Oder: Wie die
Belegschaft einer linksliberalen, gleichwohl einstmals
maoistischen, Tageszeitung den Klassenkampf (zuerst den „von
oben“) wieder entdeckt...
Ceci n’est pas une pipe – „Dies ist keine Pfeife“ –
übertitelte der surrealistische Maler René Magritte dereinst ein
Gemälde, auf dem ein ebensolcher Gegenstand zu sehen war. Der
Künstler spielte mit dem Gedanken, dass Bilder zu täuschen
vermögen. Nous sommes un journal, „Wir sind eine Zeitung“,
übertitelt die französische Tageszeitung Libération seit
der zweiten Februarwoche dieses Jahres eine ständige Rubrik. Es
ging und geht allerdings nicht darum, dass die KäuferInnen sonst
drohten, sich täuschen zu lassen und das Produkt vielleicht mit
einem Schuhkarton oder einer Kaffeetasse zu verwechseln.
Die
Schlagzeile prangte unter dem berühmten Rautensymbol der
Zeitung, die 1973 zunächst als Produkt der linken
Post-68er-Bewegung – genauer, ihres damaligen maoistischen
Flügels – gegründet worden war. Ihr Herausgeber war in den
Anfangsjahren, zumindest formell, der Philosophen Jean-Paul
Sartre. Libération war damals von möglicher
staatlicher Repression bedroht, nachdem die Zeitung aus der
Agence de presse Libération entstanden war: einer
radikalen Presseagentur, deren erste Aktivität darin bestanden
hatte, im April 1972 quasi-live über die kurzzeitige Entführung
eines Renault-Managers durch französische Maoisten zu berichten.
Die Aktivisten hatten die Journalisten, die derselben
Organisation – La Gauche prolétarienne (GP) - nahe standen,
ständig über die neueste Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
Sartre war zuvor presserechtlich Verantwortlicher bei der
GP-Zeitung Le Cause du peuple („Sache des Volkes“)
gewesen, hatte aber ihre grausamsten Verirrungen deutlich
kritisiert – besonders, als das Maoistenorgan 1972 eine Kampagne
für Lynchjustiz gegen einen Notar, der eines Sexualverbrechens
beschuldigt wurde, durchführte und dabei alle vormaligen linken
und liberalen Verbündeten verlor. Bei der neuen Tageszeitung
Libération, die als breitere und offenere
Bündniszeitung angelegt war, übernahm der existenzialistische
Philosoph diese Funktion, auch wenn er kaum real in die
Zeitungsproduktion eingriff oder Stellung zu ihr nahm. Der
Neugründung auf dem Zeitungsmarkt verlieh Sartre damals das
Motto: „Damit das kleine Volk das Wort ergreift, und es
behält.“
Dies alles ist lange her. Libération ist längst
brav geworden. Seit einer mehrwöchigen Einstellung im Frühjahr
1981 und einem Relaunch unmittelbar nach der Wahl des vorgeblich
sozialistischen Staatspräsident François Mitterrand steht sie
nun seit Jahrzehnten der Sozialdemokratie nahe. Anzeigenkunden
traten erstmals 1982 mit zahlender Werbung in die Zeitung ein,
die Abschaffung des früher einmal geltenden Einheitslohns
erfolgte um dieselbe Zeit. Begleitet wurde das Ganze, wie bei
manchen früheren Achtundsechzigern üblich, durch die Behauptung,
man sei sich selbst vollkommen treu geblieben, nur die Welt
drumherum habe sich um einen gedreht. Serge July, bis zu seinem
durch Konflikte erzwungenen Abgang im Jahr 2006 langjähriger
Herausgeber der Zeitung – und eine der Figuren, die in Guy
Hocquenghems Streitschrift „Offener Brief an jene, die vom
Maokragen zum Rotary-Club übergingen“ (Albin Michel, 1986)
portraitiert wurden - brachte es mit seiner legendären
Unverfrorenheit auf den Nenner. Glänzend war seine Formulierung
dazu: „Es ist nicht ,Libération‘, die sich verändert hat,
sondern die Werbung. Die Werbung ist zu Kunst geworden.“
Der
Inhalt von Libération zeichnet sich seit einigen
Jahren noch durch mitunter gute Reportagen aus – die
hauptsächliche Stärke der Zeitung liegt in ihnen -, aber nur
noch selten durch originelle Analysen, und seit langem nicht
mehr durch irgendeine politische Radikalität.
Dennoch sehen die Zeitungsmacherinnen und –macher auch heute die
Existenz ihres Projekts bedroht, und zwar einerseits von
ebenjenen Aktionären, die man vor einigen Jahren rief. Auf der
anderen Seite ist Libération vom Rückgang seiner
Verkaufserlöse bedroht. Wie andere Medien des Landes auch leidet
die Zeitung unter der Konkurrenz von Gratispresse, Internet und
wachsendem politischem Desinteresse. Aber für Libération
kommen spezifische Faktoren hinzu. In den Jahren 2010, 2011 und
2012 fuhr das Blatt noch Gewinne ein, denn damals war es unter
Präsident Nicolas Sarkozy ein Oppositionsorgan und als solches
geschätzt. Die Wahlkämpfe des Frühjahrs 2012 befeuerten das
Publikumsinteresse zusätzlich. Das Ende der Wahlkämpfe, vor
allem aber die absolut ernüchternde und desillusionierende
Bilanz der seitdem amtierenden Regierung aus Sozialdemokraten
und Grünen – auch wenn Libération deren
Wirtschaftspolitik mintunter scharf kritisiert und am 10.
September 13 titelte: „Hollande, der Präsident der
Unternehmen“ -, ließen das Interesse der potenziellen
Leserschaft einknicken. 2013 wurde zum Verlustjahr.
Seit längerem kündigte sich an, dass die Hauptaktionäre der
Zeitung demzufolge auf einen harten Sparkurs drängen. Zunächst
wurden den RedakteuerInnen u.a. ein Lohnverzicht – in Höhe bis
zu 15 % -, Frühpensionen und Übergänge zu Teilzeitarbeit „auf
freiwilliger Basis“ nahe gelegt. Am Donnerstag, den 06. Februar
14 streikte die Belegschaft dagegen, die Freitagsausgabe
erschien nicht. Am selben Tag (07. Februar) fanden zwei
Verhandlungsrunden zwischen Personal- und Aktionärsvertretern
statt, in ruhiger Atmosphäre, wie verlautbarte. Um 17 Uhr fiel
dann jedoch die Nachricht, die wie von vielen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern als Dolchstoß erlebt wurde: der offizielle
„Plan der Aktionäre“ für „die Zukunft von Libération“.
Ihn
charakterisieren die JournalistInnen der Zeitung als „das
Vorhaben, Libération zu verkaufen, ohne
Libération zu machen“. Das Vorhaben dreht sich laut
Wortwahl der Aktionäre darum, Libération zu „einem
sozialen Netzwerk“ zu machen. Dies bedeutet konkret, dass das
bisherige Redaktionsgebäude von 4.500 m2 in der Pariser rue
Béranger in ein „Café Flore des 21. Jahrhunderts“ umgewandelt
werden solle – das Café Flore im Nobelstadtteil
Saint-Germain-des-Près, das noch heute existiert, war in den
1950er und 60er Jahren einmal ein Intellektuellentreffpunkt.
Unter dem roten Rautensymbol von Libération sollen dort „ein
Fernsehstudio, eine Radiostation, ein Digital-Newsroom, ein
Restaurant, ein Bar und eine Brutstätte für
Start-up-Unternehmen“ einziehen.
Prosaischer ausgedrückt: Die Redaktion soll aus ihren bisherigen
Arbeitsstätten verdrängt werden, die Räume sollen untervermietet
und der Name Libération soll dabei als
Attraktivitätsmerkmal vermarktet werden – aber nicht mehr in
erster Linie für eine Zeitung und für einen Informationsauftrag
stehen. Die Aktionäre nennen es monétiser
(monetisieren), was aber, zieht man die leicht poetische
Ausdrucksform ab, nichts anderes bedeutet als „mit dem Namen
Geld machen“. Der Rest ist nichts als schmückende Lyrik, etwa
die Rede davon, das geplante neue Geschäftszentrum solle „eine
Synthese aus den beiden größten gesellschaftlichen Revolutionen
der modernen Geschichte“ darstellen, nämlich aus der
Nach-68er–Bewegung und „der digitalen Revolution“ (sic).
Die
Redaktion zeigte sich geschockt und widmete ihrer Schreckversion
am darauffolgenden Wochenende (08. und 09. Februar 14) den Titel
und fünf Zeitungsseiten, unter der Überschrift: „Die schwarzen
Tage einer Tageszeitung“. Am selben Tag wurde durch ein
Börsenradio – BFM Business – ein E-Mail bekannt, das der
Hauptaktionär Bruno Ledoux am Freitag früh an die anderen
Investoren der Zeitung sandte. Darin heißt es in barschem
Tonfall: „Ich will all diese engstirnigen Geister als
Spießer dastehen lassen, ihnen zuvorkommen und Klartext reden,
auch was das Vorhaben für das Gebäude betrifft.“ Und
dabei will der Bauunternehmer, Kunstmäzen und Abenteurer Ledoux
„die Franzosen, die für diese Typen blechen, zu Zeugen
machen“. Es handelt sich um eine Anspielung auf die
staatliche Förderung für die Printpresse, u.a. in Gestalt von
vergünstigten Posttarifen und einer erheblich verringerten
Mehrwertsteuer.
Dieses System existiert bereits seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs und dient hauptsächlich dazu, den Meinungspluralismus
aufrecht zu erhalten und einen selbige bedrohenden Presseeintopf
zu verhindern. Allerdings ist die konkrete Funktionsweise dieses
Systems fragwürdig, da die genaue Höhe der Beihilfen sich nach
der Auflage richtet – und die Zeitungen mit der stärksten
Verbreitung, die oftmals die geringsten Probleme aufweisen, also
die größten Summen beziehen. In absoluter Höhe gemessen,
erhalten folgerichtig Le Monde und Le Figaro
die stärksten Beihilfen, als überregionale Zeitungen mit den
höchsten Auflagen und den wenigsten Geldschwierigkeiten. Bezogen
auf das einzelne Exemplar erhält allerdings die KP-nahe
Tageszeitung L’Humanité die stärksten
Hilfen, und sie kann auch nur dank deren Existenz überleben.
Libération liegt an sechster Stelle, misst man die
Beihilfen in absoluten Zahlen; und an neunter Stelle, gemessen
an ihrer Verbreitung.
Am
Sonntag, den 09.02.14 lag ein erneuter Streik der Belegschaft
von Libération in der Luft. Doch dann entschieden
sich die MitarbeiterInnen dagegen, um nicht ihrer eigenen
Zeitung zu schaden. Stattdessen widmeten sie das Darstellung
ihrer Sicht der Ereignisse am Montag erneut zwei Zeitungsseiten,
ebenso wie an allen folgenden Wochentagen. Darin erinnern sie
daran, dass der zu dem Zeitpunkt noch amtierende
Zeitungsdirektor Nicolas Demorand – sein Rücktritt war im
November 2013 bereits durch ein Votum von 89,9 % des Personals
gefordert worden – schon im Herbst 2012 von der Umwandlung der
Obergeschosse des Zeitungsgebäude in einen Ort für schicke (und
teure) „Premium-Ereignisse“ fantasiert hatte. Also noch vor dem
letzten Jahr, in dem Libération rote Zahlen
schrieb. Die Geschäftsidee resultiert also nicht aus dem
Einbruch der Verkaufszahlen, letztere dient aber als gute
Gelegenheit für ihre Durchsetzung. – Demorand erklärte am
Donnerstag, den 13. Februar seinen Rücktritt. Woraufhin die
Redaktion am Freitag, den 14. Februar titelte: „Demorand ist
weg, der Kampf geht weiter!“
Die
Redaktion war unterdessen vor allem über eine andere Nachricht
schockiert. Am selben Freitag, den 14.02.14 publizierte sie
(zuvor durch die Internetzeitung Médiapart
aufgedeckte) Informationen, die den Blick auf andere als die
bislang bekannten Hintergründe freigeben: Bruno Ledoux,
Hauptaktionär der Zeitung, ist Eigentümer des Gebäudes über
mehrere Kapitalgesellschaften, die in Steuerparadiesen in der
Karibik angesiedelt sind. Der französische Fiskus ist
misstrauisch geworden und fordert nun Steuernachzahlungen in
Höhe von 40 Millionen Euro von ihm. Hier liegt wohl das
Hauptmotiv für seine aktuellen Bestrebungen...
Seit einiger Zeit werden Aktionäre, und zwar die der eigenen
Zeitung, auf durch die Redaktion von Libération
gestalteten Seiten in ganz altem Stil karikiert. Also mit dicker
Zigarre, Zylinder und mit sichtbarer Überheblichkeit, Arroganz
und Selbstzufriedenheit. In einer Karikatur kehrt eine solche
Aktionärsgestalt Figuren, die wohl die Angestellten verkörpern,
mit einem Pusthauch vom Rautensymbol der Tageszeitung herunter
und in den Mülleimer. Sollten
die Redakteurinnen und Redakteure nun
plötzlich den Klassenkampf (und sei es in einer Vorstellung
„alter Schule“) wieder entdecken?
Editorische Hinweise
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Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe
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