Inspiriert vom Geist der Emigrierten
Solidarität mit den Kindern der Verfolgten des Naziregimes

von Antonin Dick

03-2015

trend
onlinezeitung


Es gibt Augenblicke ohne Zukunft, die sehr verheißungsvoll sind.
Die die verheißungsvollsten sind. Die ihrem Wesen nach schon eher
Orte sind. Aus ihnen leben wir.

Ilse Aichinger

Hier saßen wir, Karl-Heinz Schubert, Redakteur der linksgerichteten Internet-Zeitung TREND und ich, ein politisch aktives Kind von Verfolgten des Naziregimes, im Frühjahr 2014 in der Cafeteria der Stadtbezirksbibliothek im ehemaligen Rathaus von Berlin-Steglitz, gebeugt über einen Entwurf zur Anerkennung und Entschädigung für die Kinder von Naziverfolgten, den Alice M. Schloesser und ich, zwei Kinder des Exils, erarbeitet und dann der Redaktion zur Abstimmung der Veröffentlichung vorgelegt hatten.

Gar nicht weit von hier, vielleicht eine halbe Stunde Fußweg, in der Wilhelmshöher Straße, traf sich vor etwas mehr als hundert Jahren jeden Mittwoch im Atelier des Malers und Graphikers Ludwig Meidner eine Schar junger Intellektueller. Es waren allesamt Fragende, Himmelsstürmer, unangepasste Schriftsteller, Dichter, Maler und Graphiker, die den Sturz der apologetischen Kunst, den Sturz der apologetischen Sprache und Kritik sowie den Sturz des apologetischen Gesellschaftsbildes geistig vorbereiteten. Jakob van Hoddis gehörte dazu, Alfred Wolfenstein, Paul Zech, Kurt Hiller, René Schickele, Kurt Pinthus, Erwin Loewenson, Raoul Hausmann und viele andere. Letzterer wohnte und arbeitete übrigens ein paar hundert Meter von hier entfernt, in der Zimmermannstraße, mit zwei Frauen, Dadaist im lässigen Jugendstilmilieu. (1) Und ganz in der Nähe, kaum dass man die Bibliothek verlässt, steht man schon auf dem Hermann-Ehlers-Platz, einem ehemaligen Zentrum überschäumenden jüdischen Lebens, das wir uns heute überhaupt nicht vorstellen können. Es gab eine Synagoge zu Fuße dieser jüdischen Piazza, ein wenig versteckt, weiter unten, in einer ruhigen Gegend, Düppelstraße 41. Der großzügige und aufklärerisch denkende Mittelständler Moses Wolfenstein hatte sie gegründet. Bis 1933 war die jüdische Gemeinschaft von Steglitz auf 7000 Angehörige angewachsen. Dass die Synagoge 1938 von Naziflammen verschont blieb, verdankt sie nur ihrer direkten Nachbarschaft zu einer Tischlerei und einem Möbellager. So fiel sie einer Plünderung ohne Brand zum Opfer. Augenzeugen berichteten, dass nicht nur SA und SS plünderten, sondern in deren Schatten auch die Wohlanständigen. Die Familie Wolfenstein entkam im letzten Moment dem judenmordenden Regime durch Emigration in die USA. Die geretteten Thora-Rollen nahmen sie mit, sie dienen heute noch jüdischen Gemeinden auf dem amerikanischen Kontinent sowie in Israel. Die Synagoge sank im Bombenkrieg in Trümmern.

Ludwig Meidner emigrierte nach London, Alfred Wolfenstein nach Prag, dann nach Frankreich, Paul Zech nach Wien, dann nach Südamerika, Kurt Hiller nach Prag, dann nach London, René Schickele nach Südfrankreich, Kurt Pinthus nach den USA, Erwin Loewenson nach Paris, dann nach Palästina, Raoul Hausmann war quer durch halb Europa ständig auf der Flucht vor den Nazis, Jakob van Hoddis floh bereits kurz vor Entfesselung des Ersten Weltkriegs nach Paris, kehrte jedoch unglücklicherweise wieder zurück und geriet später ins tödliche Räderwerk der Nazis im besetzten Polen – als expressionistischer Dichter, als zwangspsychiatrisierter Patient und als Jude.

Der Redakteur und ich trafen uns mehrmals in der Bibliothek. Es war alles andere als ein einfacher Arbeitsprozess für mich. Ich bin befangen – Kind des Holocaust, Kind des Exils und Kind des Widerstands. Der grenzenlose Respekt vor dem Leben meiner Eltern, die einen hohen menschlichen Preis für ihren politischen Einsatz im internationalen Widerstand gegen die Nazis gezahlt haben, lässt mich nie frei reden. Und auch meine Geschichte als mittelbares Opfer des Faschismus nicht. Wie eingesponnen in die Schatten der Geschichte lebe ich. Deswegen hebt auch die Einleitung zur Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten mit den dichterischen Worten an: „Es hat kaum einen beruhigenden Klang in unserem Leben gegeben. Wir sind wie Schattenkinder.“ Mehrfach weinte ich während des allmählichen Findens der Worte für eine solche Tiefenauslotung meiner spezifischen Situation, die auch vom Leser nachvollzogen werden sollte. Kein Mensch, ich eingeschlossen, könnte erklären, wie das geschehen kann, siebzig Jahre danach. Und auch jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe, kämpfe ich mit den Tränen. Ich lausche der ergreifenden „Hebräischen Melodie“, einer schwermütigen Weise für Violine und Klavier von Joseph Achron, die am Abend des internationalen Gedenktages für die Opfer des nationalsozialistischen Terrorsystems in der Berliner Philharmonie mit der unergründlichen Schwermut eines Kindes erklang.

Als ich dem Redakteur den ersten Entwurf unserer Entschädigungsinitiative vorlegte, überraschte er mich mit dem Ansinnen, den gesamten Textkörper des Entwurfes behutsam noch einmal auseinanderzunehmen und ebenso behutsam wieder zusammenzusetzen. Ich war erstaunt, hier und da sogar misstrauisch. Aber wie ich schnell begriff, war seine Perspektive die der Verantwortung der deutschen Gesellschaft für die Kinder der Naziverfolgten, nicht umgekehrt, was Vertrauen schuf. Ich erlebte uneingeschränkte Solidarität mit der Generation von Naziverfolgten. Und wenn ich ganz offen sein soll, begriff ich erst durch sein beherztes Eingreifen unseren schier verlorenen Posten, auf dem wir, die Nachkommen der Verfolgten des Naziregimes, stehen, irgendwie im Schatten, geistig wie materiell, die uns die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften wohl oder übel aufgezwungen hatten. Kraft behutsamer Intervention des Redakteurs wurde mir regelrecht der Schleier weggezogen, mit dem ich bisher immer wieder, gegen meine eigenen Interessen, geneigt war, verstehend und idealisierend zurückzuschauen. Wir haben es halt über Jahrzehnte gelernt zurückzustehen. Und wer dagegen aufstand, tat dies obsessiv, landete nicht selten in der Psychiatrie, in Drogen, im Alkohol, in Entwicklungsverweigerung, halsbrecherischer Flucht oder im Suizid. Ein besonders tragisches Schicksal verkörpern die drei Söhne des jüdischen England-Emigranten Horst Brasch, der später, in der DDR, hohe Staatsfunktionen innehatte, die alle drei vor ihrer Zeit von uns gingen. Das war sprechend. „Die Söhne sterben vor ihren Vätern“ heißt der Roman von Thomas Brasch. Aber auch sprechend in Bezug auf den dann folgenden Untergang der DDR, den Funktionsträger des Systems herbeiführten, weil sie längst alle Zukunftsvorstellungen der originären Antifaschisten über Bord geworfen hatten. Die DDR versank im Aufstieg der Flakhelfergeneration. Ohne Übertreibung darf ich bekennen, dass diese kreativen Arbeitssitzungen mit dem Redakteur von TREND dazu beitrugen, meine verständliche Fixierung auf die selbstbewusste Innenschau eines Kindes von grausam Verfolgten des Naziregimes vorsichtig zu ergänzen durch das Bewusstsein einer objektivierenden geistig-politischen Standortbestimmung im verbrauchenden Fluss der Zeiten einer stürmisch sich entwickelnden Gesellschaft.

Der Redakteur strukturierte den Text der Resolution neu, gab ihm schärfere Konturen, regte begründet an, die Grundbegriffe und Prämissen des Entwurfs zu radikalisieren, warf sein gesamtes juristisches Wissen in die Waagschale, um Sprache und Gewichtung der Entschädigungsgedanken zu konturieren. Vor allem ging es ihm um eine Präzisierung des von Frau Schloesser und mir vorgelegten Forderungskataloges mit den sechs Ansprüchen, um dessen klareren Aufbau, um dessen juristische Evidenz. Der Redakteur stärkte in jeder Beziehung die Anspruchsberechtigung von uns Betroffenen, stellte ihre Unanfechtbarkeit heraus, ließ keinen Satz oder Begriff gelten, der in Richtung Bittstellung fehlgedeutet werden könnte. Ich gestehe es: Es war eine kleine Befreiung für mich. Ich fühlte mich vollkommen angenommen, das erste Mal in meinem Leben, und dadurch regelrecht beflügelt. Das dann nochmals von mir einer Feinkorrektur unterzogene Manuskript der „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten“ ist dann in Nummer 04/2014 der Onlinezeitung TREND als Titelbeitrag mit Bild veröffentlicht worden. Der Redakteur hatte nämlich zusätzlich vorgeschlagen, ich möge doch als ausübender Künstler ein Bild – Foto, Fotomontage, Zeichnung, Farbskizze o.ä. – zum Text beisteuern. Ausgehend vom Tatbestand einer explosivartigen Beschädigung der Persönlichkeit der Exterminierten und Verfolgten im Gefolge des Terrors des Dritten Reiches, die in ihrer Irreversibilität unendlich ist, entwickelte ich meinen künstlerischen Ansatz aus einer elementaren bildlichen Repräsentation dieser Explosion – aus einem Tintenklecks. Elementar hieß: Das musste unbedingt etwas zu tun haben mit Kindheit, mit der Situation der Überwältigung, mit der Unaufhörlichkeit der Leidens, mit einer Wehrlosigkeit von Anfang an. Israelische Forscher vergleichen die zerstörerischen Langzeitwirkungen der Persönlichkeitsbeschädigung von Naziopfern mit der Jahrzehnte andauernden Entfaltung der Radioaktivität nach dem Abwurf einer Atombombe.

Dass diese Grundidee von elementarer künstlerischer Äußerung etwas zu tun hat mit den künstlerischen Ansätzen jener Gruppe von revoltierenden jungen Künstlern und Dichtern, die sich im Atelier von Ludwig Meidner regelmäßig trafen, um sich auszutauschen, muss nicht erklärt werden. Auch diese jungen Leute hatten sich auf die Suche gemacht nach den ursprünglichen, noch nicht von bürgerlicher Lebensform und Kultur überlagerten Wesenskräfte des Menschen. Dass ein solch seltsamer Widerspruch überhaupt entstehen konnte, war dem Umstand eines gleichzeitigen Fehlens eines zivilgesellschaftlichen Gemeinwesens geschuldet. Trotz Kultur, genauer gesagt – die herrschende Kultur verhinderte die Ursachenforschung. Kinderzeichnungen, Höhlenzeichnungen, Farbkleckse, Häuserwandflecken oder zufällige Schatten und Spiegelbilder in wild wechselnden Großstadtszenerien erschienen ihnen als beglaubigte Ausgangspunkte unverfälschten künstlerischen Schaffens. Mein Entwurf zu einer bildkünstlerischen Repräsentation unseres nun durchformulierten entschädigungspolitischen Anliegens wurde seitens der Redaktion ebenfalls angenommen und im Internetformat entsprechend umgesetzt.

Meines Wissens ist die Aufstellung dieses Forderungskataloges mit seinen sechs exakt umrissenen Anspruchspunkten seit Kriegsende die erste selbstbewusste Wortmeldung von Vertretern der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes zur Sicherstellung von rechtlicher Anerkennung und Entschädigung dieser fast völlig vergessenen großen Gruppe von Leidenden des Hitlerfaschismus.

Die geistigen-politischen Voraussetzungen sind völlig neu. Und das wussten wir von Anfang an. Es geht nicht mehr um die Durchsetzung der abstrakten Idee der Gerechtigkeit, sondern um das Gefühl der Empathie, ja, um das Gefühl der Liebe. Gerechtigkeit ist heute nur in Einheit mit Liebe realisierbar, wie auch die amerikanische Moralphilosophin Martha C. Nussbaum in ihrem jüngst erschienenen Grundlagenwerk „Politische Emotionen“ auf bewundernswerte Weise wissenschaftlich nachweist. (2) Die Forscherin beruft sich dabei auf Abraham Lincoln, auf Mohandas Karamchand Gandhi, auf Martin Luther King, auf Jean-Jacques Rousseau und viele andere, auf vornehmlich ebenfalls religiös geleitete Denker und politische Aktivisten, die ihre denkerischen Wurzeln im arbeitenden Volk haben. Eine der wesentlichen Ursachen für die allgemein konstatierte Krise des gegenwärtigen Berliner Antifaschismus ist zweifelsohne in einer Abspaltung der Liebe von der Idee der Gerechtigkeit zu suchen, wozu übrigens auch, dies sei hier am Rande vermerkt, der unterschwellige oder offen zur Schau gestellte linke Antisemitismus gehört. Doch auf dem Boden dieser Abspaltung wächst nichts mehr. Das ist der Preis, den allerdings nicht wenige Linke als solchen noch gar nicht erkannt haben. Die von den Gefolgsleuten des Reichswehrspitzels Adolf Hitler, unter denen nicht wenige Kriminelle waren, geplante und dann in irrwitzigem Wahn in die Bevölkerung eingepfählte Monokultur der Gefühle (3) ist heutzutage, nach zweieinhalb Generationen, plötzlich abstoßend geworden. Schmerzen verursachend. Man will nicht mehr mono fühlen. Man will nicht mehr nach der psychischen Disposition von Kriminellen funktionieren. Geist und Herz sollen wieder zusammengehören. Und Juden können heutzutage aus dem linken Diskurs weder ausgegrenzt noch in ihm domestiziert werden. Auch das ist begriffen worden. Und nicht zuletzt darin erweist sich der gesellschaftliche Fortschritt. Eine wirkliche Weiterentwicklung des Antifaschismus, kein bloßer Schwindel und Etikettenwechsel aus Anpassung, bricht sich Bahn. Und dass dies ein schmerzhafter Prozess ist – geschenkt. Individuen, die sich weiterentwickeln wollen, werden von dynastischen Hungerattacken der geistigsten Art geplagt. Dies alles gehörte zu den neuen geistig-politischen Voraussetzungen, unter den wir, die Autoren der Entschädigungsinitiative, zu Werke gegangen waren.

Die vor knapp einem Jahr publizierte „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten“ wurde von den Verantwortlichen des demokratischen Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte, die für die Durchführung der Konferenz „Zweite Generation“ im Juni 2015 verantwortlich zeichnen, mit Dank aufgenommen. Es haben darüber Verständigungen stattgefunden, zuletzt ausführlich telefonisch mit dem Leiter des Workshops Nr. 16 „Die Praxis von Anerkennung und Entschädigung“ Herrn Michael Teupen, dem ehemaligen Geschäftsführer des Bundesverbandes  – ein fruchtbarer Dialog zur weiteren Vertiefung der entschädigungspolitischen Überlegungen und Vorschläge, insbesondere zu den sechs Forderungen im Forderungskatalog, die er teilweise übernahm. Immerhin wird diese Konferenz über die spürbare Verbesserung der teilweise erschreckenden Lebensbedingungen der Angehörigen der mittelbaren Opfer des Faschismus seitens relevanter gesellschaftlicher Einrichtungen des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland beharrlich gefördert: von der bundeseigenen Stiftung „Erinnerung Verantwortung Zukunft“, von der Rosa Luxemburg Stiftung sowie von der Hans Böckler Stiftung. Vorbereitung und Durchführung der Konferenz „Zweite Generation“ geschehen in enger Zusammenarbeit mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die sich seit Jahrzehnten aus christlichem Verständnis heraus für die existentiellen Belange von Opfern des Faschismus engagiert hat. Im Jahre 1986 hielt sie ihre schützende Hand auch über mein persönliches Leben, weil es durch das Vorgehen von Offizieren des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gegen mich – die gegen mein jüdisches Verfolgungsschicksal emotional völlig stumpf waren, ja, gar kein psychisches Organ dafür entwickelt hatten – in existentieller Weise gefährdet war. Es gab für Systemgardisten höchstens Nutzjuden. Menschliche Abgründe. Deutsch. Tiefpunkt der Abgestumpftheit.

Konferenz „Zweite Generation“
15. bis 16. Juni 2015 in Berlin

Workshop 16:
Aus dem Ankündigungstext
"Im Verlauf der letzten Jahre kontaktierten zunehmend Angehörige der „Zweiten Generation“ den Bundesverband für NS-Verfolgte. Die Fragen nach materiellen Entschädigungen standen dabei zunächst im Hintergrund, vornehmlich wurde das Gespräch gesucht mit einem Gegenüber, das in der Lage ist, das jeweilige Verfolgungsschicksal zu verstehen und nachzuempfinden
Im Workshop werden Fragen zu einer möglichen Entschädigungsleistung für die Angehörigen der „Zweiten Generation“ thematisiert ebenso wie die Aspekte „Wahrnehmung der Bedarfe“ dieses Personenkreises im politischen und öffentlichen Bereich sowie die gesicherte psychotherapeutische Betreuung derjenigen, die einer derartigen Unterstützung bedürfen.
Michael Teupen wurde 1950 geboren. Er ist Dipl. soz. Päd. und verfügt über diverse Zusatzausbildungen im therapeutischen Bereich. Zudem ist er anerkannter Psychotherapeut."

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Die vielfältigen gesellschaftlichen Wirkungen, die die von Frau Alice M. Schloesser und mir der Öffentlichkeit vorgelegte „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten“ ausgelöst hat, betrachte ich nicht zuletzt auch als eines der Vermächtnisse meiner lieben Mutter sel. A. Frau Dora Dick, die als Jüdin und als Widerstandskämpferin aus Nazideutschland fliehen musste. Sie war Trägerin der hohen staatlichen Auszeichnung „Kämpfer gegen den Faschismus von 1933 bis 1945“.

Was meine ich mit Vermächtnis?

Die einzigartige Zusammenarbeit im Vorfeld der Veröffentlichung der „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten“ zwischen der Redaktion von TREND und mir, geschah im Grunde in Wiederaufnahme einer fruchtbaren Tradition des Zusammenschlusses von Arbeiterbewegung und jüdischer Selbstbehauptung, die zweieinhalb Generationen zurückliegt. Diese Tradition ist fast ein versunkenes gesellschaftliches Phänomen, das sich nun aber, angesichts dieser einzigartigen Kooperation, einer Würdigung, wenn auch einer sehr späten, unbedingt erfreuen sollte.

Meine Mutter beteiligte sich im Berliner Osten Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts aktiv an den Abwehrkämpfen der Berliner Arbeiterschaft gegen die Gefahr einer politischen Machtübernahme durch die Nazis. In ihrem Exil-Erinnerungsbuch „Es war mir in Deutschland zu still“, einem Buch auf Basis jahrelanger Interviews, die ich mit ihr führen durfte, leuchtet diese Tradition auf. Meine Mutter berichtete mir von der ersten reichsweiten, antijüdischen Boykottkampagne der an die Macht gekommenen Nazis am 1. April 1933. Die Nazis hetzten die Bevölkerung dazu auf, nicht in jüdischen Geschäften einzukaufen, keinen jüdischen Arzt oder Rechtsanwalt aufzusuchen, jüdische Lehrer aus dem Schuldienst zu entlassen. Wir sprachen darüber ausführlich, und ich stellte im Interview natürlich die Frage nach der politischen Gegenwehr, und dann gab mir meine Mutter eine erstaunliche Antwort, die meines Wissens überhaupt noch nicht Eingang in die Erinnerungskultur gefunden hat. Sie sagte: „Es wurde ein Schutzbund gegründet, ein Verein von Nichtjuden, der die Juden aufgenommen und geschützt hatte, illegal, von den Linken, am 12. April, glaub ich, war das.“ (4) Die Partei der Linken muss sich fragen lassen, ob und wie sie sich heute auf diese Tradition beziehen kann, die doch ihre ureigene ist.

Einen solchen aktiven Schutz jedenfalls erhielten wir, die Autoren der „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten“, im April 2014 seitens der Redaktion der engagierten Onlinezeitung TREND, eine solche aufrichtige, leidenschaftliche und zum selbstlosen Geben bereite Solidarität.

Anmerkungen
 

1) Antonín Dick: Kalaschnikow und Dada, Vom allmählichen Verschwinden des Balkans in der EU. Eine Berliner Straßenszene, in: junge Welt, 24. 06. 2008, Seite 12

2) Martha C. Nussbaum: Politische Emotionen, Suhrkamp 2014

3) Antonín Dick: Widersprüche, Dilemmata und Aporien. Anmerkungen zur deutschen Unterstützungskultur für Verfolgte des Naziregimes und deren Nachkommen, in: TREND, Onlinezeitung, 11 / 2014

4) Antonín Dick / Dora Dick: „Es war mir in Deutschland zu still. Gespräche über die Emigration“, noch unveröffentlichtes Manuskript

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

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TREND-Spezialedition
Rose des Exilgeborenen
Ein Essay von Antonín Dick