden. Der diplomatische Kontakt seitens USA und EU wurde ein Stück weit „normalisiert“; es fanden Staatsbesuche statt, bei denen der Oberst mit allen – für den Geschmack der Medien eher mit zu viel – diplomatischen Ehren empfangen worden ist (Paris z. B. schämt sich jetzt nicht nur für seine Kontakte zum tunesischen Herrscher, sondern ganz besonders auch für den pompösen Auftritt Gaddafis mit seiner Entourage an der Seine). Öllieferungen aus Libyen (die ja auch in Zeiten der Ächtung nicht aufgehört haben) wurden natürlich genauso mitgenommen wie die Repatriierung der Petrodollars (libysche Beteiligungen am Kapital europäischer Konzerne und Banken) oder die wachsenden Geschäftsgelegenheiten auf libyschem Hoheitsgebiet (Autobahnbau, Plan eines Atomkraftwerkbaus etc.). Und es gab nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gaddafi hat auch auf anderen Feldern Punkte gemacht, etwa in der Kooperation seiner Geheimdienste mit der CIA in Sachen Terrorbekämpfung (Al-Kaida in Nordafrika) oder in der Kooperation mit der EU bei der gewaltsamen Fernhaltung afrikanischer Elendsflüchtlinge durch Abriegelung der Fluchtwege übers Mittelmeer. Und die EU berichtet auf ihren Online-Seiten über einige Erfolge beim Versuch, Gaddafi durch Kooperationsabkommen bilateraler Art, in denen sie ihr „Know How“ in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Privatisierung der Wirtschaft oder auch Aids-Bekämpfung gegen Willfährigkeit zu tauschen bemüht war, auf sich und ihre Interessen auszurichten.

Trotzdem genügt all das den westlichen Ansprüchen offensichtlich nicht. All diese für den Westen durchaus nützlichen Funktionen seines Staates haben Gaddafi nämlich nie den Verdacht erspart, auch nach seiner `Bekehrung´ kein wirklich berechenbarer Partner des Westens zu sein und sein zu wollen. Das liegt nicht nur daran, dass imperialistische Staaten ein gutes Gedächtnis haben und sehr nachtragend sein können. Es liegt am Anspruchsniveau imperialistischer Mächte, an ihrem umfassenden Aufsichts- und Kontrollinteresse gerade gegenüber Staatswesen, die auf „ihren“, d. h. auf von ihnen beanspruchten, Rohstoffquellen sitzen. Und es liegt auf der anderen Seite daran, dass der libysche Führer seine nationalen Ziele nicht auf das Maß herunterschrauben wollte, das die Westmächte für ein Land wie das seine als passend ansehen – trotz aller Zugeständnisse, zu denen er sich unter Druck durchgerungen hat. Die Widerspenstigkeit seiner Art der Machtausübung zeigte sich an verschiedenen Indizien: Gaddafi lehnte die Mittelmeerunion, mit der die EU die nordafrikanischen Staaten wirtschaftlich wie politisch in ihren funktionalen Hinterhof verwandeln möchte, als unrechtes Dominanzstreben ab. Den Preis für die Hilfestellung in der Flüchtlingsbekämpfung wollte er hochtreiben und drohte mit Folgen, falls nicht gezahlt würde. Auch die demonstrativen diplomatischen Auftritte vor der UNO, das Sympathisieren mit `Outlaws´ der westlichen Weltpolitik wie Chávez, gaben und geben zu denken. Und selbst Kleinigkeiten wie das Beharren auf bestimmten Ritualen (Aufstellen des Beduinenzelts in Europas Metropolen statt Benutzen der Hotelsuite) – von der Presse zum Teil als folkloristischer Schnickschnack und bloße Eitelkeit des Wüstenherrschers eingestuft – belegen für die Westpolitiker einen eigentlich nicht hinnehmbaren Willen zur Eigenmächtigkeit, den sich der gute Mann nicht abschminken mag. Den Verdacht, alle Zugeständnisse an den Westen nur unter Druck und aus Berechnung, nie aus Überzeugung gemacht zu haben, wird er nicht los.

Gaddafi muss weg – fragt sich nur, wie

Der Westen hat immer alles Mögliche getan, um Gaddafis Unhandlichkeit (und bleibende politische Gefährlichkeit) einzuhegen und ihn zu domestizieren. Jetzt ist der gar nicht bestellte Aufruhr im libyschen Volk die willkommene Gelegenheit, das Problem an der Wurzel zu packen und ein für alle Mal los zu werden. Die Rebellen gegen Gaddafis Herrschaft werden, ohne dass man sie dafür zu befragen hätte, als Exekutoren des westlichen Umsturzwillens verbucht. Man erwartet von ihnen, dass sie – auch ohne Auftrag des Westens – die vorgesehene Rolle spielen, den „Diktator“ niederkämpfen und dann eine neue Staatsgewalt errichten, die zu nichts anderem da ist als dazu, die westlichen Interessen und Ansprüche besser zu bedienen. Dass sie dafür Sechzehnjährige, die von nix eine Ahnung haben und begeistert ihr Leben im Kampf riskieren wollen, in einen blutigen Krieg schicken, wird in diesem Fall nicht als Skandal genommen, sondern als Beleg für die Bösartigkeit des Tyrannen, gegen den einfach jeder antreten muss.
In dem Maße, wie die Aufständischen schon den ersten Teil der für sie vorgesehenen Mission nicht so recht hinkriegen und Gaddafis Kräfte sogar Terrain zurückgewinnen, wird der Westen unruhig und sieht sich selbst als Macht herausgefordert, um die Lage im eigenen Sinne zu entscheiden. Natürlich ist Krieg das letztlich entscheidende Mittel, um den Frieden herzustellen, den man möchte. Lieber wäre es dem Westen zwar schon, wenn die Rebellion auch ohne Militäreinsatz der USA bzw. der NATO, nur unterstützt durch die vom Sicherheitsrat verhängten Sanktionen und andere vormilitärische Angriffe auf Gaddafis Macht, vielleicht ergänzt um Waffenlieferungen, zum Erfolg käme. Aber Weltaufsichtsmächte lassen sich durch Risiken und Kosten aller Art, die so ein Einsatz mit sich bringt, nicht wirklich abschrecken – die derzeitigen Debatten in den USA und Europa zeigen, wie frei damit kalkuliert wird.

Wann ein eigenes kriegerisches Zuschlagen für passend erachtet und dann alle Bedenken, die derzeit noch in aller Öffentlichkeit hin und her gewälzt werden, beiseitegeschoben werden, das machen die Aufsichtsnationen unter sich aus. Die passende moralische Begleitmusik, dass es sich dabei um die aus humanitären Gesichtspunkten notwendige „Rettung des libyschen Volks“ vor seinem irren Schlächter handelt, wird jedenfalls schon auf allen Kanälen intoniert.

Editorische Hinweise

Der Text wurde erstveröffentlicht auf der Website www.vonmarxlernen.de
Wir wurden um Spiegelung gebeten.