Ägypten
Nach dem Referendum, vor der Präsidentschaftswahl – auf den neuen „starken Mann“ zugeschnitten?

von Bernard Schmid

03-2014

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Der zum „Marschall“ ernannte prominenteste Repräsentant der Militärmachthaber, ’Abdelfattah Al-Sitti, glaubte bis vor kurzem, er könnte sich in aller Ruhe – wie in einer Sänfte – in den Präsidentensessel tragen lassen. Besonders, nachdem die amtierende Militärregierung das Verfassungsreferendum vom 14. und 15. Januar 14 laut eigener Darstellung haushoch gewann. Doch da beginnen die Dinge sich in den letzten Tagen zu verkomplizieren: Eine Welle von Streiks rollt derzeit über Ägypten...

Kommt nach der Kaiserin Sissi nun der Imperator Al-Sissi? Solche ironischen Wortspiele werden nun in der internationalen Presse des Öfteren an die ägyptische Politik gerichtet. Ihr neuer starker Mann ist der frühere General – und seit dem 27. Januar 14 nun zum Marschall beförderte – 59jährige Berufsmilitär ’Abdelfattah Al-Sissi. Seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl, die voraussichtlich im April dieses Jahres stattfinden soll, ist, gelinde ausgedrückt, ein offenes Geheimnis. Auch wenn er entsprechende Äußerungen im Interview mit einer kuwaitischen Zeitung – Al-Siyassa („Die Politik“) vom 06. Februar 14 – kurz danach dementiert hat, weil er seine Ankündigung „dem ägyptischen Volk vorbehalten“ wolle.

Am 27. Januar 2014 versammelte sich die ägyptische Armeeführung und erteilte Al-Sissi das „Mandat“ dazu, sich bei der Präsidentschaftswahl zu bewerben. Am Vortag hatte der amtierende Übergangspräsident ’Adly Mansour, ein in Wirklichkeit weitgehend machtloser Strohmann der Militärs, einen anderen wichtigen Beschluss bekanntgegeben. Der frühere Richter und Interimspräsident verkündete am 26. Januar, der geplante Ablauf der kommenden Wahlgänge werde umgedreht: Die Direktwahl des künftigen Staatschefs wird vor die Parlamentswahlen gezogen, die erst danach stattfinden sollen. Dies stellt die Weichen für eine betont auf den zukünftigen „starken Mann“ zugeschnittene Präsidialherrschaft. Am Ausgang der Wahl bestehenden relativ wenige Zweifel, auch wenn der Linksnationalist und Nasserist (sowie Kandidat von 2012) Hamdine Sabbahi inzwischen ebenfalls seine Bewerbung ankündigte.

Den Weg für diese Schritte der Machthaber hatten die Ergebnisse der Volksabstimmung vom 14. und 15. Januar 2014 geöffnet. Bei dem Referendum war über die Vorlage für eine künftige Verfassung, welche den im Jahr 2012 von der damaligen Muslimbrüder-Regierung ausgearbeiteten Verfassungstext ersetzen soll, abgestimmt worden. Auf dem Spiel stand für die seit Juli 2013 – und der Absetzung von Präsident Mohammed Mursi und seiner Regierung – regierenden Militärs dabei vor allem, dass sie um jeden Preis ein höheres, besseres Ergebnis vorweisen wollten als die Muslimbrüder ein gutes Jahr zuvor. Deren Präsident Mursi hatte damals den von den Islamisten vorgelegten Verfassungstext ebenfalls per Volksabstimmung absegnen lassen. Diese hatte am 15. und 22. Dezember 2012 stattgefunden und war von heftigen Protesten und Auseinandersetzungen begleitet. Am Ende lautete das offizielle Ergebnis damals: 63,8 Prozent Zustimmung zum Verfassungsentwurf der Muslimbrüder-Regierung, bei einer Stimmbeteiligung von 32,9 Prozent.

Dieses Mal ging es für die Militärs also darum, das damalige Resultat zu überflügeln. Das diesjährige Referendum wurde dementsprechend durch eine vorausgehende intensive Propagandaschlacht von offizieller Seite eingeleitet. Und ihre Wünsche wurden erfüllt. Laut offiziellen Angaben stimmten 98,1 Prozent der am Referendum Teilnehmenden mit „Ja“ zum neuen Verfassungstext – was sogar wahrscheinlich zutreffen könnte, da niemand zum „Nein“-Votieren aufrief, sondern die GegnerInnen ausschließlich den Stimmboykott für eine sinnvolle Antwort hielten. Die Stimmbeteiligung betrug, wiederum laut offiziellen Angaben, dieses Mal 38,6 Prozent. Damit läge sie höher als beim Referendum der Muslimbrüder-Regierung, allerdings kann in dieser Höhe sicherlich nicht von einem Triumph gesprochen werden. Junge ÄgypterInnen und Menschen aus den sozialen Unterklassen enthielten sich überdurchschnittlich stark der Stimme. Vor Bekanntgebe der offiziellen Zahlen hatten die in die Opposition verbannten Muslimbrüder von einer Beteiligung am Referendum in Höhe von „10 bis 15 Prozent“ gesprochen. Unabhängige NGOs hingegen von „rund 37 Prozent“, was ja auch näherungsweise dem amtlichen Ergebnis spricht.

Es ist sogar wahrscheinlich, dass eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden den Verfassungstext „durchwinken“ wollte, und dass ein starkes Drittel der Bevölkerung teilgenommen hat. Im Vorfeld hatten nur sehr wenige Stimmen sich enthusiastisch zustimmend über den Inhalt des Verfassungstexts geäußert: Die allermeisten Ägypter/innen dürften der Überzeugung gewesen sein, dass der Text kein guter sei, dass es aber auch keinen besseren geben werde und dass der „Parteienstreit“ darum endlich vorübergehen solle. Um sich dann wichtigeren Dingen, wie der desolaten ökonomischen Lage, zuwenden zu können. Bei dem positiven Ausgang des Referendums aus Sicht der Militärs handelt es sich allerdings weniger um einen Vertrauensvorschuss für dieselben. Sondern vor allem eine Absage an die nun wieder oppositionellen Muslimbrüder und andere Islamistenfraktionen, die Opposition oder „Widerstand“ üben möchten. (Während ein Teil der auf mehrere Parteien aufgesplitterten Salafisten allerdings für die Annahme des Regierungsentwurfs eintrat; besonders auch, weil Saudi-Arabien seit dem Sturz Mohammed Mursis deutlich die Militärregierung und nicht die Muslimbrüder unterstützt.)


Die Muslimbrüder, die seit Juli/August 2013 permanent den Widerspruch und Widerstand gegen die neuen Machthaber anzustacheln versuchen, ziehen sich den Hass bedeutender Bevölkerungsteile auf sich. Dabei kommen mehrere Ursachen zusammen, neben dem Einfluss der mit nationalistischer Demagogie – welche die Muslimbrüder mitunter als „Agenten der USA und des Zionismus“ hinstellt – vermengten Anti-Terrorismus-Rhetorik der regierenden Militärs. Zum Einen haben die Muslimbrüder sich in ihrer nur einjährigen Regierungszeit viele Feinde gemacht: Ihre Vertreter handelt oft auf politisch irrationale Weise, stellten ihre Ideologie allzu sichtbar über Sachentscheidungen, versuchten in Kultur- und Alltagsleben der ÄgypterInnen einzugreifen. Im Nachhinein erscheint da der Autoritarismus der regierenden Militärs, die sich fest an die Staatsmacht klammern, aber die Menschen in ihrem Privatleben tendenziell in Ruhe lassen, da Vielen als „kleineres Übel“. Hinzu kommt eine wirklich abgrundtiefe Enttäuschung. Nach achtzigjähriger Zeit in der Opposition (und deswegen scheinbar „unverbraucht“) und mit vermeintlich „göttlicher Hilfe“ ausgestattet, hinterlie
ßen die Muslimbrüder in ihrer relativ kurzen Regierungszeit jämmerliche Resultate. Die von manchen ÄgypterInnen zuvor in sie gesetzten Erwartungen waren teilweise so hoch, dass ihr Fall nur schmerzlich tief ausfallen konnte.

Am 25. Januar d.J., dem dritten Jahrestag des Anfangs der Massenproteste im Januar und Februar 2011, die zum Abgang von Ex-Präsident Hosni Mubarak führten, kam es auf den Plätzen im Zentrum von Kairo zu heftigen Zusammenstößen. Diese forderten 49 Tote. Dieses Mal besetzten allerdings nicht die Oppositions-, sondern die Regierungsanhänger den inzwischen berühmten Tahrir-Platz. Die Repression gegen die in der Nähe protestierenden Muslimbrüder führten nicht nur Polizei und Militärs, sondern auch an ihrer Seite agierende bewaffnete Zivilistenmobs durch. Die Revolutionäre von 2011, oder jedenfalls ihre progressiven Fraktionen, drohen nach wie vor zwischen den beiden Blöcken zerrieben zu werden. Auch wenn sie sich etwa mit der „Front des revolutionären Weges“, die im September 2013 gegründet wurde, intensiv um die Herausbildung einer dritten Kraft bemühen.

Heftige potenzielle Sprengkraft beweist allerdings nach wie vor die soziale Frage, wie nicht zuletzt der Streik von 12.000 Textilarbeiter/inne/n am 09. Februar 14 in der riesigen (staatlichen) Textilfabrik von Mahalla al-Kubra und an einigen anderen Orten im Nildelta zeigt. Diese forderten die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, nachdem das Regime ihn im September 2013 für die öffentlich Bediensteten von zuvor umgerechnet 80 auf 150 Euro angehoben hatte, um „die Wogen zu glätten“ und sich einen vorläufigen sozialen Frieden zu erkaufen. Dafür und für die Einbindung von Widerstandspotenzialen sollte auch die Persönlichkeit des amtierenden Arbeitsministers Kamal Abu ’Aita sorgen, der ursprünglich aus der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung (welche eine wichtige Rolle beim Sturz Mubaraks und seiner Vorbereitung spielte) kam. Im Sommer 2013 erzielte er noch einige Zugeständnisse zugunsten der abhängig Beschäftigten. Anfang 2014 ist er jedoch mit der Ausarbeitung einer neuen Arbeitsgesetzgebung beschäftigt, die laut Aussagen der prominenten unabhängigen Gewerkschafterin Fatma Ramadan „schlimmer als die alte“ ausfällt. Der 61jährige Minister und frühere unabhängige Gewerkschafter erklärte bezüglich der jüngsten Streiks: „Ich bin kein Anhänger des Streikens bis zum Jüngsten Gericht, und ich bin auch kein Anhänger der Idee vom schöpferischen Chaos.“

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Stand des Artikels: Ende Februar 2014 - Eine aktuelle Fortsetzung, unter besonderer Berücksichtigung der augenblicklich anhaltenden Streikwelle sowie der Regierungsumbildung nach dem Rücktritt von Ex-Premierminister Beblawi (vom 24. Februar 14), folgt in Kürze.