Des Aufenthalters Sohn
Deutsche Großprojekte im Lichte des Gedenkens an die Opfer des Faschismus

von
Antonín Dick

03-2013

trend
onlinezeitung

Man müßte einmal«, sagt ein Opfer des faschistischen Rassenwahns, das mit einem der Kindertransporte nach England gerettet werden konnte, in W.G. Sebalds Prosawerk »Austerlitz«, »einen Katalog unserer Bauwerke erstellen, in dem sie ihrer Größe nach verzeichnet wären, dann würde man sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten es sind – die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten –, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen sei, behaupten könne, daß er ihm gefalle. Man staune ihn bestenfalls an, und dieses Staunen sei bereits eine Vorform des Entsetzens, denn irgendwo wüßten wir natürlich, daß die ins Überdimensionale hinausgewachsenen Bauwerke schon den Schatten ihrer Zerstörung vorauswerfen und konzipiert sind von Anfang an im Hinblick auf ihr nachmaliges Dasein als Ruinen.«


Rose des
Exilgeborenen

Ein Essay von Antonín Dick

Der Hauptstadtflughafen BER, »Stuttgart 21«, die Hamburger Elbphilharmonie und andere Großprojekte wie die vom Berliner Bürgermeister favorisierte Zentralbibliothek auf dem gerade stillgelegten Nazigroßflughafen Tempelhof drücken genau diese militante Energie aus, die der Überlebende, inzwischen ein gefragter Forscher, ermittelt hat.

Friedliches Bauen als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?

W.G. Sebald, Jahrgang 1944, hatte sich mit seinem aus dem Hitlerkrieg heimkehrenden Soldatenvater gründlich auseinandergesetzt, so gründlich, daß er nach seinem Studium aus der Bundesrepublik für immer nach England emigrierte, um fortan über die politisch und rassisch Verfolgten des Naziregimes schriftstellerisch arbeiten zu können. Hartmut Mehdorn, selbe Generation, stieg dagegen zum Chef und Mitgestalter von Großprojekten auf: Als Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bahn AG profilierte er sich bei der Errichtung des Berliner Hauptbahnhofs und mit der Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags für »Stuttgart 21«, seit 11. März ist er nun BER-Chef. In seiner Wikipedia-Vita steht: »Mehdorn wurde 1942 als Sohn des Diplom-Ingenieurs Wolfgang Mehdorn und der Hausfrau Erika Mehdorn geboren. Er kam während eines Besuches seiner Mutter aus Berlin bei seinem Vater zur Welt, der sich als deutscher Soldat im besetzten Warschau aufhielt.«

Wie: aufhielt? Ein deutscher Soldat, der sich mit anderen deutschen Besatzern, im Blut watend, dort eben mal so aufhielt? Als Tourist des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht?

Als Bahnchef legte des Aufenthalters Sohn nicht nur Berlin einen Hauptbahnhof hin, in dem der einzelne Mensch zum Streichholz herabgewürdigt wird, sondern lieferte sich Ende des vorigen Jahrzehnts auch regelrechte Abwehrschlachten mit den Initiatoren des »Zuges der Erinnerung«, der demonstrativ auf den Strecken der Bahn fuhr, die seinerzeit für die Deportation Hunderttausender Kinder und Jugendlicher benutzt worden sind – zum Gedenken an die Opfer des Mordes an Juden, Roma und Sinti. Der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Michael Szentei-Heise, hat diese Abwehr quasi tiefenpsychologisch gedeutet: »Wenn Herr Mehdorn im Dritten Reich in derselben Position gewesen wäre wie heute, hätte er mit großer Überzeugung Deportationen angeordnet.«

Wie kommen solche epochenübergreifenden Deutungen zustande? Im Jahr des Gedenkens an Machtübergabe (1933) und Novemberpogrome (1938) fordern die Opfer uns auf, Fragen zu stellen. Es ist unbequem, schmerzlich, ihnen zuzuhören. Es stört den Seelenfrieden, mit flüsternden und schreienden Toten zu reden. Zu welchen Fragen sind wir also aufgefordert? Zu einer ganz elementaren zunächst: Was waren das für Menschen damals? Wie haben sie gedacht und gefühlt? Waren die braunen Lehrjahre des Gefühls passé, nur weil das sogenannte Dritte Reich 1945 aufgehört hat zu existieren? Was lief bei der nächstfolgenden Generation? Und bei der nächsten? Und bei der darauf folgenden? Nein, bitte nicht wieder diese wie aus der Hüfte geschossenen Antworten! Sie sollen einen nur zum Schweigen bringen. Wie die Großprojekte
.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde er am 20.3.2012 in der "Jungen Welt"