Neue Perspektiven
Wie kann Tarifpolitik unter Krisenbedingungen aussehen? Ein Plädoyer für ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept

Von Richard Detje und Otto König

03/12

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Die Eckpunkte für die Verteilungsauseinandersetzungen in diesem Frühjahr stehen. Im Öffentlichen Dienst, in der Metall- und Elektroindustrie und in der Chemie­branche fordern die Gewerkschaften Einkommenserhöhungen zwischen sechs und 6,5 Prozent. Kräftige Unternehmensgewinne und steigende Steuereinnahmen signalisieren größer gewordene Verteilungsspielräume. Diese gilt es auch für die Stabilisierung der Konjunktur im Binnenmarkt zu nutzen. Hervorzuheben ist nicht zuletzt: Mit der Begrenzung der Leiharbeit und der unbefristeten Übernahme der Auszubildenden will die IG Metall der fortschreitenden Prekarisierung der Arbeit einen Riegel vorschieben.

Verlustreicher Rückblick

Nachdem die Krisenjahre 2009/2010 ganz im Zeichen von Arbeitsplatzsicherung und teilweise erheblichen Einkommenseinbußen standen, sollte es bereits im vergangenen Jahr auch für die Beschäftigten wieder aufwärts gehen. Zwischen fünf und sieben Prozent betrugen die gewerkschaftlichen Forderungen. Die Ergebnisse waren bescheiden. Nicht mehr als zwei Prozent machten die 2011 wirksamen Tariferhöhungen aus. Das Ziel, den sogenannten verteilungsneutralen Spielraum aus 2,3 Prozent Preis- und 1,3 Prozent Produktivitätssteigerung auszuschöpfen, wurde deutlich verfehlt – wie alle Jahre zuvor seit 1996.

Daß es in den Portemonnaies schließlich doch besser aussah, war längeren Arbeitszeiten und außertariflichen Bonuszahlungen zu verdanken. So stiegen die Bruttolöhne schließlich doch noch um 3,4 Prozent.

Tarifpolitik in der Krise

Was die Verteilungsauseinandersetzungen in ihrer herkömmlichen Anlage komplizierter macht, ist ein grundlegend veränderter ökonomischer Rhythmus. Kurze Krisen werden nicht mehr von kräftigen Aufschwungphasen abgelöst. Wachstum in Exportbranchen schiebt nicht mehr den gesamten nationalen Reproduktionsprozeß an.

Rahmenbedingung der Tarifpolitik der letzten Jahre ist eine nicht endende Krisenkonstellation. Bei genauerer Betrachtung gilt das sogar für das gesamte Jahrzehnt. Nach dem Platzen der New Economy-Spekulation 2000/2001 stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung bis 2004. Die danach einsetzende Expansion brach Ende 2008 abrupt wieder ab. Seitdem erleben wir eine Entwicklung, die sich über verschiedene Kaskaden erstreckt: Immobilienkrise, Finanzkrise, Krise der Realwirtschaft, Schuldenkrise. Jede dieser Krisenetappen beinhaltet Umverteilungsprozesse, die durch anti-sozialstaatliche Austeritätspolitik und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse tief in die Lebensverhältnisse einschneiden.

Verständigungsbedarf

Die erste Schlußfolgerung, die wir daraus ziehen: Notwendig ist ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept, das neben der Primärverteilung – also der gleichsam klassischen Tarifpolitik zwischen Lohnarbeit und Kapital (bzw. öffentlichen Arbeitgebern) – auch die Sekundärverteilung durch Steuern, Sozial- und Infrastrukturpolitik, Arbeitsmarktpolitik etc. zum Gegenstand der Verteilungsauseinandersetzungen macht. Trotz praktischer Fortschritte in der Auseinandersetzung um einen gesetzlichen Mindestlohn ist es bis heute nicht gelungen, einen überzeugenden Gesamtrahmen für eine übergreifende Politik unter dem Label »Gutes Leben« auszuarbeiten, der nicht nur normative Ansprüche formuliert, sondern diese zu Forderungen verdichtet und Kurs auf ihre tarif- und sozialpolitische Durchsetzung nimmt.

Die zweite Schlußfolgerung ist, daß eine Debatte über Tarifpolitik unter Krisen- oder Stagnationsbedingungen überfällig ist. Ganz und gar nicht im Sinne einer Anpassung durch Verzicht. Die klassische Entgeltpolitik auf der Basis eines verteilungsneutralen Spielraums führt nicht mehr weiter. Auch im Detail nicht mehr.

Denn was bedeutet es für die Tarifforderung, wenn die Preisentwicklung ganz widersprüchliche Signale sendet: Einerseits fallend in einem krisenbedingt tendenziell deflationären Umfeld, andererseits steigend aufgrund realer oder spekulativer Knappheiten wie beim Ölpreis und auf Rohstoffmärkten? Da letzteres die Kostensituation der Unternehmen verschlechtert, ist absehbar, daß allein schon die Reallohnsicherung hart umkämpft ist – im Unternehmer-Verständnis einer »produktivitätsorientierten« Tarifpolitik taucht die Preiskomponente schon nicht mehr auf.

Und was die Produktivitätsentwicklung anbelangt: Dabei geht es letztlich um die Wirksamkeit der lebendigen Arbeit. Diese steigt beständig, was durch die krisenhafte Form der kapitalistischen Organisation der gesellschaftlichen Produktion jedoch immer wieder aufgezehrt wird. Im Kontext einer anderen Rationalität wäre steigende Produktivität also durchaus mit niedrigen Wachstumsraten koppelbar und durch entsprechende Arbeitszeitverkürzung ohne gravierende arbeitsmarktpolitische Folgen organisierbar.

Drittens ist eine Neuverständigung auch über die gesamtwirtschaftliche Anlage der Tarifpolitik erforderlich. Laut Sachverständigenrat liegt der verteilungsneutrale Spielraum für 2012 bei 2,9 Prozent – wenig Stoff für eine offensive Mobilisierung. Deshalb legt die IG Metall ihrer Forderung auch den im letzten Jahr nicht realisierten Verteilungsspielraum zugrunde sowie eine Umverteilung von den Gewinn- zu den Lohneinkommen. Falsch ist das nicht. Aber perspektivreich auch nicht, wenn möglicherweise demnächst die Arbeitgeber eine tarifpolitische Rückholaktion fordern, weil Umsätze und Gewinne niedriger ausgefallen sind, als es wirtschaftspolitisch erwartet worden war.

Eine Chance

Dabei böte die laufende Tarifrunde Gelegenheit, die Fundamente einer solidarischen Lohnpolitik zu erneuern. Daraus, daß drei große Gewerkschaften zeitlich parallel mit annähernd gleichen Forderungen im Tarifkampf sind, ließe sich politisches Kapital schlagen: Durch koordinierte Mobilisierungs- und Durchsetzungsstrategien. In einem großen Geleitzug. Es ist noch nicht zu spät, das zu verabreden.
 

Editorische Hinweise

Richard Detje ist Redakteur der Zeitschrift Sozialismus. Otto König war lange Jahre 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall.

Der Artikel wurde gespiegelt von der Website der Jungen Welt, wo er am 21.2.2012 erschien.



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