trend spezial: Die Organisations- und Programmdebatte

Zur politischen Lage und zu unseren Aufgaben
von Pitt, Revolutionäre Initiative Ruhrgebiet (RIR)

03-2013

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12/13 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm.

Vorbemerkung: Die RIR ist eine Abspaltung aus dem RSB, der zu den ProtagonistInnen des SiB-NaO-Prozesses gehört. Mit der Gründung der RIR mussten deren Mitglieder natürlich die IV. Internationale verlassen, da die IV. Internationale bereits schon zwei Sektionen (RSB & ISL) in der BRD hat. In dankenswerter Weise legt nun der Genosse "Pitt" das trotzkistische Interesse an der von der SiB angestoßenen Initiative zur Überwindung des Zirkelwesens offen. Über die politische Perspektive des erodierenden NaO-Projekts schreibt er nämlich: "Darüber hinaus bietet die NAO-Initiative – unabhängig davon, ob sie erfolgreich sein wird oder nicht – eine gute Möglichkeit, die Sektion der IV. Internationale in Deutschland neu aufzustellen."  / kamue

1. Was ist der Stand der Bewegung?

1.1 Unser Ausgangspunkt ist eine Einschätzung der ArbeiterInnenbewegung, der sozialen Bewegung(en) und der linken, sozialistischen Bewegung.

Dabei wird unter ArbeiterInnenbewegung die reale Bewegung der ArbeiterInnen für ihre unmittelbaren Klasseninteressen verstanden. Diese Bewegung der ArbeiterInnen ist zwar weitgehend deckungsgleich, aber nicht identisch mit der Gewerkschaftsbewegung.

Unter sozialer Bewegung verstehen wir die Bewegung sozialer Initiativen, die im fortschrittlichen Sinne für allgemein-gesellschaftliche Interessen aktiv sind;

Unter linker, sozialistischer Bewegung (ob reformistisch oder revolutionär) verstehen wir die Gesamtheit der Parteien, Organisationen, Gruppen und Netzwerke, die eine nicht-kapitalistische Gesellschaft anstreben.

Beispiele für die komplexen Beziehungen dieser drei unterschiedlichen „Bewegungen“ sind:

Obwohl sich die linke, sozialistische Bewegung als Teil der ArbeiterInnenbewegung begreift, ist sie von der realen Bewegung der ArbeiterInnen (selbst die Gewerkschaftsbewegung) getrennt.

Die Bewegung gegen den sozialen Kahlschlag wird von der Linkspartei, die eigenständigen Anti-Krisen-Proteste von linksradikalen, oft post-autonomen Zusammenhängen dominiert (in der Umweltbewegung hat nach wie vor die Grüne Partei erheblichen Einfluss).

Soweit die Gewerkschaften an der Bewegung gegen sozialen Kahlschlag teilhaben, treten sie in Stellvertretung der ArbeiterInnenklasse auf, nicht mit dem Versuch ihrer Mobilisierung.

Größtes Problem ist, dass sich die Bewegung der ArbeiterInnen nicht bewegt d.h., dass wir uns auf einem Tiefstand der offenen Klassenkämpfe befinden:

die Streiktätigkeit ist äußerst niedrig;

es gibt kaum Widerstand z.B. bei Massenentlassungen (ThyssenKrupp), Betriebsschließungen (Opel) und Zerschlagung des Konzerns (Hochtief);

die linken Organisationen haben sehr wenig Einfluss innerhalb der Bewegung der ArbeiterInnen (punktuell nur Linkspartei und MLPD), etwas mehr Einfluss hat die Linkspartei beim linken Flügel der Gewerkschaftsbürokratie, während alle linken Organisationen zusammen gerechnet kaum Einfluss an der Gewerkschaftsbasis haben.

Das hat Konsequenzen für das Klassenbewusstsein: Das politische Bewusstsein, dass die Lohnabhängige selbst einer Klasse zugehören, entsteht bei der Masse der ArbeiterInnen und Angestellten in Kämpfen für die eigenen Klasseninteressen. Das Fehlen von Kämpfen bedeutet wenig oder gar kein politisches Klassenbewusstsein. Das heißt nicht, dass es aufgrund eines niedrigen Bewusstseinsstandes nicht zu Kämpfen kommen könnte. Gerade der Widerspruch zwischen relativ konservativem, zurückgebliebenem Bewusstsein und der Bedrohung der eigenen Existenz wie bei Opel, ThyssenKrupp und Hochtief kann zu radikalen Aktionen führen (Beispiel 1997 Besetzung aller Zechen durch die Bergarbeiter/innen).

1.2 Die Bewegung gegen den sozialen Kahlschlag (gegen Hartz IV, Privatisierung usw.) ist ebenfalls auf einem sehr niedrigen Stand und tritt kaum öffentlich in Erscheinung. Angestoßen durch die Kämpfe in Griechenland und durch die occupy-Bewegung formierten sich aus einem Teil der überwiegend intellektuell geprägten post-autonomen revolutionären Linken die Anti-Krisen-Proteste, die das kapitalistische System in Frage stellen. Sie verdichteten sich jedoch bisher nicht zu einer eigenständigen sozialen Bewegung, auch wenn weiterhin zu Aktionen aufgerufen wird. Die Anti-Atom-Bewegung, die durch Fukushima einen mächtigen Schub erhalten hatte, ist wieder stark zurückgegangen. Immerhin ist sie auf einem höherem Stand als vor ein paar Jahren.

Einige einfache Schlussfolgerungen liegen nahe:

Eine ArbeiterInnenbewegung, die nicht kämpft, kann weder an einer sozialen Bewegung teilnehmen noch die linke sozialistische Bewegung stärken.

Eine Bewegung gegen sozialen Kahlschlag, die am Boden liegt, kann ebenfalls keine Basis für den Aufschwung der linken, sozialistischen Bewegung bilden, (obwohl es das Potential für zwei oder drei Bewegungen gegen Hartz IV oder Rente mit 67 gibt).

Indem die linke, sozialistische Bewegung von der (auf niedrigem Niveau befindlichen) Bewegung der ArbeiterInnenklasse getrennt ist, ist sie auch von dem einzigen Subjekt grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen abgeschnitten. Das lässt linke Politik in der Luft hängen und prägt die sozialistische Bewegung in der BRD: Es dominiert das auf das Parlament fixierte reformistische Lager. Dem entspricht eine sektiererische Variante in der revolutionären Linken, soweit sie auf den allein selig machenden linearen Aufbau „ihres“ Organisationsmodells setzt.

Der Hauptgrund für die kaum spürbare Bewegung der ArbeiterInnen, für den niedrigen Stand der sozialen Bewegung(en) und für die Schwäche der linken, sozialistischen Bewegung liegt in der Stärke des BRD-Imperialismus, der andere Länder innerhalb der EU nieder konkurriert und aussaugt. Das ermöglicht ihm in der Krise eine Politik des Klassenkompromisses zwischen Kapital, Regierung und Gewerkschaften, während die herrschende Klasse in Ländern wie Griechenland, Portugal, dem Spanischen Staat die ArbeiterInnen-klasse frontal angreift. In Deutschland gibt es leichte Lohnerhöhungen, Abschaffung der Studiengebühren und eine breite Debatte über die Einführung eines Mindestlohnes. In Griechenland wurden die Löhne um 30-40 Prozent gesenkt. Auf Zypern werden KleinsparerInnen teil enteignet. Das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung trifft mehr den je auf Europa zu.

2. Ursachen für die Stärke des BRD-Imperialismus

In den 1960er Jahren hatte das ökonomische Gewicht der BRD (ebenso von Frankreich, Britannien usw. – gemessen am Bruttoinlandsprodukt BIP) auf dem Weltmarkt gegenüber den USA und Japan stark abgenommen. Darin lag und liegt die Notwendigkeit der EU, d.h. der Schaffung eines eigenständigen europäischen Binnenmarktes und seiner ständigen Erweiterung bis hin zur EU27 und darüber hinaus. Verlierer im internationalen Konkurrenzkampf der imperialistischen Blöcke war bisher vor allem Japan.

Schon vor der Weltwirtschaftskrise 2007 war die EU27 zum wirtschaftlich stärksten imperialistischen Block aufgestiegen (gemessen am BIP) und konnte mit der Krise ihren Vorsprung zu den USA weiter ausbauen. Der wirtschaftliche Überholvorgang durch die EU wird jedoch durch die rasante Aufholjagd Chinas in den Schatten gestellt. 1980 lag die Wirtschaftskraft Chinas hinter Spanien. 2013 ist sie nicht mehr weit davon entfernt, die USA oder die EU27 zu übertreffen. Durch den Aufstieg Chinas gerät am stärksten der japanische Imperialismus ins Hintertreffen. Durch die Konkurrenz der imperialistischen Blöcke könnte langfristig die politische Vormachtstellung der USA ins Wanken geraten, wenn ihre dafür notwendige ökonomische Basis weiter unterhöhlt wird. Um so aggressiver werden die USA ihre Einflusssphären gegenüber anderen imperialistischen Blöcken verteidigen. Im Unterschied zu den USA und zu Japan kann die EU auf die Wirtschaftsoffensive Chinas mit einer Ausweitung des europäischen Binnenmarktes reagieren. Das ermöglicht der EU, die Pose eines „pazifischen“ Imperialismus einzunehmen, während sie ihren wirtschaftspolitischen Einfluss und ihre weltweite militärische Interventionsfähigkeit, wie das Beispiel Mali zeigt, kontinuierlich ausbaut.

Neben dem historischen Erbe (Industrialisierung, Unternehmensstruktur, Organisationskultur usw.) sind die Gründe für die wirtschaftliche und politische Stärke des BRD-Imperialismus:

Die Wiedervereinigung. Zwar kommt die einmalige Gelegenheit der Ausplünderung Ostdeutschlands nicht mehr wieder, aber die Basis des BRD-Imperialismus wurde auf Dauer erheblich erweitert;

Die „Reformen“ des Sozialsystems mit der Agenda 2010, die in Wirklichkeit „Gegen-Reformen“ sind, und von der SPD ab 2003 durchgesetzt wurden. Mit Hartz IV, der Zunahme der Leiharbeit, von Mini-und Ein-Euro-Jobs u.a. wurden die Lohnkosten für die KapitaleignerInnen gesenkt, die teilweise Lohnzuschüsse direkt vom Staat bezahlt bekommen. Die Lohnabhängigen wurden gezwungen, jede Arbeit anzunehmen. Von 41 Millionen Lohnabhängigen sind 8 Millionen prekär beschäftigt. Eine erhebliche Minderheit der ArbeiterInnenklasse verarmte. Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich durch eine umfangreiche Flexibilisierung der Arbeitszeit und die jederzeitige Abrufbarkeit. Über alle Sektoren hinweg ist im letzten Jahrzehnt der Leistungsdruck gestiegen. Damit stieg die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen erheblich, was sich untereinander z. Tl. in unsolidarischem Verhalten und Mobbing bemerkbar macht. Wer in zwei oder drei prekären Jobs arbeitet, hat Schwierigkeiten über eine erholsame Freizeit zu verfügen. Mit der Durchsetzung der Agenda 2010 sieht sich die SPD europaweit als Vorreiter (sonst „stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Eurokrise“) und gegenüber der CDU/CSU als die Partei, der das „tiefgreifendste und erfolgreichste wirtschaftliche Reformprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ (SPD-Fraktionsvorsitzender Walter Steinmeier, SZ 9./10.3.2013) zu verdanken sei.

Die Politik der Klassenzusammenarbeit. Zwar griff die SPD-Regierung unter Schröder mit der Agenda 2010 die sozialen Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse direkt an, „weil wir im Bündnis für Arbeit – im versuchten Konsens zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik – nicht weiterkamen“ (Steinmeier). Auch zielten die „Gegen-Reformen“ auf eine direkte Schwächung der Gewerkschaften ab. Aber die Agenda 2010 wurde nicht nur von der Gewerkschaftsbürokratie kampflos hingenommen, sondern sogar unterstützt, die sich weitgehend auf eine Interessen-vertretung für die Schichten der Vollzeitbeschäftigten zurückzog, aber selbst für diese auf eine offensive Lohnpolitik verzichtete. Während also die Klassenzusammenarbeit von oben partiell aufgekündigt wurde, hielt die Gewerkschaftsbürokratie trotz aller Angriffe (z.B. Rente mit 67) eisern daran fest.

3. Die kapitalistische Krise seit 2007

3.1 Die kapitalistische Krise 2007 war/ist eine Überproduktionskrise vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden Verwertungskrise des Kapitals. Die Überproduktionskrise wurde weitgehend durch den Konjunkturmotor China überwunden. Weltweit wurden noch nie so viele Autos und noch nie so viel Stahl produziert wie im Jahr 2011. Die Überproduktionskrise ist aber noch nicht in den USA, in der EU27 und in Japan überwunden. Diese drei imperialistischen Blöcke haben nicht wieder das Niveau der Produktion erreicht, das sie 2006/2007 auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms vor Ausbruch der Krise erlangt hatten.

Durch die Krise haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den imperialistischen Blöcken drastisch zu Gunsten Chinas verschoben. Rissen mit Ausbruch der Krise 2007 die veränderten Kräfteverhältnisse innerhalb der EU (von denen vor allem Deutschland profitierte) ganze Staaten wie Griechenland und Portugal in den Abgrund, so führten die drastisch veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Weltmarkt zu den „Bereinigungen“ z.B. bei Thyssen, GM/Opel, ACS/Hochtief und anderen multinationalen Konzernen mit Tausenden von Entlassungen und Betriebsschließungen.

Die Krise ist nicht nur eine ökonomische – zu der eine ökologische kommt – sondern auch eine ideologische Krise. Wie die bürgerliche Kapitalismuskritik zeigt, wird die Legitimität der neoliberalen Variante des Kapitalismus in Frage gestellt. Im Namen eines „sozialen“ Kapitalismus werden seine „Auswüchse“ kritisiert. Dass die gleichen KritikerInnen die drastischsten Abbaumaßnahmen auf Kosten der ArbeiterInnenbewegung in Griechenland und anderswo befürworten, unterstreicht einmal mehr ihre Doppelmoral. Aber in Abgrenzung zur bürgerlichen Kapitalismuskritik ist es wieder möglich, die lange Zeit verpönte marxistische Kapitalismuskritik in die öffentliche Debatte zu tragen.

Darüber hinaus stellte und stellt die arabische Revolution die kapitalistischen Diktaturen in einem besonders wichtigen Teil der Welt in Frage. Überrascht von den Umstürzen in Tunesien und Ägypten versucht der Imperialismus die Möglichkeiten zu nutzen, ihm unpassende Regimes in Libyen und Syrien unter der Flagge der „Demokratie“ und „Freiheit“ zu stürzen. Gegenüber den alten Eliten der herrschenden Klasse und der bürgerlichen, islamistischen Bewegung entsteht eine dritte Strömung, die den frei gewordenen und frei werdenden politischen Spielraum zur Organisierung der ArbeiterInnenbewegung und für den Aufbau einer revolutionären, sozialistischen Bewegung – der Richtung Chokri Belaid – bietet. Auch wenn Weltwirtschaftskrise, Umweltzerstörung und arabische Revolution weitgehend unabhängig voneinander auf verschiedenen Ebenen ablaufen, so sind sie doch Teile eines Ganzen – der Krise des kapitalistischen Systems.

3.2 Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007 gelang es der Gewerkschaftsbürokratie mit der Regierung Merkel die Politik der Klassenzusammenarbeit zu erneuern. Dafür verzichteten die Gewerkschaften auf jede Kapitalismuskritik und von der bürgerlichen Politik unabhängige Position. Heute besteht ein Bündnis von Regierung + Kapital + Gewerkschaftsbürokratie, das ungeachtet der Regierungskonstellation den Standort des „Exportweltmeisters“ durch geringe Lohnerhöhungen, staatliche Lohndrückerei mit Hartz IV, Leiharbeit, Mini-und Ein-Euro-Jobs, Kombilohn, wenig Streiks, kaum Widerstand selbst bei Stilllegungen und schwache soziale Bewegung(en) „sichert“. Trotz aller Nachrufe aus der linken, sozialistischen Bewegung besteht das Modell der Klassenzusammenarbeit weiter fort. Es wurde von den Herrschenden erneuert und nicht etwa von der Regierung CDU/CSU-FDP aufgekündigt.

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass bei einem finanziellen Zusammenbruch mehrerer Staaten auch Deutschland in den Malstrom gezogen würde. Die Bundesregierung hat das entsprechende Szenario heraufbeschworen: Schäubles Enteignungsaktion der KleinsparerInnen auf Zypern könnte zu einem Run auf die Bankkonten führen und die Banken zusammenbrechen lassen. Auch in anderen Krisenländern wie Griechenland, Spanien und Portugal könnten die KleinsparerInnen ihr Geld in Sicherheit bringen, was weitere Bankenpleiten zur Folge haben könnte – auch in Deutschland. Dann könnte auch hier die herrschende Klasse zu einem Kurswechsel um 180 Grad gezwungen sein, um die ArbeiterInnenklasse frontal anzugreifen. In diesem Fall würde die von vielen Linken gezeichnete Perspektive „von nun an geht’ s bergab“ zutreffen, wonach uns morgen in Deutschland das erwartet, was heute in Griechenland passiert. Neben allen Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft ist die herrschende Klasse in ihrer Arroganz, Abgehobenheit und Selbstgefälligkeit immer für einen „Volltreffer“ gut, der einen Dominoeffekt auslösen kann. Würde der Dominoeffekt die BRD treffen, brächte er nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern auch den NAO-Prozess in eine schwierige Lage. Denn trotz der dann sicherlich einsetzenden Politisierung würde die Zeit knapp, bereits im Vorfeld eine wahrnehmbare Organisation aufzubauen, die auch wirksam ins politische Geschehen eingreifen kann.

Früher oder später wird die Überproduktionskrise durch die Vernichtung von Kapital usw. bereinigt werden, zu einer Belebung der Konjunktur führen und in einen neuen Boom übergehen. Nicht bereinigt werden wird die Verwertungskrise des Kapitals. Nach Ernest Mandel befinden wir uns ökonomisch in einer „langen Welle“, die ab 1940 in den USA und ab 1948 in Europa mit der Phase eines lang anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs begann. Diese erste Phase endete mit der Krise 1966/67 und ging in eine Stagnationsphase über, die nach wie vor andauert. Die Verwertungskrise des Kapitals kann im bürgerlichen Sinne nur durch schwere Niederlagen der internationalen ArbeiterInnenklasse „bereinigt“ werden(1). Dem Umschlag von der Aufschwungs-in die Stagnationsphase der ökonomischen „langen Welle“ entsprach eine politische Umbruchsituation 1968 -1975, die ab 1980 in eine Periode der Offensive des Kapitals, des politischen Rückschritts und Niedergangs der ArbeiterInnenbewegung überging. Sie wurde 1989 durch den Zusammenbruch des Stalinismus erheblich verlängert und hielt mehr als 25 Jahre an. Die Weltwirtschafts-krise 2007 eröffnete eine neue politische Periode offener Klassenkämpfe, die durch radikale Wechsel der politischen Lage gekennzeichnet ist. Mit ihr hat der Weltkapitalismus seine 1980-2006 gewonnene Festigung verloren. Das heißt aber nicht, dass sich schon morgen in Deutschland die politische Lage radikal verändern wird.

4. Das Dilemma der linken, sozialistischen Bewegung

4.1 Von einer Belebung der Klassenkämpfe in der BRD durch das leuchtende Beispiel der ArbeiterInnenklasse in Griechenland ist noch nichts zu spüren. Anstöße für eine politische Belebung erhielten allein die Anti-Krisen-Proteste und die linke, sozialistische Bewegung.

Die Anti-Atom-Bewegung konnte nach Fukushima in erheblich größerem Ausmaß mobilisieren. Wenn auch das Atomprogramm der Bundesregierung nicht voll gekippt werden konnte, so wurde doch das späte „Aus“ für fast alle AKW als Teilerfolg betrachtet. Die Bewegung ging in der Folge wieder stark zurück, ist jedoch stärker als vor Fukushima.

Die Anti-Krisen-Proteste brachten einige zehntausend Menschen auf die Straßen. Auch wenn sich die Proteste nicht zu einer eigenständigen sozialen Bewegung verdichteten, so sind sie doch ein Ausdruck radikaler Kapitalismuskritik, die weiter anhält.

Sowohl in der Anti-Atom-Bewegung wie auch bei den Anti-Krisen-Protesten spielte die revolutionäre, post-autonome Linke wie z.B. die IL eine gewichtige Rolle.

Festzuhalten ist jedoch, dass sich die Anstöße zur Stärkung der Anti-Krisen-Proteste in erster Linie aus der internationalen Lage und nicht aus den unterentwickelten klassenpolitischen Verhältnissen der BRD ergaben.

4.2 Die Trennung der linken, sozialistischen Bewegung von der ArbeiterInnenbewegung hat erheblicheKonsequenzen. Getrennt vom Subjekt ihrer Begierde und ohne offene Klassenkämpfe steht die linke,sozialistische Bewegung dem stärksten Imperialismus der EU gegenüber.

Seit den „Gegenreformen“ der Agenda 2010 ist von 2004 bis 2012 der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten weiter gesunken. Die große Mehrheit der acht Millionen prekär Beschäftigten – das heißt ein umfangreicher Sektor der ArbeiterInnenklasse – ist nicht gewerkschaftlich organisiert. Obwohl viele Linke selbst prekär beschäftigt sind, gelang es ihnen bisher nicht, die elementare Organisierung der unterdrücktesten und am meisten ausgebeuteten Schichten der ArbeiterInnenklasse, unter ihnen viele Frauen, zumindest exemplarisch voranzutreiben.

Der Mangel an sozialer und politischer (Klassen)bewegung macht sich doppelt bemerkbar: Ein Teil der sozialistischen Bewegung sucht stärker als bisher sein Heil in der parlamentarischen Oppositionsarbeit, die morgen zur linken Mitregierung werden soll (Linkspartei); ein anderer Teil versucht im linearen Alleingang zu der „Partei der Arbeiterklasse“ zu werden (MLPD und türkische MaoistInnen; Teile des Trotzkismus):

Die reformistische Linkspartei ist völlig parlamentsfixiert. Ihr strategisches Dilemma besteht darin, dass sie nicht die Klassenzusammenarbeit von Regierung + Kapital + Gewerkschaften als eine der Grundlagen für die Stärke des BRD-Imperialismus erkennt. Der Versuch, die SPD, die Grünen und die DGB-Bürokratie aus einem zentralen Projekt der Bourgeoisie herauszubrechen und für eine „andere Politik“ zu gewinnen, ist von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Wenn die SPD die Politik der Klassenzusammenarbeit teilweise aufgibt – dann nur wie bei Hartz IV und Rente mit 67 als Partei des offenen Angriffs auf die sozialen Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse. Der Ansatz der Linkspartei wird immer wieder dazu führen, dass sie sich ihren vermeintlichen Bündnispartnern anpasst. Trotzdem unterscheidet sich die Linkspartei von der SPD. Weder sind beide „sozialdemokratisch“(2,) noch sind beide „reformistisch“(3) im Sinne eines gemächlichen Weges der Reformen hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. Eine solche Gleichsetzung mag zwar zur eigenen Abgrenzung gegenüber der Linkspartei dienen, läuft aber auf eine Beschönigung der SPD hinaus. Die Linkspartei ist gegen Hartz IV, Rente mit 67 und bewaffnete Auslandseinsätze – die SPD hat diese „Reformen“ für die Bourgeoisie durchgesetzt. Ein sozialistisches Ziel auf dem Weg progressiver Reformen strebt von beiden nur die Linkspartei an.

Durch Castor-Schottern und blockupy hat die post-autonome revolutionäre Linke einen sichtbaren Aufschwung genommen. Ihr ist es zu verdanken, dass (vom Kräfteverhältnis her) überhaupt eine „revolutionäre Alternative“ zur Linkspartei wahrnehmbar ist. Dass es innerhalb der (post-autonomen) revolutionären Linken ernste Widersprüche gibt, zeigt sich z.B. an ihrer Politik der Aktionseinheit.

Selbst in der kleinen trotzkistischen Linken existieren zwei Pole: Eine Mehrheit versucht, innerhalb der Linkspartei zu arbeiten und passt sich ihr entsprechend an; eine Minderheit vertritt das sektiererische Konzept des eigenen, linearen Aufbaus hin zu „der“ revolutionären Partei. Bei beiden Varianten überwiegen die Beispiele für ein wenig demokratisches Innenleben.

5. Für eine Neue Antikapitalistische Organisation (NAO)

Ebenso wie die Anstöße für die Anti-Krisen-Proteste fiel auch die Debatte über eine Neue Antikapitalistische Organisation (NAO) vom Himmel der internationalen kapitalistischen Krise. Die Diskussion über den Charakter der Krise musste geführt werden und wird geführt. Beflügelnd war die Erkenntnis, dass es Widerstand in anderen Ländern gibt (Griechenland; arabische Revolution) und sich woanders neue antikapitalistische, revolutionäre Zusammenhänge bildeten (Bündnis Antarsya in Griechenland – und schon viel früher die Nouveau Parti Anticapitaliste in Frankreich).

Die Debatte über eine NAO ergab sich aus der internationalen politischen Lage und nur insofern aus den unterentwickelten Klassenverhältnissen der BRD, wie ihnen das Bewusstsein der eigenen Schwäche angesichts der Herausforderungen der Krise hinzugerechnet werden darf. Das erklärt sowohl die begrenzte Ausstrahlung der Debatte wie die Hartnäckigkeit, mit der sie geführt wird. Sie wird so lange anhalten, wie die aktuelle Krise des Kapitalismus selbst andauert.

Es ist also nicht Schuld der Beteiligten am NAO-Prozess, dass ihre Diskussionen wenig Ausstrahlung auf die linke Bewegung in ihrer Gesamtheit haben. Es ist auch nicht Schuld der Beteiligten, dass sie außerhalb der ArbeiterInnenbewegung und weitgehend außerhalb der sozialen Bewegung(en) diskutieren, wenn die eine wie die andere kaum in Erscheinung treten. Es ist nicht Schuld der Beteiligten, wenn sie mangels offener Klassenkämpfe, fehlender sozialer Bewegung und organisatorischer Zersplitterung kaum eine gemeinsame Praxis entwickeln können.

Auch wenn die NAO-Initiative , wie all solche Versuche, auch Menschen anzieht, die nur diskutieren, aber nicht aktiv werden wollen … schon jetzt hat sich diese Initiative gelohnt:

Sie führt eine theoretisch hochstehende Debatte, wie sie die einzelnen beteiligten revolutionären Organisationsansätze nicht aus eigener Kraft entwickeln können;

Sie versucht eine andere Antwort als die des linearen, eigenen Organisationsaufbaus auf die Tatsache zu geben, dass die revolutionäre-sozialistische Linke in der BRD sehr schwach und zersplittert ist;

Sie beantwortet den Ruf nach „Einheit“ (hoffentlich) mit der Aufforderung zu einem Bündnis der antikapitalistischen und revolutionären Linken;

Sie führt diese Debatte öffentlich, wie keine der beteiligten Organisationen ihre eigenen Debatten öffentlich führt;

Sie ist der Versuch, diese Debatte demokratisch zu führen, wobei aus Fehlentwicklungen (z.B. ununterbrochene Bombardierung der Beteiligten mit mails) gelernt wird, während Organisationen wie der RSB alles dafür tun, ihre demokratischen Defizite vor der linken Öffentlichkeit zu verbergen.

Sie legt damit den Grundstein für eine neue Organisationskultur. Aus diesen Gründen stehen wir grundsätzlich positiv zur NAO-Initiative und wollen ihr als Mitglied beitreten, zumal wir ihre „Essentials“ in der generellen Linie teilen.

6. Die Sektion der IV. Internationale in Deutschland neu aufstellen

Darüber hinaus bietet die NAO-Initiative – unabhängig davon, ob sie erfolgreich sein wird oder nicht – eine gute Möglichkeit, die Sektion der IV. Internationale in Deutschland neu aufzustellen.

Mitglieder oder SympathisantInnen der Vierten Internationale finden sich in nicht weniger als in 5 (fünf !) verschiedenen (Organisations)zusammenhängen wieder (isl, RSB, im SoKo, in der SIB und in der RIR(4).

Während sich ein ausschlaggebender Teil der isl der Mitarbeit in der reformistischen Linkspartei verschrieben hat, lehnt die den RSB dominierende Mannheimer Position überhaupt jede revolutionäre Umgruppierung ab und setzt auf den linearen Aufbau der eigenen Organisation(5). Weder die isl-noch die RSB-Mehrheit werden einen Anstoß zu einer Neu-Aufstellung der Sektion geben können.

Die dem NAO-Prozess gegenüber wirklich offene Minderheit der GenossInnen des RSB; die GenossInnen der isl, die die Beteiligung am NAO-Prozess einer Arbeit in der Linkspartei vorziehen würden; die Mitglieder der IV. Internationale in der Sozialistischen Kooperation; die SympathisantInnen der Vierten im SIB und in der Revolutionären Initiative im Ruhrgebiet werden zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, warum sie nicht, wenn sie schon öffentlich und mit Überzeugung für die Bildung einer NAO eintreten, gleichzeitig die Vereinigung dieser UnterstützerInnen der Vierten in und um die NAO vorantreiben? Die Neu-Aufstellung der Sektion der IV. Internationale in der BRD ist nicht wie die Vereinigung von isl und RSB eine rein akademische Debatte, sondern entscheidet sich spätestens dann, wenn sich eine NAO bilden sollte.

7. Welche Aufgabenstellung?

Keine revolutionäre Organisation kann an Stelle der ArbeiterInnenklasse handeln. Aber was ist unser eigener kleiner Beitrag, um der ArbeiterInnenbewegung zu helfen, aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwachen? Wie können wir im prekären Sektor, in dem wir selbst beschäftigt sind, punktuell die Vereinzelung und Konkurrenz unter Lohnabhängigen überwinden?

Keine revolutionäre Organisation kann an Stelle der sozialen Bewegungen handeln, aber was ist unser bescheidener Beitrag zu ihrem Aufbau?

Wir wollen nicht ein weiteres lineares revolutionäres Organisations-Aufbaumodell anpreisen, aber was ist unsere Antwort auf die Schwäche und Zersplitterung der revolutionären Linken?

Außerhalb der zwei bestehenden Organisationen der IV. Internationale in der BRD ist es uns nicht möglich, Mitglied in der Vierten Internationale zu sein, aber was ist unsere Antwort auf die Aufsplitterung ihrer Mitglieder und UnterstützerInnen in 5 verschiedene Organisationszusammenhänge?

Oberhausen 19.03.2013

Anmerkungen

1) Mandel, Ernest, Die langen Wellen im Kapitalismus, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1987.

2) Vgl. PS des RSB, „`Superwahljahr` 2013?“, Avanti, Januar 2013, S. 3.

3) So die GAM, die den Begriff des Reformismus inflationär auf die bürgerliche SPD und die reformistisch-sozialistische Linkspartei anwendet.

4) internationale sozialistische linke (isl) und Revolutionär Sozialistischer Bund (RSB) -sie bilden virtuell die Sektion der Vierten Internationale in Deutschland, Sozialistische Kooperation (SoKo), Sozialistische Initiative Berlin (SIB), Revolutionäre Initiative Ruhrgebiet (RIR).

5) Vgl. H. Neuhaus, „BRD: Krise? Welche Krise?“, Avanti, Januar 2013, S. 6, der vom „Wunschtraum von einer einheitlichen radikalen Linken, der durch gemeinsame Diskussionen in einer randständigen Szene wahr würde“ schreibt.

Editorische Hinweise

Der Artikel erschien auf dem NaO-Blog, wo er diskutiert werden kann.
http://www.nao-prozess.de/blog/zur-politischen-lage-und-unseren-aufgaben/