„Gescheiterte Staaten“ bzw. Räume
begrenzter Staatlichkeit stehen seit einigen Jahren im Zentrum
auch der linken politischen Analyse. Ist vom Zerfall bestehender
politischer Strukturen die Rede, geraten üblicherweise Länder
wie Afghanistan, Somalia oder der Kongo ins Blickfeld der
interessierten Öffentlichkeit. Der Berliner Journalist Gerd
Bedszent untersucht dagegen in seinem aktuell veröffentlichten
Buch die Konstellationen in Staaten, die in den Medien meist nur
beiläufig abgehandelt werden aber für den Autor einen
umfassenden Prozess von globaler Bedeutung veranschaulichen. Es
geht um nichts weniger als den „Zusammenbruch der Peripherie“,
den er in weiten Teilen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und
zunehmend auch Osteuropas zu entdecken glaubt. Anhand der
Darstellung der krisenhaften Entwicklungen in Jamaika,
Kolumbien, dem Kosovo, Libyen, Mali, Mexiko, der Ukraine und
Zypern erhebt der Autor den Anspruch, eine alle Regionen
durchziehende „Logik“ der Zerstörung aufzuzeigen, die er in der
Endkrise des warenproduzierenden Systems ursächlich verortet. In
den Artikeln, die mehrheitlich in den letzten drei Jahren in der
Frankfurter Vierteljahreszeitschrift „BIG Business Crime“
erschienen sind und nun aktualisiert vorliegen, bewegt er sich
explizit in den Spuren der „fundamentalen Wertkritik“ und dessen
profiliertesten Vertreters, des 2012 verstorbenen Robert Kurz.
Der hatte bekanntlich die Globalisierung als Zersetzungsprozess
der herrschenden Produktions- und Lebensweise entschlüsselt,
gleichbedeutend mit dem Erreichen der „inneren historischen
Schranke“ des Kapitalismus. Die technische Revolutionierung der
Produktionsmittel (Mikroelektronik) unterminiere seine eigene
Existenzbedingung – die Ausbeutung lebendiger Arbeit als Basis
gelingender Akkumulation. Der sich abzeichnende Zusammenbruch
der globalen Ökonomie der Warenproduktion impliziere die
Endkrise des politischen Weltsystems. Die Zersetzung staatlicher
und wirtschaftlicher Strukturen, so Kurz, führe zur Herrschaft
mafiotischer Clans und einer anarchische Plünderungsökonomie.
Die permanenten (Entstaatlichungs-)Kriege an der Peripherie des
globalen Wirtschaftssystems seien dabei als genuine Produkte des
kapitalistischen Systems selbst zu werten. Der Westen führe
einen „Weltordnungskrieg“ in dem unter Führung der NATO die
selbst erzeugten „Schurkenstaaten“ und kriminellen Banden in die
Schranken gewiesen werden sollen. Ein aussichtloses Unternehmen,
denn die permanenten Kriege an der Peripherie griffen letztlich
auf die noch funktionierenden Wirtschaftsregionen der
kapitalistischen Metropolen aus.
Bedszent bewegt sich in diesem analytischen Rahmen, wenn er zum
einen in einer ausführlichen Einleitung das Verhältnis von
Kapitalismus und Nationalstaat bzw. von Staatsbildung und
-zerfall aus historischer und heutiger Perspektive darlegt, zum
anderen anhand von acht Fallbeispielen sein Verständnis der
aktuellen Krisenprozesse entwickelt.
Er nimmt in seiner Einführung den seit den 1990er Jahren
etablierten Begriff des „gescheiterten Staates“ (failed state)
auf, wendet ihn aber gegen die Mainstream-Debatten im heutigen
Wissenschaftsbetrieb. Nach herrschender Auffassung werden die
Aktivitäten der internen Akteure als Ursache für den Verfall von
Staatlichkeit betrachtet, globale Abhängigkeitsverhältnisse
dagegen meist ausgeblendet. Das Paradigma des failed state wurde
nach dem Ende der Blockkonfrontation zu einer zentralen
Argumentationsfigur westlicher Politikstrategie und vor allem
mit der Handlungsaufforderung zu „humanitären Interventionen“
verknüpft. Dabei wird ein auf die Staatlichkeit des Nordens
ausgerichteter normativer Staatsbegriff zugrunde gelegt. Danach
gewinnt der Staat insbesondere in dem Maß an Legitimation, in
dem er die Gewalt monopolisieren kann, d.h. die innere
Sicherheit garantiert und eine vollständige Kontrolle über das
Staatsgebiet ausübt. Drohen die grundlegenden Strukturen der
Staatsgewalt zu erodieren, wird politische Unordnung und
Unregierbarkeit assoziiert und ein internationales
Sicherheitsproblem konstatiert. Alle wesentlichen Abweichungen
vom westlichen Modell-Staat bilden damit im Grunde ein
potenziell zu behebendes Defizit, das als Anzeichen eines die
internationale Sicherheit bedrohenden Staatszerfalls gedeutet
wird – und die Legitimation militärischer Auslandseinsätze
ermöglicht.
Bedszent widerspricht diesem Diskurs. Er bezieht sich zwar
positiv auf die Idee des Staatszerfalls, hebt aber kritisch auf
dessen Ursachen ab. In seinen Erläuterungen zu den jeweiligen
historischen Staatsbildungsprozessen verdeutlicht er, dass
widerstreitende Interessen und Konflikte die Grundlage für die
Herausbildung von Staatlichkeit bildeten und nicht die
Orientierung auf eine idealistische Norm. Nach den Phasen der
Entkolonialisierung und der Nationalstaatsbildung ließen dann in
vielen Ländern die Zwänge des Weltmarkts die forcierte
Industrialisierung als Basis einer eigenständigen
kapitalistische Entwicklung zerschellen. Die sogenannte
nachholende Modernisierung erwies sich als nicht realisierbar.
Würden die staatlichen Strukturen aber ihrer finanziellen
Grundlage beraubt, so der Autor, zerfielen die
Funktionsfähigkeit von Verwaltung, Justizapparat und Polizei.
Die informelle, kriminelle Ökonomie expandiere, die Reste
legaler wirtschaftlicher Akteure zögen sich zurück, kurz, der
Staatszusammenbruch werde Realität. Neoliberale
„Strukturanpassungen“ als Reaktion auf die Krise der realen
Wertschöpfung verschärften aber lediglich die desaströse Lage in
der Peripherie. Die „Verschlankung“ des Staates führe zum
Kollaps der staatlichen Funktionen (Polizei, Justiz) und einem
raschen Anwachsen der kriminellen Schattenökonomie. Als Mittel
gegen die Folgen der Zusammenbrüche – die „von der
kapitalistischen Moderne selbst erzeugten Monstren“ (S. 27) –
würden Militäreinsätze aber mittlerweile in der Öffentlichkeit
als Teil der Normalität wahrgenommen. Eine autoritäre Form der
Krisenbewältigung, die sich im Vormarsch eines „Extremismus der
Mitte“ zeige, habe hierzulande bereits zu einer
außerparlamentarischen Bewegung verängstigter Kleinbürger
geführt. Zudem sei zukünftig mit einer Politik von
Notstandsverwaltungen zu rechnen – angesichts der drohenden
Staatszusammenbrüche auch in den noch intakten kapitalistischen
Metropolen.
In seinem Text „Kolumbien: Landraub und Bürgerkrieg“ (S. 45-67)
zeichnet er beispielhaft und ganz im Gegensatz zu den gängigen
Failing-State-Debatten die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs
von Staatskrise, illegaler Ökonomie und entregelter Gewalt auf.
Zwar spricht er von einem Versagen der staatlichen Institutionen
bzw. einer Aushöhlung des Staates als Folge krimineller Gewalt
im Rahmen des Drogenhandels. Er verweist aber zugleich darauf,
dass die neoliberalen Reformen Ende der 1980er Jahre nur „im
Windschatten paramilitärischen Terrors“ durchgesetzt werden
konnten. (S. 61) Bedszent betont auch, dass Regierung und rechte
Paramilitärs gemeinsam an der Abwicklung der expandierenden
Drogengeschäfte beteiligt sind. (S. 55) Indem er einen Fokus auf
das Zusammenwirken von staatlichen und nicht-staatlichen
Akteuren legt, trifft er einen Punkt, der in der politischen
Diskussion und in Medienberichten in der Regel ausgeblendet
wird.
Diese Tendenz zur Entstaatlichung der Politik und des
Bürgerkriegs in Kolumbien hat allerdings wenig mit einem
staatlichen Zerfallsprozess zu tun, wie der Autor behauptet.
Denn der Paramilitarismus ist keineswegs das Resultat eines
Staatsscheiterns, hat er sich doch nur in enger Kooperation mit
der Staatmacht entwickeln können. Staatliche Akteure treiben die
Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols sogar voran (z.B.
durch ein Oursourcing von Folter und Repression). Bedszent
selbst erwähnt, dass Mitte der 60er Jahre – und auf Empfehlung
von US-Militärs (!) – die Existenz paramilitärischer Strukturen
per Gesetz legalisiert wurden. (S. 58) Damals wurden Zivilisten
für militärische Gruppen rekrutiert, die an der Seite der Armee
operierten, wie der Berliner Politikwissenschaftler Raul Zelik
in einer Studie schreibt. Die Paramilitärs sind insofern eher
als politische Gebilde zu verstehen, die sich in einer Grauzone
zwischen Legalität und Illegalität bewegen und vom Staat
zumindest in Teilen instrumentalisiert wurden. Es zeigt sich
also ein sehr widersprüchliches Verhältnis der Akteure: Der
Paramilitarismus hat einerseits dabei geholfen, das staatliche
Gewaltmonopol erst durchzusetzen, andererseits untergräbt er die
Rechtsstaatlichkeit. Letzteres wiederum diente als
schlagkräftiges Argument für externe Militärhilfe. So berichtet
Bedszent, dass die USA die kolumbianische Armee im Namen des
„Antiterrorkriegs“ mehrfach aufrüstete (und offiziell zur
Bekämpfung des Paramilitarismus, bliebe zu ergänzen). (S. 65)
Ein gewichtiges Argument allerdings spricht für die These der
zerfallenden Staatlichkeit. Denn einzelne Guerillaorganisationen
konnten in der Vergangenheit große Gebiete Kolumbiens
kontrollieren und sich als Ordnungsmächte etablieren, weil sie
von der lokalen Bevölkerung als funktionstüchtig und damit
legitim anerkannt wurden. (S. 56) Zumindest liegt in diesen
Fällen eine extreme Schwächung der zentralen Regierungsmacht
vor. Anhand anderer Fallbeispiele berichtet der Autor davon,
dass Teile einzelner Staaten unter der Kontrolle der
organisierten Kriminalität stünden (z.B. in Jamaika, S. 44) bzw.
sich in den Operationsgebieten von Drogenkartellen die Grenzen
zwischen staatlichen Institutionen und der organisierten
Kriminalität gänzlich aufgelöst hätten (z.B. in Mexiko, S. 123).
Hier handelt es sich tatsächlich zwar um Staaten im
juristischen, jedoch kaum noch im empirischen Sinne.
Die unabhängig voneinander und aus verschiedenen Anlässen
geschriebenen Beiträge präsentieren ein Mosaik verschiedener
Varianten als schwach, verfallen oder bereits gescheitert
definierter Staaten. Diese negative Kategorisierung weist sie
gemeinsam als „peripher“ aus. Wer aber gehört zur „Peripherie“,
wer zum „Zentrum“? Droht bereits der Absturz in die
„Peripherie“, wenn Prozesse einer Entstaatlichung deutlich
hervortreten? Da nach Auffassung des Autors die Logik der
Zerstörung in der Logik des warenproduzierenden Systems
insgesamt wurzelt, ist in der Konsequenz die „periphere
Staatlichkeit“ nicht nur an den Rändern des Weltsystems zu
verorten, sondern auch im Zentrum. Deshalb stellt sich die
Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von „peripheren
Staaten“ zu sprechen angesichts des „Einbruchs der Barbarei in
ein sicher geglaubtes Zentrum der kapitalistischen Moderne“. (S.
26) Zumindest entbehrt die Zuweisung des Labels nicht einer
gewissen Willkür. Auf der abstrakten Ebene der Wertkritik lässt
sich eine Unterscheidung von kapitalistischen Staaten in der
Metropole und in der Peripherie letztlich nicht wirklich
treffen.
Da hilft nur der Rückgriff auf die Empirie. Robert Kurz,
Vordenker der Wertkritik, wurde von vielen seiner Kritiker ein
fehlendes Interesse eben daran unterstellt. Gegen Bedszent lässt
sich dieser Vorwurf dagegen nicht erheben. In den theoretischen
Vorbemerkungen bietet er die Folie, auf der die einzelnen
Studien zu lesen sind, das heißt, er prüft seine Ausgangthesen
an konkreten länderspezifischen Beispielen. Dabei bewegt er sich
sprachlich wohltuend jenseits des üblichen Reportagejournalismus
oder eines Expertenjargons, sachlich aber auf Basis aktueller
kritischer Quellen. Wie immer die LeserInnen auch zu den
Prämissen der „fundamentalen Wertkritik“ und insbesondere den
damit verbundenen Zusammenbruchsszenarien stehen mögen – das
Buch von Bedszent bietet ihnen nicht nur fundierte Informationen
über unterschiedliche krisengeschüttelte Regionen der Erde,
sondern auch einen nachdrücklichen Hinweis auf die neue Mischung
regulärer, informeller und krimineller Sphären sowie die
zunehmende weltweite Verschränkung nicht-staatlicher
Gewaltakteure und staatlicher Institutionen als Ausdruck einer
umfassenden autoritären Transformation der globalen
Welt(un)ordnung. Auch wenn sein Buch nicht „Alternativen zum
Zusammenbruch der Peripherie“ heißt, wären allerdings einige
Aussagen zu den möglichen „anderen Formen des Zusammenlebens“,
die der Autor am Ende seiner Einleitung anspricht, (S. 33) schön
gewesen. Quasi als Gegengift zu 186 Seiten fundiert dargelegter
Dystopie.
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Gerd Bedszent
Zusammenbruch der
Peripherie.
Gescheiterte
Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und
Weltordnungskriegern
Horlemann Verlag
Berlin, 2014, 186 Seiten
16,90 Euro. |
Editorischer Hinweis
Wir erhielten die Rezension von
Autor für diese Ausgabe.
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