„Marx21“, ein Netzwerk innerhalb der PDL, das Nachfolgerin
der SAG und dann der JUSO-Gruppe „Linkswende“ ist und das zur
heterodox trotzkistischen
„International Socialism Tendency“ um die britische
„Socialist Workers Party“ gehört,
fasst ihre Position zu den aktuellen
Revolten in der arabischen Welt wie folgt zusammen, eine
Position wohlbemerkt, die im Kern
auch von konkurrierenden Kräften links von den
Stalinisten geteilt wird (s. “Liga für die 5.
Internationale“): „Die
Massenbewegung, die vergangenes Jahr in Tunesien und vor allem
in Ägypten pro-westliche Diktatoren stürzte, hat das Potential
zu einer tatsächlich demokratischen
Umgestaltung der gesamten Region.“
Richtig daran ist, dass die notwendige demokratische oder gar
– was letztlich wohl kaum
wirklich voneinander zu trennen ist – sozialistische
Umgestaltung der arabischen Welt ohne militante
Bewegungen der Volksmassen
unmöglich ist. Das aber bedeutet nicht, dass sich nicht die
Frage stellt, wie wahrscheinlich es denn ist, dass das
erwähnte Potential im Interesse einer
demokratischen Umgestaltung wirksam wird.
Insbesondere eingedenk der schon empirisch zu ermittelnden
Tatsache, dass Revolutionen – speziell
solche im marxistischen Sinn, d.h.
Umwälzungen der Herrschaftsstruktur einer Gesellschaft und
ihrer Produktionsweise – überaus selten vorkommen, jedenfalls
unvergleichlich seltener als alle Arten
von Revolten, sollten Marxisten unabhängig von
ihren berechtigten Wünschen, der Tatsache in die Augen
sehen, dass auch in der heutigen arabischen Welt mehr darauf
hindeutet, dass die Volksmassen durch
ihre Aktivitäten unabhängig von ihren latenten Wünschen
bestenfalls neue über sie herrschende Schichten an die
Regierung bringen werden als dass sie im o.a. Sinn eine
Revolution auf eigene Rechnung
zustande bekommen. Das sollte insbesondere Marxisten
naheliegend erscheinen, die sich an das bewährte Diktum Lenins
erinnern, dass es keine revolutionäre
Praxis geben kann ohne revolutionäre Theorie.
Was bedeutet das für die praktische Politik proletarischer
Revolutionäre innerhalb und
außerhalb der arabischen Welt? Es ist ganz sicher nicht
die Aufgabe von Marxisten, die Massen dabei
unterstützen, von der Pfanne ins Feuer zu springen. Es ist
nicht ihre Aufgabe, hinter diffusen
Volksbewegungen hinterherzulaufen, sondern es ist ihre
Aufgabe, dazu beizutragen, innerhalb
dieser Volksbewegungen die Rolle der Arbeiterklasse zu
stärken, indem sie dieser ein Verständnis ihrer
klassenspezifischen Interessen und Wege ihrer
Durchsetzung vermitteln. Das kann selbstredend nicht durch
gutes Zureden von außen geschehen. Ihre
Beteiligung an einer auch die Arbeiterklasse einbeziehenden
Volksbewegung gegen bürgerliche oder gar vorbürgerlich
geprägte Diktaturen wie sie in
der Region allenthalben herrschen, ist dafür
Voraussetzung. Was aber ist, wenn die Arbeiterklasse
innerhalb einer solchen Volksbewegung als eigenständige Kraft
nur in unbedeutendem Maße (wie offenbar
in Syrien) oder überhaupt nicht (wie in Libyen) auftritt, wenn
vielmehr proimperialistische und/oder sozialreaktionäre Kräfte
die Volksbewegung majorisieren?
Praktisch gesprochen: welche Politik müsste
eine linke Kraft durchführen, wenn es offensichtlich
geworden ist, dass es in
überschaubarem Zeitraum nur die Alternative gibt zwischen
einer bürgerlichen Diktatur, die
weitgehende Religionsfreiheit und damit z.B.
auch den Frauen das Recht, unverschleiert über die
Straße zu gehen, oder die den
Konsum oder auch Nicht-Konsum von Alkohol ermöglicht,
wenngleich sie jede ernsthafte Kritik
am herrschenden Regime gegebenenfalls blutig
unterdrückt (hier z.B. Syrien), und einer Diktatur, die
ebenso jede Kritik an ihr und
ebenso jeden Versuch zur Beendigung ökonomischer
Ausbeutung unterbindet und außerdem auch noch alles
„Gotteslästerliche“ und folglich jeden
Schritt zur Gleichheit der verschiedenen Konfessionen
und insbesondere auch der
Geschlechter, ein „Problem“, das immerhin die
Hälfte der Bevölkerung (die weibliche) unmittelbar und
die gesamte
Bevölkerung zumindest mittelbar betrifft
(z.B. die wichtigsten arabischen Unterstützer der
syrischen Revolte: Saudi Arabien und Qatar). Verbessern
sich für die fortschrittlichen Kräfte die
Kampfbedingungen, wenn eine korrupte laizistische bürgerliche
Herrschaft durch eine erfahrungsgemäß
in Bälde nicht minder korrupte und nicht minder blutige
Diktatur der schwarzen Reaktion – d.h.
politisch-religiöser Kräfte , gleich ob christlicher,
buddhistischer oder islamischer Provinienz - oder auch nur
offen proimperialistischer Kräfte ersetzt wird?
Ein historisches Beispiel ist die iranische Revolution von
1979. Der Iran war sozial und kulturell das
fortgeschrittendste Land der Region.
Die linken Kräfte im Iran, deren Spektrum von Volkstümlern
über Stalinisten verschiedenster
Prägung bis hin zu Trotzkisten reichte,
mussten und haben den Aufstand gegen die proimperialistische
Schahdiktatur vorbereitet und
aktiv unterstützt. Das Schahregime hatte
in Gestalt der „Weißen Revolution“ schon in den 50er
Jahren im Iran praktisch die
bürgerliche Revolution gegen die Reste des „Feudalismus“
realisiert. Die Linkskräfte
fanden hier eine Arbeiterklasse
(insbesondere im Erdölsektor) vor, die kämpferische
Traditionen aufzuweisen hatte und
in der sie (wenngleich großenteils in Gestalt der
rechtsstalinistischen Tudeh-Partei) präsent waren. Die
Frage, ob die Aneignung der
Antischahrevolution durch den schiitischen Klerus in
erster Linie das Ergebnis von teils
rechtsopportunistischen und teils
linkssektiererischen Fehlern der iranischen Linken war
oder doch letztlich dem durch die
Sozialstruktur objektiv gegebenen Kräfteverhältnis
geschuldet war, kann und braucht hier nicht beantwortet
zu werden. Ausschlaggebend ist,
dass es ausreichende Gründe dafür gab,
das schließliche Ergebnis der Revolte nach Sturz des
Schahregimes nicht als weitgehend vorgegeben anzunehmen. Das
andere Beispiel ist Afghanistan.
Hier gab es keine andere Alternative zur Diktatur der PDPA
unter Hafizullah Amin als die reaktionären Kräfte der
Mojahedin und später der Taleban.
Es kann nicht die Aufgabe von Marxisten gewesen
sein, sich in dieser Situation für den Sturz des
PDPA-Regimes eingesetzt zu haben,
indem sie in irgendeiner Form die reaktionären Feinde der PDPA
unterstützten.
In Europa war für die Durchsetzung bürgerlich-demokratischer
Verhältnisse die Entwicklung des Kapitalismus und die
Anhäufung von kolonialen Extraprofiten
durch imperialistische Expansion, mit der auch die
Arbeiterklasse pazifiziert werden konnte, Voraussetzung. Gibt
es irgendeinen Hinweis darauf, dass
eines der Regime, die man sich realistischerweise
als Nachfolgeregime zum Qadhafi- Regime in Libyen
oder zum Assad-Regime in Syrien
vorstellen kann, weiter in diese
Richtung vordringen könnte als die Regime Qadhafis oder
Assads? Was für Lehren können wir
aus dem Sturz Saddam Husseins ziehen? Der Irak war
immerhin ein Land, in dem es einmal eine starke –
wenngleich stalinistische – KP (wie auch in Syrien) und starke
linksnationalistische Kräfte in Kurdistan gab. Wenn das
denn noch notwendig gewesen wäre, hätte die imperialistische
Besatzungsmacht alles dafür
getan, dass diese Kräfte keinen Nutzen aus dem Sturz Saddams
ziehen. Da die von ihr direkt abhängigen aus dem Exil
mitgebrachten laizistischen
Kräfte im Land keine wirkliche Basis hatten, musste die
Besatzungsmacht sich auf solche Kräfte stützen, die –
entgegen dem Willen der Imperialisten -
den Irak zu einem Verbündeten des iranischen Regimes
gemacht haben. Wie auch immer: selbst im Irak hat sich der
Sturz des blutigen Saddam-Regimes für
die Arbeiterklasse und die Linkskräfte
nicht oder nur in unbedeutendem Maße ausgezahlt, zumindest
wenn man das vorläufige
Sprechendürfen nicht mit Waszusagenhaben verwechselt.
Nun ist die Lage in Syrien nicht so, dass dort nach dem
Sturz des Assad-Regimes
afghanische oder auch nur iranische Zustände denkbar
wären. Die Frage, wie weit fundamentalistisch-religiöse
Kräfte ihr eigentliches Programm
durchsetzen können, das stets antidemokratisch
ist, hängt vom gesamtgesellschaftichen Kräfteverhältnis
ab. In Syrien gibt es seit langem
starke laizistische Kräfte (das bedeutet im Allgemeinen
in der Region keineswegs atheistische Kräfte!), im
Regierungslager ebenso wie in der Opposition. Auch
verfügt der sunnitische Islam
nicht über eine klerikale Struktur wie der schiitische
Islam im Iran. Andererseits jedoch arbeiten die
externen Unterstützer der
unterschiedlichen Kräfte der syrischen Opposition, die alleine
über die notwendigen materiellen und
ideologischen Ressourcen verfügen, um
Aussicht auf Erfolg zu haben, daran, das proimperialistische
und/oder islamistische Lager
nicht nur gegenüber dem Regime, sondern vor allem
auch gegenüber den potentiell fortschrittlichen Kräften
der Opposition zu stärken oder
gegebenenfalls das Land in einen ausweglosen Bürgerkrieg
zu stürzen, der nicht nur kurz- sondern auch
mittelfristig die Gesellschaft
derart zu traumatisieren droht, dass kein
gesellschaftlicher Fortschritt denkbar wäre.
Unter diesen Umständen kann es m.E. nur die Aufgabe von
Marxisten sein, beide Lager zu
kritisieren, insbesondere in Hinblick auf ihre negative
Politik gegenüber einer politischen Emanzipation der
Arbeiterklasse. Sowohl im
Interesse der Volksmassen ganz allgemein und der
Arbeiterklasse im Besonderen aber auch wegen der
vorrangigen Bedeutung der Schwächung des Imperialismus für die
Möglichkeit proletarischer Emanzipation
überall auf der Welt, ist es aber ihre erste Aufgabe, sich
jeder imperialistischen Intervention entgegenzustellen,
selbst wenn diese von revoltierenden Massen gewünscht werden
sollte. Es ist nicht die Aufgabe von
Marxisten, die Massen und insbesondere eine ihrer spezifischen
Interessen noch unbewusste Arbeiterklasse beim Schaufeln
ihrer eigenen Gräber solidarisch
unterstützen. Stattdessen ist es ihre
Aufgabe, den Betroffenen in aller Offenheit zu
erklären, weshalb sie sich genau daran nicht beteiligen.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel für diese
Ausgabe.