„Die Erfahrung der Ohnmacht“
Anmerkungen zu H. G. Adlers gleichnamigen Buch

von
Richard Albrecht

03/12

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onlinezeitung

I.

Es ist nicht nur peinlich, sondern auch bescheuert[1], wie die deutschsprachige Netzenzyklopädie den Autor des hier, nahezu fünfzig Jahre nach Ersterscheinen, vorzustellenden Buchs[2] einleitend präsentiert - grad so als wüßten diese Leute nicht, was ein Pseudonym ist:

Hans Günther Adler (* 2. Juli 1910 in Prag; † 21. August 1988 in London; Pseudonym H. G. Adler) war ein tschechoslowakisch-englischer Schriftsteller, der in deutscher Sprache schrieb. Bekannt wurden vor allem seine Studien über die Juden im KZ Theresienstadt, die bis heute als Standardwerk gelten.“[3]

Wer Genaures über Leben & Werk dieses Privatgelehrten und Autors wissen will möge im Text+Kritik-Band[4] oder in der inzwischen in Buchform veröffentlichten Adler-empathischen Wiener Dissertation nachschaun[5] – oder, besser noch, Adlers wichtigste Forschungsarbeit[6] lesen über die Stufenfolge im Prozeß von Ausgrenzung und Verfolgung, der schließlich zum (inzwischen meist „Holocaust“ genannten) Völkermord europäischer Juden im Herrschaftsbereich des faschistischen Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs ab Herbst 1941 führte.

Warum Adlers Buch zur Erfahrung der Ohnmacht (1964) den Untertitel Beiträge zur Soziologie unserer Zeit erhielt weiß ich nicht. Das ändert aber nichts daran, daß ich auch heute noch, etwa vierzig Jahre nach damaliger Erstlektüre, beide sich mit Verfolgung von Menschen durch Menschen beschäftigenden Aufsätze in diesem Sammelband für so wichtig halte, daß ich Zur Morpholoie der Verfolgung (176-192) und Die Erfahrung der Ohnmacht. Beitrag zu einer Soziologie der Verfolgung (193-209) hier diskutiere (andere Beiträge, etwa zur deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg: 89 ff. oder zur „Soziologie des Konzentrationslagers“: 210 ff. bleiben hier unrezensiert).

II.

Was Adler Morphologie (Umriß, Gestalt, Form) der Verfolgung nennt wird anthropologisch (voraus)gesetzt. Verfolgt werden „Andersartige“ und Nonkonforme. Mehrheitszugehörigkeit schafft Gemeinschaftsgefühl, „auch mitunter brüchige “ Gemeinschaftsgeborgenheit. Psychologische Ursachen findet Verfolgung in Unsicherheit/en der eigenen Position, durchaus mit Umkehrungsmöglichkeit bei konträren Machtverhältnissen mit Gegenschlägen der Ex-Verfolgten, die nun selbst zu Verfolgern werden (können). Auch Verfolgung „aus Gründen der Rasse“ wird als sozialpsychologische Sündenblockthese anthropologisiert aus der „menschlichen Natur“ als „Schuldzuweisung an bestimmte Menschen oder Gruppen für das eigene wirkliche oder vermeintliche Unglück“ infolge „Abneigung gegen andersartige, mit dem eigenen Wesen nicht konforme Mitmenschen.“

In jedem Fall ist Verfolgung mehr als nur Unterdrückung, weil als Besonderheit „stets auf Ausschaltung, Vertreibung oder Vernichtung der Verfolgten gerichtet“, mehr als bloßer „Ausschluß von Menschen aus einer Gemeinschaft“ und weniger als Terror als „permanentes Grauen“.

Hier, im Konkreten, nähert sich Adler Hannah Arendts Analyse des totalitär-faschistischen Nationalsozialismus[7] mit seiner Denkfigur des „objektiven Gegners“[8]:

Die Gesellschaft muß so aufgespalten werden, daß sie verschiedenen Unterdrückungsgraden unterworfen wird, und jederzeit nicht nur jene Individuen, die als wirkliche oder potentielle Feinde der Herrschaft auftreten, sondern auch ganze Gruppen verfolgt werden können.“

III.

Auch in seiner Erfahrung der Ohmacht geht Adler von „Gleichheit und Ungleichheit“ von Menschen aus, konkretisiert aber mit Blick auf politische Unterdrückungs-, Herrschafts- und Terrorsysteme“ des „kurzen“ vergangenen Jahrhunderts: Verfolgung leugnet nicht nur „die natürliche Gleichheit“, sondern bestimmt und verkündet, als Besonderheit, „die Ungleichheit“. Nur wenn es anerkannte (Bürger-) Rechte gibt, „auf die sich der Unterdrückte mit Erfolg berufen kann, um seine Gleichheit vor bestimmten Werten durchzusetzen“, kann Verfolgung begrenzt oder zeitweilig aufgehoben werden.

Dem „soziologischen Doppelaspekt“[9] nähert sich Adler im Hinweis auf Verfolgung als Verfolgte und Verfolgter einvernehmendes gesellschaftliches Verhältnis, bei dem auch verfolgende Täter in Unsicherheit und Angst vorm verfolgten Opfer leben, sich ständig bedroht fühlen im Wissen, daß andere politische Macht- und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse aus bisherigen Verfolgern neue Verfolgte machen (können). Existenzialphilosophisch-abstrakt ist Adlers Ausblick: Verfolgte erführen ihre Ohnmacht als Schicksal, dem sie sich nicht entziehen könnten.

IV.

Auch wenn Adler nicht so weit geht wie ein zeitweilig bekannter deutscher Autor, der meinte: „Unbezähmbar ist der Drang, bei den Stärkeren zu sein“[10] – seine Überlegungen zur Ohnmachtserfahrung sind immer dann problematisch und kritikabel, wenn sie abstrakt-allgemein bleiben und weder konkret-historische Umstände noch gesellschaftlich-politische Verhältnisse einbeziehen. Wenn zutrifft, daß erstens „menschliche Handlungen“ in den „Lebensbedingungen ´begründet´“ sind[11], daß zweitens in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren ungleichen und konkurrenzbestimmten Lebensbedingungen selbstbewußt-interessengeleitetes Handeln grundsätzlich erschwert und tendenziell verunmöglicht wird[12], daß drittens entsprechend des Zwangscharakters auch (in) dieser Gesellschaft Konformität(snormen) von sozialen Gruppen und einzelnen erzwungen werden können und das Individuum sich daran halten muß, wenn es „handlungsfähig sein will“[13] und daß es viertens auch gesellschaftliche Lagen und soziale Situationen gibt, in denen die gedankliche Vorwegnahme („Antizipation“) künftiger Entwicklungen und (etwa widerständiger) Handlungen negativ handlungsbestimmend und speziell als Handlungsblockaden wirken, weil gegebene „stabile Strukturen Handlungsalternativen nicht zulassen“[14] – dann sind einige weitergehende, auch mit Angst[15] im allgemeinen und mit Identitätsverlust[15] im besonderen zusammenhängende sozialpsychologische Facetten, Gesichtspunkte und Felder angesprochen, die jede soziale Bewegung angehen.

Fußnoten
 

[1] Rainer Paris, Bescheuertheit [2008]: http://www.eurozine.com/articles/2008-01-07-paris-de.html

[2] H. G. Adler, Die Erfahrung der Ohnmacht. Beiträge zur Soziologie unserer Zeit. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, 1964, 275 p. (= ´res novae´ 29); alle folgenden Adler-Zitate hiernach

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_G%C3%BCnther_Adler

[4] H. G. Adler. München: Richard Boorberg, 2004, 105 p. ( = Text + Kritik 163)

[5] Franz Hocheneder, H. G. Adler - Werk und Nachlaß. Eine bio-bibliographische Studie. Phil.Diss. Universität Wien 1997, zwei Bände; ders., H.G. Adler (1910-1988). Privatgelehrter und freier Schriftsteller. Wien etc.: Böhlau, 2009, 402 p.

[6] H. G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. Tübingen: Mohr, 1974, XXXII/1076 p.

[7] Hannah Arendt, The Origins of Totalitarism [1951]; deutsch(sprachig)e Ausgabe [1955]: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus; II. Imperialismus; III. Totale Herrschaft. München: S. Piper (= Serie Piper 645; Neuauflage) 1986, 578 p., hier 654 ff.

[8] Richard Albrecht, Die politische Ideologie des objektiven Gegners und die ideologische Politik des Völkermords: Prolegomena zu einer politischen Soziologie des Genozid nach Hannah Arendt; in: Sociologia Internationalis, 27 (1989) I: 57-88; ders., Vom „Volksfeind“ zum „objektiven Gegner“. Die Karriere eines ideologisch-politischen Konzepts, in: Geschichte – Erziehung – Politik, 1/1995: 1-7

[9] Theodor Geiger, Der soziologische Doppelaspekt; in: ders., Arbeiten zur Soziologie. Hg. Paul Trappe. Neuwied/Berlin-Spandau: Luchterhand (= ST 7), 1962: 147-150

[10] Stephan Hermlin, Abendlicht. Berlin: Wagenbach, ²1980: 49

[11] Klaus Holzkamp, Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main: Campus, ²1985 (= Studienausgabe): 348; grundlegend auch http://www.kritische-psychologie.de/texte/kh1983a.html

[12] Ingeborg Rubbert, Ungleiche Lebensbedingungen und die Entwicklung von Identität; in: Rainer Geißler (Hg.), Soziale Schichten und Lebenschancen in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Enke, 1987: 111-137

[13] Wolfgang Buchholz, Lebensweltanalyse. Sozialpsychologische Beiträge. München: Profil, 1984: 143

[14] Rose Groetschel, Zu den Grenzen klientenzentrierten Handelns in der Prävention; in: Psychologie und Gesellschaftskritik, 54/55.1990: 49-73; http://www.ssoar.info/de

[15] Holzkamp, Grundlegung [wie 11]: 239 ff., zum Zusammenhang von Angst als Gefühl von Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Bedrohungssituation und erfahrener Handlungsunfähigkeit

[16] Harald Werner, Identität, Bewußtsein, politische Kultur. Einführung in die Sozialpsychologie revolutionärer Politik. Marburg: Arbeiterbewegung & Gesellschaftswissenschaft, 1989: 156 ff., zum Gefühl der Vergeblichkeit des eigenen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handelns

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor

Richard Albrecht ist unabhängiger Sozialforscher & freier Autor in Bad Münstereifel. Er publizierte in den letzten Jahren vor allem in wissenschaftlichen Zeitschriften wie soziologie heute (sh), Zeitschrift für Politik (ZfP), Zeitschrift für Weltgeschichte (ZWG), FORUM WISSENSCHAFT (FW) und Aufklärung und Kritik (A&K). - Letzterschienene Bücher: SUCH LINGE (2008, wiss.); HELDENTOD (2011, lit.); FLASCHEN POST (Editor, 2011, publ.). Netzarchiv -> http://eingreifendes-denken.net  Kontakt  -> eingreifendes.denken@gmx.net

Adler, H. G.
Die Erfahrung der Ohnmacht
Beiträge zur Soziologie unserer Zeit
Europäische Verlagsanstalt
273 Seiten; Broschiert;

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