Nach Adorno
Grenzen und (Neben-) Wirkungen  der Kritischen Theorie
(1)

von Gerhard Hanloser

03-2014

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Im folgenden wollen wir Adorno (und die Kritische Theorie im allgemeinen) historisch einordnen - das heißt auch, die historischen Schranken dieses Denkens offen legen. Die Situation in den 20er und 30er Jahren zwang nicht wenige revolutionäre Theoretiker, den Marxismus neu zu überdenken: 1914/1918 war eine doppelte Niederlage: die Arbeiterbewegung versagte angesichts des Ersten Weltkrieges, integrierte sich mittels Burgfrieden, "Heiliger Allianzen" und Patriotismus in den kriegsführenden Staat. Die Rätebewegung nach dem Krieg zersetzte sich rasch von innen heraus und wurde blutig zerschlagen. In der Sowjetunion entwickelte sich eine staatskapitalistische Despotie, die den Marxismus als Legitimationsideologie benutzte. Die II. Internationale, der Parteimarxismus und der sowjetische Staatsmarxismus sind auf der Seite der rationalisierten, verwalteten Welt angekommen. Deshalb entstanden gegen die Marxorthodoxie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von abweichenden Strömungen wie der Rätekommunismus, der Bordigismus u.v.a.. Der Philosoph Georg Lukacs etwa rückte die Kategorie des “(Klassen-) Bewußtseins” und der "Verdinglichung" ins Zentrum seiner Überlegungen. Wilhelm Reich forschte zur Frage, warum sich zwischen Arbeiterverhalten und Krise eine Schere auftat, warum die ökonomische Krise nicht automatisch in eine revolutionäre Krise führte. Für seinen Versuch, Psychoanalyse und Marxismus zusammenzubringen, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Die frühen Studien von Erich Fromm zu den "Arbeitern und Angestellten am Vorabend des Dritten Reichs" stehen in dieser Tradition und führten zur Entdeckung der "autoritären Persönlichkeit" bzw. des "autoritären Charakters", den der Parteikommunismus mehr förderte als bekämpfte. Kritische Theorie legte sich so mit den Organen der Arbeiterbewegung an (Parteien, Gewerkschaften), die die Arbeiterklasse weiter in die kapitalistische Misere verstrickt hatten. In dem Sinn ist die Kritische Theorie keine Revolutionstheorie, sondern eine Theorie, die auf das Scheitern der Revolution reflektierte. Sie bleibt mit der beherrschten Klasse verbunden, allerdings in kritischem Abstand zu ihr.

Aus diesem Bündel von Versuchen, den Marxismus zu erneuern (das sich im übrigen in anderen Gebieten der Welt in den 50er Jahren weiter anreicherte, erwähnt seien CLR James und Socialisme ou Barbarie), wurde in der Studentenbewegung der 60er Jahre in Deutschland fast ausschließlich die Kritische Theorie rezipiert. Das läßt sich zum Teil sicherlich mit der Zeit erklären: Psychoanalyse - als in Deutschland verfemte und verfolgte Wissenschaft - war zur Bloßstellung autoritärer Strukturen attraktiv. Zum anderen lagen die Texte der Kritischen Theorie eben größtenteils in deutscher Sprache vor. Die Quasi-Monopolstellung der Kritischen Theorie in der deutschen Studentenbewegung - während “Frankfurtismus” z.B. in der revolutionären Linken Italiens zu der Zeit ein Schimpfwort war - kann vor allem mit dem Abreißen der kommunistischen und revolutionären Debatten durch den Nationalsozialismus erklärt werden. Daß es "nichts anderes gab" verlieh der Kritischen Theorie eine Strahlkraft, die so weit ging, daß die Radikalen in den 60er Jahren sogar die alten Texte aus den 30er und 40er Jahren wieder ausgruben. Adornos im sogenannten Positivismusstreit stark gemachtes Festhalten am Begriff, der zur Wahrheit und zur Veränderung drängt, gab den aufmüpfigen Schüler- und StudentInnen das Handwerkszeug, mit dem sie sich gegen Lehrer und Profs wehren konnten. Wissenschaft sollte kein Werkzeug zur Verwaltung einer als falsch erkannten Welt, sondern zu deren Kritik sein.

Doch 1968 zeigte sich auch die historische Beschränktheit der Kritischen Theorie. Die 68er Bewegung war eine weltweite antikapitalistische Revolte, die in der Bundesrepublik stark von der Kritischen Theorie inspiriert war, sich aber als Revolte von ihr lösen musste, den Rahmen der Theorie überschreiten musste. Der Konflikt zwischen Revolte und Kritischer Theorie lässt sich nicht bloß an der hinreichend erzählten Geschichte der Besetzung des Instituts für Sozialforschung durch SDS-Studenten und der vom Institutschef Adorno angeordneten polizeilichen Räumung illustrieren. Er geht tiefer.

Zum einen hatten die kritischen Theoretiker selbst eine Veränderung durchgemacht. Nach dem Krieg bekam das Institut, das sich wiederum in Frankfurt ansiedelte, trotz der scharfen Kritik an den restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik eine systemstabilisierende Funktion. Das Institut integrierte sich in den Kultur- und Universitätsbetrieb und verschrieb sich nicht mehr der fundamentalen Kritik, sondern der Korrektur und Reform.

Zum anderen zeigte sich in einer Zeit, wo es um die Möglichkeiten und Bedingungen der Revolution ging, eine Theorie als hinfällig, die auf die (im Westen) ausgebliebene und (im Osten) pervertierte Revolution kritisch reflektierte und den Geschichtsoptimismus des traditionellen Marxismus doch bloß in Pessimismus verkehrt hatte und die Möglichkeit verändernder Praxis zunehmend bestritt. Die Faschismuserfahrung kann für die Kritische Theorie und besonders für Adorno und Horkheimer nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gerade das Bewusstsein vom Schrecken der Konzentrationslager machen den ungeheuer genauen und sensiblen Blick der Kritischen Theorie aus. Allerdings ist auch festzuhalten, dass "die Erfahrung des Faschismus auch Erkenntnisgrenzen gesetzt hat", wie Hans-Jürgen Krahl, militanter SDS-Theoretiker, treffend bemerkte. Das gesamte Dilemma des hilflosen Antifaschismus, der die bürgerliche Gesellschaft gegenüber ihrer barbarischen faschistischen Brut retten will, kommt in der späten Kritischen Theorie zum Ausdruck. Revolutionäre Spontaneität erinnerte die Frankfurter an die konterrevolutionär entstellte “Spontaneität”, die der Faschismus zu Herrschaftszwecken spektakulär inszenierte. Habermas' Anwurf, die revoltierenden Studies betrieben einen "Linksfaschismus" ist so weit von Adornos und Horkeimers Ängsten nicht entfernt gewesen. Denn "Adornos gesellschaftstheoretische Einsichten derzufolge das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie anzusehen sei, liess seine progressive Furcht vor einer faschistischen Stabilisierung des restaurierten Monopolkapitalismus in regressive Angst vor den Formen praktischen Widerstands gegen diese Tendenzen des Systems umschlagen."(2) Die praktischen Auswirkungen der Kritischen Theorie waren 68 radikaler als ihre Protagonisten. Die Kritische Theorie hatte auf die Studierenden enorm mobilisierende Kraft. Adorno hat etwas vermittelt, "das für die Studentenbewegung (...) geradezu umgekehrt nicht resignations- sondern aktionskonstitutiv war: eine Ohnmachtserfahrung gegenüber den technologisierten und bürokratischen Institutionen und Administrationen der spätkapitalistischen Welt."(3)

Es ist eine tolle Ironie der Geschichte, dass gerade für die neue linke Bewegung in der BRD Vorstellungen vom übermächtigen Staatsmoloch, vom übergreifenden Verblendungszusammenhang, der totalen Manipulation usw. eine solche zentrale Rolle spielten - während sie solch geschichtspessimistischen Theorien durch ihre Praxis doch widerlegte: nicht nur in der Springerkampagne 1967/68, sondern auch in ihren vielfältigen Fortsetzungen in subversiven Jugendbewegungen der 70er Jahre.

Gerade die Schriften aus den 30er und 40er Jahren erfreuten sich großer Beliebtheit bei den lesenden Teilen der Revoltierenden, besonders in Horkheimers "Autoritärer Staat" und "Die Juden und Europa" fanden sich radikale Überlegungen über den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus: "Wer vom Kapitalismus nicht reden will...". Diese Schriften halfen, den Faschismus theoretisch einzuordnen, ihn nicht aus der Geschichte des Kapitalismus zu eskamotieren, sondern die notwendigen Zusammenhänge zu rekonstruieren (auch wenn damit das Problem eines inflationären Faschismus-Begriffs verbunden war). Die Proteste der Studierenden lagen noch voll auf der Linie ihrer Frankfurter Lehrer, als sich im Protest lediglich die "Trauer um den Tod des bürgerlichen Individuums" (Krahl) ausdrückte. Die Gesellschaft des bundesrepublikanischen "Spätkapitalismus", zeichnete sich dadurch aus, über die "konzertierte Aktion" die im Nationalsozialismus zur Volksgemeinschafts-Ideologie radikalisierte und in den Streiks der 50er Jahre angekratzte Sozialpartnerschaft zu modernisieren. Unter den Augen der protestierenden Studentinnen und Studenten wurde die "formierte Gesellschaft" eines Kurt Georg Kiesinger immer mehr vom Staat besetzt, kontrolliert und administriert. Die Notstandsgesetze zeigten einen post-faschistischen Staat der sich noch genug vom Erbe eines Carl Schmitt bewahren wollte, um jederzeit gegen unbotmäßige Jugend und streikende Arbeiterschaft mit allen Mitteln vorgehen zu können. Der Protest gegen diese Verstöße gegen die bürgerlichen Ideale war damit gleichzeitig eine Revolte gegen die Präsenz des Faschismus und sein Personal, das diese Formierungsleistung mit bewerkstelligte.

Adorniten der ersten Stunde radikalisierten diese Haltung. Es entstanden nach dem Scheitern der Revolte Schriften voller Trauer über die vermeintliche Auflösung des Gebrauchswerts(4) bis hin zu Bildern einer restlos subsumierten Gesellschaft eines Stefan Breuers, der Marx und Adorno mit dem reaktionären Systemtheoretiker Luhmann versöhnte, die beiden ersteren zu Systemtheoretikern verdinglichte und Marx ohne den Antagonismus haben wollte.

Das Verdienst des SDS-Theoretikers Hans-Jürgen Krahl bleibt, genau diese bürgerliche Beschränktheit der Kritischen Theorie und ihrer Adepten angegriffen zu haben. Seine Schriften von 1967 bis 1970 sind ein Zeitfenster zwischen Radikalisierung/Überwindung der Kritischen Theorie und Verdrängung der Kritischen Theorie durch den Dogmatismus der ML-Gruppen. Krahl versuchte die Phase der antiautoritären Proteste in eine der “Organisation des Klassenkampfs” zu überführen, ohne in den Leninismus abzugleiten.

Er sah einen dringenden Bedarf, die Kritische Theorie zu überschreiten, da sie die kapitalistische Totalität nicht in ihrer “klassenantagonistischen Dualität” wirklich begreifen konnte. “Das bedeutet, mit der bürgerlichen Tradition des Deutschen Idealismus teilt die Kritische Theorie die Einsicht in den Totalitätsbegriff. Mit der proletarischen Tradition teilt sie die Materialisierung dieses Totalitätsbegriffs im Hinblick auf Warenproduktion und Tauschverkehr. Aber der praktische Klassenstandpunkt, um es einmal so verdinglicht zu sagen, ist nicht theoretisch konstitutiv in die Theorie eingegangen.”(5)

Der Begriff der Klasse ist bei Adorno in der Tat mehr als vage gehalten. Obwohl er die Behauptung einer “nivillierten Mittelstandgesellschaft” (Schelsky) kritisierte und an den Begrifflichkeiten “Kapitalismus” und “Klasse” festhalten wollte, landete Adorno bei einem unbestimmten Begriff von Kapitalismus als spezifischer Produktionsweise und Klassenverhältnis. An einem zentralen Text Adornos zu dieser Frage lässt sich das zeigen: “Reflexionen zur Klassentheorie” von 1942. Interessanterweise wurde dieser Text in einer Zeit geschrieben, in der viele den Klassenkampf als gescheitert ansahen. Trotz des Faschismus will Adorno in diesem Text am Klassenbegriff festhalten, weil “sein Grund, die Teilung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, nicht bloß ungemindert fortbesteht, sondern an Zwang und Festigkeit zunimmt.” Wenige Sätze zuvor liest man: “Der unermessliche Druck der Herrschaft hat die Massen so dissoziiert, dass noch die negative Einheit des Unterdrücktseins zerrissen wird, die im neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse macht. Dafür werden sie unmittelbar beschlagnahmt von der Einheit des Systems, das es ihnen antut. Die Klassenherrschaft schickt sich an, die anonyme, objektive Form der Klasse zu überleben.” Die Gesellschaft der 40er Jahre sei eine “klassenlose Gesellschaft der Autofahrer, Kinobesucher und Volksgenossen”.(6) Das sind zu Beginn der 40er Jahre weitsichtige Anmerkungen zu den veränderten Klassenverhältnissen, durchaus auf einer Höhe mit Gramscis Analysen des “Fordismus”. Aber Adorno kann nichts daraus machen, weil er am Klassenbegriff des Kommunistischen Manifests hängt: die Bourgeoisie “erzeugt” die Arbeiterklasse. Laut Adorno hat sich der Klassenbegriff am “Modell der Bourgeoisie gebildet”, denn diese sei “als anonyme Einheit der Eigentümer von Produktionsmitteln und ihres Anhangs, die Klasse schlechthin."(7) Die Klassenbildungsprozesse, das “making of...” hat erst der englische Sozialhistoriker E.P.Thompson in seinen empirisch-historischen Arbeiten zur Entstehung der Arbeiterklasse in England adäquat auf den Punkt gebracht. Adornos und Horkheimers Bild der vorherrschenden Monopolmacht und des Endes des Liberalismus affiziert auch ihren Klassenbegriff. Adorno meint, daß der “gesellschaftlich-totale Aspekt des Kapitals" dem Proletariat “die Möglichkeit zur Klassenbildung objektiv versperrt.” Denn Adorno hielt den Kapitalismus der 40er Jahre für monopolistisch verfaßt und somit krisenfrei. Der Liberalismus, der Markt und die Zirkulation seien restlos liquidiert. Er folgte darin dem Ökonomen des Frankfurter Instituts Friedrich Pollock. Empirische Untersuchungen, wie die des weniger beachteten Franz Neumann, kamen jedoch zu einem vollkommen anderem Ergebnis: die Zirkulationssphäre und die Marktmechanismen waren keineswegs liquidiert, von Krisenfreiheit konnte keine Rede sein. Mit dem Liberalismus und dem Markt verschwand für Adorno aber auch die Klasse. In dem Maße, wie im Monopolkapitalismus die herrschende Klasse sich in Gangs auflöst, löse sich auch die proletarische Klasse in Gangs auf: “Nach dem Bilde der manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern von Kapital und Arbeit heute verübt wird, ist ... (die Geschichte) die Geschichte von Bandenkämpfen, Gangs und Rackets.” Die ganze Unentschiedenheit Adornos bezüglich des Klassenbegriffs fasst sich in dem Satz zusammen: "In solcher Abschaffung der Klassen kommt die Klassenherrschaft zu sich selber." Obwohl es seiner Analyse widerspricht, will Adorno am Klassenbegriff festhalten. Was rechtfertigt das Festhalten am Klassenbegriff angesichts einer solchen Prognose? Von Klasse soll gesprochen werden, weil nachwievor Herrschaft existiert, lautet Adornos Antwort. Und hier liegt eine weitere Verdrehung vor: Adorno hat nicht die Psychoanalyse und den Marxismus zusammengebracht, sondern die Kritik der politischen Ökonomie in eine allgemeine philosophische Herrschaftskritik verwandelt. Damit verliert sich der kritische Stachel der Marx'schen Methode: die Ware aus dem (Opfer)tausch zu erklären, wie in der Dialektik der Aufklärung, macht die gesamte menschliche Geschichte zu einem Verblendungszusammenhang. Die Dialektik der Aufklärung ist ohnehin ein interessantes Dokument, das das Übergleiten von der leninistischen Marx-Interpretation, die mit den marxorthoxen Begriffen Lenins und Hilferdings operiert (“Monopol”), zu einer allgemein-überhistorischen Herrschaftskritik dokumentiert. Die Ausgabe der “Dialektik der Aufklärung” von 1947 unterscheidet sich nämlich begrifflich an wichtigen Stellen von der Erstveröffentlichung von 1944: Der Begriff ”Kapitalist” wird durch “Unternehmer” ersetzt, Formulierungen wie “die Klassengeschichte hindurch” durch “bis heute”, wo von “Klassengesellschaft” die Rede war steht “Faschismus”, aus “Ausbeutung” wird “Leiden”.(8)

Ein wirklicher Bruch liegt mit diesen semantischen Veränderungen nicht vor. Wenn Adorno gegen die "verlogene Leugnung der Klassen" durch die bürgerliche Soziologie polemisierte, so wollte er nur festgehalten wissen, dass nach wie vor Herrschaft besteht. Die Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise geht dann aber verloren, wie es schließlich in der “Dialektik der Aufklärung” auch geschah. Diese Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise besteht aber in der Reduktion von Arbeit auf “abstrakte Arbeit”, die als Lohnarbeit zu disziplinieren ist und in vertragliche Bahnen gelenkt werden muss, selbst besondere Ware ist und Waren abwirft zum Zweck der Profitmaximierung. Horkheimer und Adorno kritisieren die “Tauschgesellschaft”, doch das erst im Kapitalverhältnis das Tauschverhältnis zu sich selbst kommt, übersehen sie. Vom Tausch müsste nämlich zum Geld und von diesem zum Kapital selbst in der Darstellungsweise vorgedrungen werden, erst dann – auf der Höhe des entwickelten Kapital- und Klassenverhältnisses – werden der spezifische Tausch der Arbeitsprodukte als Waren, der damit zusammenhängende bewußtlose Gesellschaftszusammenhang und die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft erkannt. Dass Adorno und Horkheimer aber Odysseus durch die Herrschaftsgeschichte begleiten, ist nicht verwunderlich: er ist in ihrer Darstellung Grundherr und Bürger zugleich, eine Figur jenseits eines spezifischen Produktionsverhältnisses.

In späteren Schriften zeigt sich Adorno wiederum historischer und klassenkämpferischer (im Gegensatz zu Horkheimer), so schreibt er in dem Aufsatz "Gesellschaft" von 1965: “Auch subjektiv ist das Klassenverhältnis nicht so durchaus beseitigt, wie es der herrschenden Ideologie gefiele. Die jüngste empirische Sozialforschung vermag wesentliche Differenzen von Grundanschauungen der nach gröbsten statistischen Merkmalen als Oberklasse und Unterklasse Bezeichneten herauszuarbeiten. Die minder illusionären, minder »idealistischen« sind die der Unterklasse. Das werfen dieser die happy few als Materialismus vor. Die Arbeiter sehen nach wie vor die Gesellschaft als gespalten nach oben und unten. Bekannt ist, daß der formalen Gleichheit der Bildungschancen keineswegs etwa der Anteil der Arbeiterkinder an der Studentenschaft entspricht. Subjektiv verschleiert, wächst objektiv der Klassenunterschied vermöge der unaufhaltsam fortschreitenden Konzentration des Kapitals an. Real wirkt er in die Existenz der einzelnen Menschen entscheidend hinein; sonst allerdings wäre der Klassenbegriff ein Fetisch.”(9)

Wichtig wurde für die militanten Lesenden 68 die Lektüre der Marxschen Grundrisse und des sogenannten Maschinenfragments, in dem von der Entwicklung eines General Intellects die Rede ist. Sowohl Marcuse, der in der zunehmenden Automation eine tendenzielle Möglichkeit der Befreiung von der Arbeit sehen wollte, als auch der italienische Operaismus stellten auf diese Marxschen Passagen ab ohne die Entwicklung der Produktivkräfte als solche optimistisch abzufeiern.

"Von einer Verdummung des Proletariers, der den eigentlichen Arbeitsprozess nicht mehr begriffe, kann gar keine Rede sein. Die höchstgesteigerte Arbeitsteilung hat zwar den Arbeiter dem zusammengesetzten Endprodukt, wie es dem Handwerker vertraut war, immer ferner gerückt, zugleich aber die einzelnen Arbeitsvorgänge in ihrer Disqualifikation einander immer mehr angenähert, so dass, wer eines kann, virtuell alles kann und das Ganze versteht", urteilt Adorno in "Reflexionen zur Klassentheorie". Marx hatte das schon mal radikaler gefaßt: "Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind."(10) Bei Marx eröffnet sich hier die Möglichkeit der frei verfügbaren Zeit und der Entwicklung eines Reichtumsbegriffs jenseits des Werts, des Reichs der notwendigen Arbeit und der Arbeitszeit. So tritt der Ausbeutungscharakter des Kapitalverhältnisses deutlich zu Tage.

Daran anknüpfend wollte Hans-Jürgen Krahl, “[die] Wissenschaft als Produktivkraft, ... die Veränderung des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Arbeit, etwa im Rahmen der lohnabhängigen Klasse” untersuchen. Damit bezog er sich auf den gestiegenen Bedarf an Technikern und einer ausgebildeten Schicht der wissenschaftlichen Intelligenz für den Produktionsbereich, und gab einen positiven Ausblick: “gerade auf Grund der positivistischen Zerstreuung der Einzelwissenschaften kann geistige Arbeit sich sehr viel eher als ausgebeuteter Produzent erfassen, dem sein wissenschaftliches Produkt als fremde Macht gegenübertritt, und nicht im Grunde genommen als privilegierter Teilnehmer am Kulturprodukt.”11 Doch genau dieser privilegierter Teilnehmer am Kulturprodukt, als der der Bürger des 19. Jahrhunderts fungierte, war für Adorno der Statthalter des Positiven, mit seinem Verschwinden blieb so auch nur noch Resignation: “Dem Künstler, den Adorno als Statthalter des gesamtgesellschaftlichen Subjekts begriff, traute er (..) die authentische Einsicht noch zu, wie auch ihm allein die Formulierung von Hoffnung”, wie mehrere Adorno-SchülerInnen nach seinem Tod in einer Erklärung “Kritische Theorie weiterführen” 1969 schrieben.(12)

Mit der Durchsetzung der Kulturindustrie, die Herrschaft, falsche (Ent-)sublimierung und Tauschlogik gleichermaßen verkörpere, war für Adorno diese Hoffnung endgültig verschwunden. Adorno konnte nicht in den kooperativ und in hohem Maße mit immaterieller Arbeit erstellten Produkten der Kulturindustrie den ideologisch verzerrten Vorschein auf eine befreite Gesellschaft sehen, der doch von der Klassenrealität tagtäglich gebrochen wird. Kulturindustrie ist bei Adorno nur falscher Schein, an dem es nichts zu retten gibt.

Die Verbundenheit der Revolte mit der "Frankfurter Schule" und gleichzeitig die Beschränktheit dieser angesichts der Revolte brachte Johannes Agnoli folgendermaßen auf den Punkt: “Die bürgerliche Gesellschaft möchte gern die unbotmäßig gewordene Jugend in die Schule zurückschicken, die die Unbotmäßigkeit propagierte. Denn die Lehrer, die zur Transzendierung des Bestehenden aufriefen, raten jetzt dringend zur Immanztreue.”(13) Ein vernichtenderes Urteil über den späten Konservativismus der Frankfurter Schule könnte nicht gefällt werden.

Heute geht es den meisten Anhängern der Kritischen Theorie darum, alle Schritte des Transzendieres abzulehnen. “Das Ganze ist das Unwahre”, Adornos meistzitiertes Statement aus der Minima Moralia, wird dann zu einem Bekenntnis, das fast schon eine wohlige Atmosphäre verbreitet. Es zwingt nicht zur Bekämpfung des ganzen Falschen, der kapitalistischen Totalität. "Es gibt unter Linksradikalen eine Spezies von Adornojüngern, die Adorno gerade dadurch entschärfen, dass sie sich seinen Texten bedingungslos unterwerfen. Mit der Rigidität typisch autoritärer Charaktere werden Adornosche Theoreme für sakrosankt erklärt (...) statt der realen Verstrickung wenigstens in Gedanken etwas entgegenzusetzen, suhlt man sich begeistert in der Aussichtslosigkeit der Lage", schrieb Michael Koltan in Hinblick auf die jüngste Generation meist antideutsch inspirierter Pseudo-Adorniten.14

Aber auch ein großer Teil der publizistischen Linken und die Szene der Antideutschen wollen in ihrem regressiven Wahn hinter das zurückgehen, was Ende der 60er Jahre an einem erneuerten Marxismus entwickelt und gleich darauf durch die MLer zerstört wurde. Selbst geistige Kinder dieser ML-Elite, bringen sie nun den Abschied vom Klassenkampf, den elitären Habitus in der Verachtung der Massen, den Geschichtspessimismus in Anschlag. Für ihre politische Entscheidung, die Verhältnisse zu verteidigen, so wie sie sind, wollen sie sich zumindest radikal klingendes theoretisches Rüstzeug holen und mit kritischen Autoritäten versehen. Die antideutschen Adorno-Fans heutzutage betreiben nun selbst, was Adorno 1942 als die “verlogene Leugnung der Klassen” kritisierte. Der bürgerliche Antifaschismus und die Lobpreisung des Individuums ist das einzige, was sie bei der Kritischen Theorie entdecken.

Gerade die Antisemitismus-Theorie in Elemente des Antisemitismus, einem Kapitel in der Dialektik der Aufklärung, wird von ihnen begierig aufgegriffen, wobei das wichtigste verschwiegen oder entstellt wird. Laut Adorno/Horkheimer hat der bürgerliche Antisemitismus einen spezifischen ökonomischen Grund: "die Verkleidung der Herrschaft in Produktion".(15) Der Fabrikant, "der wahre Shylock", kann sich - so schreiben Adorno/Horkheimer in der Tradition der Marxschen Ideologiekritik der Trinitarischen Formel aus dem Dritten Band des Kapital - als Produzent ernennen und den Profit als Unternehmerlohn deklarieren. Er skandalisiert dagegen das Übervorteilen auf dem Markt, die Zinsen, das Finanzkapital, zeigt auf den Juden und schreit: “Haltet den Dieb!” Wer die antisemitischen Schriften des Automobilkapitalisten Henry Ford zur Hand nimmt, findet hierzu eine passende Illustration. Horkheimer und Adorno haben kurz und knapp auf den Punkt gebracht, worum es beim Antisemitismus geht: um die Konstitution einer klassenübergreifenden, nationalen oder rassistischen Gemeinschaft gegen den Klassenkampf.

Die Arbeiterklasse betrachtend kommen sie jedoch zu einer merkwürdigen Ideologiekritik: Aufgrund des Arbeitsvertrags hätten sich die Arbeiter mit Haut und Haaren der Produktion und Ausbeutung ausgeliefert. "Was in Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn sie sehen, was sie dafür kaufen können... Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die andern auf sich. Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein."(16) Derartig argumentierend muss der Arbeiter dem Schein aufsitzen und zum Antisemiten werden. So kann aber nicht die dringliche Frage beantwortet werden, warum tatsächlich viele deutsche Arbeiter in den 30ern die Nazi-Partei wählten. Als überhistorische Theorie ist diese kritische Theorie des Antisemitismus falsch: Gerade die Erfahrung der Ausbeutung machte die Arbeiterschaft weniger anfällig für den Antisemitismus, der Hass auf diejenigen, die den Profit abschöpfen, bezog sich auf den jeweiligen Kapitalisten und nicht unmittelbar auf den "Juden". Diese antikapitalistische Personifizierung des sozialen Ausbeutungsverhältnisses im "Kapitalisten", die die Geschichte der Arbeiterbewegung durchzieht, mag falsch und verkürzt sein, antisemitisch ist sie damit noch nicht. Die Arbeiter der 30er und 40er Jahre haben weder den Lohnzettel geschluckt und erst beim Kaufmann gemurrt, noch ist mit der Unterschrift unter den Arbeitsvertrag der Arbeiter zum willfährigen Bestandteil des Kapitals geworden. Dieser Kurzschluss von Adorno/Horkheimer ist ihrer Nichtbeachtung der Produktion und ihrer Zirkulationsfixiertheit geschuldet. Nach dem Arbeitsvertrag beginnt nämlich erst die Ausbeutung und mit ihr eine Erfahrung, die sich mannigfaltig verarbeiten lässt: als Auflehnung gegen das Fabrikkommando, als Hass auf die Maschinen, auf den Chef, auf die Kollegen, als Identifikation mit dem Aggressor... warum sollte diese Verarbeitung ausgerechnet nur in Form des Antisemitismus passieren?

Diese Fragen lassen sich nur praktisch entscheiden und ihre Beantwortung hängt auch von eigener Praxis ab, um so ärgerlicher, dass Adorno angesichts der mannigfaltigen Schein-Praxis, die die Geschichte durchzieht, in den 60er Jahren von jeder revolutionären Praxis abriet.

Anmerkungen

1) Der folgende Text entstand 2003 im Adorno-Gedenkjahr zu seinem 100. Geburtstag, die Eingangsbemerkungen bezogen sich auf das „offizielle Gedenken“: Adorno hat seinen Schrecken verloren. Zu seinem hundertsten Geburtstag entdeckte das bürgerliche Feuilleton wieder diesen Kritiker der Moderne. Wenn sein Name irgendwo überlebt hat, dann in Musikkritiken und Zeitdiagnosen der Kulturseiten. Gerne werden seine Betrachtungen zur Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung zitiert, einer philosophischen Schrift, die im Angesicht des Faschismus geschrieben eine radikale Herrschaftskritik formulierte. Das Feuilleton reißt das in der Regel aus dem Kontext und aus dem historischen Zusammenhang. Die Passagen, in denen Adorno trotz der erdrückenden 40er Jahre die Geschichtlichkeit des Kapitalismus herausstellt und die Möglichkeit seiner Überwindung betont, werden selten zitiert. Adornos Schriften sind zum Steinbruch für den feuilletonistischem Kulturpessimismus geworden.

Um seinen 100. Geburtstag war Adorno extrem in, und droht genauso schnell wieder out zu sein. Verschwunden ist eine neo-reaktionäre Kritik an Adorno wie die eines gewissen Rolf Kosiek, der noch 2001 in seinem Buch "Die Frankfurter Schule und ihre zersetzenden Auswirkungen" schreiben konnte: "Das Hauptziel der Frankfurter Schule [um Adorno und Horkheimer] war auch die der Umerziehung: Zerstörung der deutschen geistigen Tradition, Vernichtung von Volks- und Vaterlandsbewusstsein sowie Auflösung der Volksgemeinschaft, Wiedereinführung des Marxismus und des Klassenkampfes, Abbau aller Autoritäten, Herabsetzung der Familie, Sexualisierung des Lebens, Aufhebung des abendländischen Schönheits- und Kunstbegriffs." Zu seinem hundertsten Geburtstag wird von den Bürgern die Leistung der Kritischen Theorie zur "Zivilisierung" der deutschen Gesellschaft gewürdigt. Damit wird sie zum großen demokratischen Modernisierungsschub gegen den Muff von 1000 Jahren entsorgt. Nach Romantik, völkischem Denken und Historismus hätte die Kritische Theorie mit einer "intellektuellen Neugründung der Bundesrepublik" diese in den Westen einzugemeinden geholfen.

FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher läßt Adorno in einem Kommentar zum 11. September nur noch als großen Ästheten gelten. Als Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft soll man ihn vergessen: "politischer Dilettantismus", schreibt Schirrmacher. "Adorno ist das, was seine Adepten ungerne hören, Kunst." Aber Adorno war nicht nur Kultur- und Kunstkritiker, sondern auch Gesellschaftskritiker, der nicht müde wurde, in der Kultur selbst das Klassenverhältnis aufzuspüren und den "Verblendungszusammenhang", in den Kunst und Kultur verstrickt sind, zu kritisieren. Adorno war Teil des sogenannten westlichen Marxismus. Dieser war in kritischer Auseinandersetzung mit der Sowjetunion in den 20er Jahren entstanden und hatte für die revolutionäre Bewegung nachhaltige Folgen. Er war eine Provokation und Herausforderung für den orthodoxen Marxismus und wurde sehr viel später, in den 60er Jahren, noch einmal neu entdeckt, um sämtliche Erscheinungen des Kapitalismus kritisch zu durchdringen und anzugreifen.

2) Hans Jürgen Krahl, Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos, in: Konstitution und Klassenkampf, (KuK) Frankfurt am Main 1971, S.285

3) Krahl, Kritische Theorie und Praxis, in: KuK, S.297

4) So eine zentrale These in Wolfgang Pohrts Dissertation von 1976: Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Berlin 1995

5) Krahl, Kritische Theorie und Praxis, in: KuK, S. 289

6) Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, in: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik (GuK), Frankfurt am Main 1975, S. 11

7) Adorno, Reflexionen, in: GuK, S.12

8) Willem van Reijen, Jan Bransen, Das Verschwinden der Klassengeschichte in der ‚Dialektik der Aufklärung’. Ein Kommentar zu den Textvarianten der Buchausgabe von 1947 gegenüber der Erstveröffentlichung von 1944, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 5. Frankfurt am Main 1987, S. 453ff.

9) Theodor W. Adorno , Soziologische Schriften I: Gesellschaft (I). in: Adorno, Gesammelte Schriften 8, S. 15

10) Karl Marx: Grundrisse, MEW Bd. 42, S. 602

11) Krahl, Kritische Theorie und Praxis, in: KuK, S.296

12) „Kritische Theorie weiterführen: Nach dem Tode Theodor W. Adornos“. Eine Erklärung seiner Schüler in Frankfurt, FR Nr.191, 20.8.1969

13) Johannes Agnoli, Die Schnelligkeit des realen Prozesses. Vorläufige Skizze eines Versuchs über Adornos historisches Ende, in: Agnoli, 1968 und die Folgen, Freiburg i.Br 1998, S.58f.

14) Michael T. Koltan, Adorno gegen seine Liebhaber verteidigen, in: jour-fixe-initiative berlin (Hg.) Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen, Berlin/Hamburg 1999, S. 15

15) Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Elemente des Antisemitismus in: Dialektik der Aufklärung (DdA), Frankfurt am Main 1969, S.182

16) Horkheimer, Adorno, DdA, S.183

Editorische Hinweise

Den Aufsatz erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.