Buchbesprechung

Gerd Bedszent

Zusammenbruch der Peripherie

von Joachim Maiworm
 

03-2015

trend
onlinezeitung

„Gescheiterte Staaten“ bzw. Räume begrenzter Staatlichkeit stehen seit einigen Jahren im Zentrum auch der linken politischen Analyse. Ist vom Zerfall bestehender politischer Strukturen die Rede, geraten üblicherweise Länder wie Afghanistan, Somalia oder der Kongo ins Blickfeld der interessierten Öffentlichkeit. Der Berliner Journalist Gerd Bedszent untersucht dagegen in seinem aktuell veröffentlichten Buch die Konstellationen in Staaten, die in den Medien meist nur beiläufig abgehandelt werden aber für den Autor einen umfassenden Prozess von globaler Bedeutung veranschaulichen. Es geht um nichts weniger als den „Zusammenbruch der Peripherie“, den er in weiten Teilen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und zunehmend auch Osteuropas zu entdecken glaubt. Anhand der Darstellung der krisenhaften Entwicklungen in Jamaika, Kolumbien, dem Kosovo, Libyen, Mali, Mexiko, der Ukraine und Zypern erhebt der Autor den Anspruch, eine alle Regionen durchziehende „Logik“ der Zerstörung aufzuzeigen, die er in der Endkrise des warenproduzierenden Systems ursächlich verortet. In den Artikeln, die mehrheitlich in den letzten drei Jahren in der Frankfurter Vierteljahreszeitschrift „BIG Business Crime“ erschienen sind und nun aktualisiert vorliegen, bewegt er sich explizit in den Spuren der „fundamentalen Wertkritik“ und dessen profiliertesten Vertreters, des 2012 verstorbenen Robert Kurz.

Der hatte bekanntlich die Globalisierung als Zersetzungsprozess der herrschenden Produktions- und Lebensweise entschlüsselt, gleichbedeutend mit dem Erreichen der „inneren historischen Schranke“ des Kapitalismus. Die technische Revolutionierung der Produktionsmittel (Mikroelektronik) unterminiere seine eigene Existenzbedingung – die Ausbeutung lebendiger Arbeit als Basis gelingender Akkumulation. Der sich abzeichnende Zusammenbruch der globalen Ökonomie der Warenproduktion impliziere die Endkrise des politischen Weltsystems. Die Zersetzung staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen, so Kurz, führe zur Herrschaft mafiotischer Clans und einer anarchische Plünderungsökonomie. Die permanenten (Entstaatlichungs-)Kriege an der Peripherie des globalen Wirtschaftssystems seien dabei als genuine Produkte des kapitalistischen Systems selbst zu werten. Der Westen führe einen „Weltordnungskrieg“ in dem unter Führung der NATO die selbst erzeugten „Schurkenstaaten“ und kriminellen Banden in die Schranken gewiesen werden sollen. Ein aussichtloses Unternehmen, denn die permanenten Kriege an der Peripherie griffen letztlich auf die noch funktionierenden Wirtschaftsregionen der kapitalistischen Metropolen aus.

Bedszent bewegt sich in diesem analytischen Rahmen, wenn er zum einen in einer ausführlichen Einleitung das Verhältnis von Kapitalismus und Nationalstaat bzw. von Staatsbildung und -zerfall aus historischer und heutiger Perspektive darlegt, zum anderen anhand von acht Fallbeispielen sein Verständnis der aktuellen Krisenprozesse entwickelt.
Er nimmt in seiner Einführung den seit den 1990er Jahren etablierten Begriff des „gescheiterten Staates“ (failed state) auf, wendet ihn aber gegen die Mainstream-Debatten im heutigen Wissenschaftsbetrieb. Nach herrschender Auffassung werden die Aktivitäten der internen Akteure als Ursache für den Verfall von Staatlichkeit betrachtet, globale Abhängigkeitsverhältnisse dagegen meist ausgeblendet. Das Paradigma des failed state wurde nach dem Ende der Blockkonfrontation zu einer zentralen Argumentationsfigur westlicher Politikstrategie und vor allem mit der Handlungsaufforderung zu „humanitären Interventionen“ verknüpft. Dabei wird ein auf die Staatlichkeit des Nordens ausgerichteter normativer Staatsbegriff zugrunde gelegt. Danach gewinnt der Staat insbesondere in dem Maß an Legitimation, in dem er die Gewalt monopolisieren kann, d.h. die innere Sicherheit garantiert und eine vollständige Kontrolle über das Staatsgebiet ausübt. Drohen die grundlegenden Strukturen der Staatsgewalt zu erodieren, wird politische Unordnung und Unregierbarkeit assoziiert und ein internationales Sicherheitsproblem konstatiert. Alle wesentlichen Abweichungen vom westlichen Modell-Staat bilden damit im Grunde ein potenziell zu behebendes Defizit, das als Anzeichen eines die internationale Sicherheit bedrohenden Staatszerfalls gedeutet wird – und die Legitimation militärischer Auslandseinsätze ermöglicht.

Bedszent widerspricht diesem Diskurs. Er bezieht sich zwar positiv auf die Idee des Staatszerfalls, hebt aber kritisch auf dessen Ursachen ab. In seinen Erläuterungen zu den jeweiligen historischen Staatsbildungsprozessen verdeutlicht er, dass widerstreitende Interessen und Konflikte die Grundlage für die Herausbildung von Staatlichkeit bildeten und nicht die Orientierung auf eine idealistische Norm. Nach den Phasen der Entkolonialisierung und der Nationalstaatsbildung ließen dann in vielen Ländern die Zwänge des Weltmarkts die forcierte Industrialisierung als Basis einer eigenständigen kapitalistische Entwicklung zerschellen. Die sogenannte nachholende Modernisierung erwies sich als nicht realisierbar. Würden die staatlichen Strukturen aber ihrer finanziellen Grundlage beraubt, so der Autor, zerfielen die Funktionsfähigkeit von Verwaltung, Justizapparat und Polizei. Die informelle, kriminelle Ökonomie expandiere, die Reste legaler wirtschaftlicher Akteure zögen sich zurück, kurz, der Staatszusammenbruch werde Realität. Neoliberale „Strukturanpassungen“ als Reaktion auf die Krise der realen Wertschöpfung verschärften aber lediglich die desaströse Lage in der Peripherie. Die „Verschlankung“ des Staates führe zum Kollaps der staatlichen Funktionen (Polizei, Justiz) und einem raschen Anwachsen der kriminellen Schattenökonomie. Als Mittel gegen die Folgen der Zusammenbrüche – die „von der kapitalistischen Moderne selbst erzeugten Monstren“ (S. 27) – würden Militäreinsätze aber mittlerweile in der Öffentlichkeit als Teil der Normalität wahrgenommen. Eine autoritäre Form der Krisenbewältigung, die sich im Vormarsch eines „Extremismus der Mitte“ zeige, habe hierzulande bereits zu einer außerparlamentarischen Bewegung verängstigter Kleinbürger geführt. Zudem sei zukünftig mit einer Politik von Notstandsverwaltungen zu rechnen – angesichts der drohenden Staatszusammenbrüche auch in den noch intakten kapitalistischen Metropolen.

In seinem Text „Kolumbien: Landraub und Bürgerkrieg“ (S. 45-67) zeichnet er beispielhaft und ganz im Gegensatz zu den gängigen Failing-State-Debatten die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs von Staatskrise, illegaler Ökonomie und entregelter Gewalt auf. Zwar spricht er von einem Versagen der staatlichen Institutionen bzw. einer Aushöhlung des Staates als Folge krimineller Gewalt im Rahmen des Drogenhandels. Er verweist aber zugleich darauf, dass die neoliberalen Reformen Ende der 1980er Jahre nur „im Windschatten paramilitärischen Terrors“ durchgesetzt werden konnten. (S. 61) Bedszent betont auch, dass Regierung und rechte Paramilitärs gemeinsam an der Abwicklung der expandierenden Drogengeschäfte beteiligt sind. (S. 55) Indem er einen Fokus auf das Zusammenwirken von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren legt, trifft er einen Punkt, der in der politischen Diskussion und in Medienberichten in der Regel ausgeblendet wird.

Diese Tendenz zur Entstaatlichung der Politik und des Bürgerkriegs in Kolumbien hat allerdings wenig mit einem staatlichen Zerfallsprozess zu tun, wie der Autor behauptet. Denn der Paramilitarismus ist keineswegs das Resultat eines Staatsscheiterns, hat er sich doch nur in enger Kooperation mit der Staatmacht entwickeln können. Staatliche Akteure treiben die Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols sogar voran (z.B. durch ein Oursourcing von Folter und Repression). Bedszent selbst erwähnt, dass Mitte der 60er Jahre – und auf Empfehlung von US-Militärs (!) – die Existenz paramilitärischer Strukturen per Gesetz legalisiert wurden. (S. 58) Damals wurden Zivilisten für militärische Gruppen rekrutiert, die an der Seite der Armee operierten, wie der Berliner Politikwissenschaftler Raul Zelik in einer Studie schreibt. Die Paramilitärs sind insofern eher als politische Gebilde zu verstehen, die sich in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität bewegen und vom Staat zumindest in Teilen instrumentalisiert wurden. Es zeigt sich also ein sehr widersprüchliches Verhältnis der Akteure: Der Paramilitarismus hat einerseits dabei geholfen, das staatliche Gewaltmonopol erst durchzusetzen, andererseits untergräbt er die Rechtsstaatlichkeit. Letzteres wiederum diente als schlagkräftiges Argument für externe Militärhilfe. So berichtet Bedszent, dass die USA die kolumbianische Armee im Namen des „Antiterrorkriegs“ mehrfach aufrüstete (und offiziell zur Bekämpfung des Paramilitarismus, bliebe zu ergänzen). (S. 65)
Ein gewichtiges Argument allerdings spricht für die These der zerfallenden Staatlichkeit. Denn einzelne Guerillaorganisationen konnten in der Vergangenheit große Gebiete Kolumbiens kontrollieren und sich als Ordnungsmächte etablieren, weil sie von der lokalen Bevölkerung als funktionstüchtig und damit legitim anerkannt wurden. (S. 56) Zumindest liegt in diesen Fällen eine extreme Schwächung der zentralen Regierungsmacht vor. Anhand anderer Fallbeispiele berichtet der Autor davon, dass Teile einzelner Staaten unter der Kontrolle der organisierten Kriminalität stünden (z.B. in Jamaika, S. 44) bzw. sich in den Operationsgebieten von Drogenkartellen die Grenzen zwischen staatlichen Institutionen und der organisierten Kriminalität gänzlich aufgelöst hätten (z.B. in Mexiko, S. 123). Hier handelt es sich tatsächlich zwar um Staaten im juristischen, jedoch kaum noch im empirischen Sinne.

Die unabhängig voneinander und aus verschiedenen Anlässen geschriebenen Beiträge präsentieren ein Mosaik verschiedener Varianten als schwach, verfallen oder bereits gescheitert definierter Staaten. Diese negative Kategorisierung weist sie gemeinsam als „peripher“ aus. Wer aber gehört zur „Peripherie“, wer zum „Zentrum“? Droht bereits der Absturz in die „Peripherie“, wenn Prozesse einer Entstaatlichung deutlich hervortreten? Da nach Auffassung des Autors die Logik der Zerstörung in der Logik des warenproduzierenden Systems insgesamt wurzelt, ist in der Konsequenz die „periphere Staatlichkeit“ nicht nur an den Rändern des Weltsystems zu verorten, sondern auch im Zentrum. Deshalb stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von „peripheren Staaten“ zu sprechen angesichts des „Einbruchs der Barbarei in ein sicher geglaubtes Zentrum der kapitalistischen Moderne“. (S. 26) Zumindest entbehrt die Zuweisung des Labels nicht einer gewissen Willkür. Auf der abstrakten Ebene der Wertkritik lässt sich eine Unterscheidung von kapitalistischen Staaten in der Metropole und in der Peripherie letztlich nicht wirklich treffen.

Da hilft nur der Rückgriff auf die Empirie. Robert Kurz, Vordenker der Wertkritik, wurde von vielen seiner Kritiker ein fehlendes Interesse eben daran unterstellt. Gegen Bedszent lässt sich dieser Vorwurf dagegen nicht erheben. In den theoretischen Vorbemerkungen bietet er die Folie, auf der die einzelnen Studien zu lesen sind, das heißt, er prüft seine Ausgangthesen an konkreten länderspezifischen Beispielen. Dabei bewegt er sich sprachlich wohltuend jenseits des üblichen Reportagejournalismus oder eines Expertenjargons, sachlich aber auf Basis aktueller kritischer Quellen. Wie immer die LeserInnen auch zu den Prämissen der „fundamentalen Wertkritik“ und insbesondere den damit verbundenen Zusammenbruchsszenarien stehen mögen – das Buch von Bedszent bietet ihnen nicht nur fundierte Informationen über unterschiedliche krisengeschüttelte Regionen der Erde, sondern auch einen nachdrücklichen Hinweis auf die neue Mischung regulärer, informeller und krimineller Sphären sowie die zunehmende weltweite Verschränkung nicht-staatlicher Gewaltakteure und staatlicher Institutionen als Ausdruck einer umfassenden autoritären Transformation der globalen Welt(un)ordnung. Auch wenn sein Buch nicht „Alternativen zum Zusammenbruch der Peripherie“ heißt, wären allerdings einige Aussagen zu den möglichen „anderen Formen des Zusammenlebens“, die der Autor am Ende seiner Einleitung anspricht, (S. 33) schön gewesen. Quasi als Gegengift zu 186 Seiten fundiert dargelegter Dystopie.
 

Gerd Bedszent
Zusammenbruch der Peripherie. Gescheiterte Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegern

Horlemann Verlag

Berlin, 2014, 186 Seiten
16,90 Euro.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten die Rezension von Autor für diese Ausgabe.