Aktuelle Fragen der marxistischen Dialektik

von Mihailo Marković

03/2017

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Es bestehen drei Konzeptionen der Dialektik, die meiner Meinung nach verworfen werden sollten:

a. Dialektik als unkritische ontologische Doktrin von den universalen Gesetzen der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens;
b. das andere Extrem: völliger Skeptizismus hinsichtlich der Existenzmöglichkeiten jeder allgemeinen methodologischen Prinzipien oder theoretischen Voraussetzungen von der menschlichen Welt als Gesamtheit;
c. eine derart enge Spezifizierung der Dialektik, die sie zu einer besonderen Theorie und Methode reduziert, die sich nur auf die menschliche Geschichte bezieht und die Möglich­keit ihrer Anwendung auf die Natur und die Naturwissen­schaften negiert.

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Viele Marxisten waren der Ansicht, Dialektik sei vor allem eine universelle ontologische Theorie, die, völlig unabhängig vom Menschen und von menschlicher Praxis, die dauerhaften Formen aller Veränderungen ausdrückt, die in der Welt ge­schehen.
Diese Konzeption hat zwei grundlegende Schwächen. Erstens war man der Ansicht, die Aussagen, die die dialekti­schen »Gesetze« formulieren, unterlägen keinerlei Zweifel, sie seien wissenschaftlich durch Tatsachen belegt und deshalb absolut wahr. Die Zahl dieser Gesetze war genau definiert. Ein solcher Standpunkt führte zu paradoxalen Konsequen­zen: die Theorie der universalen Veränderungen wurde unveränderlich, und die Methode, sich der Gesamtheit der Welt als einem Komplex von Prozessen zu nähern, wurde statisch. Die einzige zugelassene Richtung, Neuigkeiten zu bringen, war die Anführung neuer, frischer Beispiele und Illustrationen aus der Geschichte der Wissenschaft oder der Arbeiterbewegung. In dieser Art des Umgangs mit der Dia­lektik war ein doppelter Dogmatismus enthalten: einerseits - das vorgeschriebene Gesetz von der Totalität des Wesens »an sich«, das Vergessen, daß alles, was wir wissen und was wir sinnvoll über die Welt sagen können, durch unsere Pra­xis vermittelt ist und ein Element der Subjektivität enthält, d. h. das Ignorieren der gesamten Evolution der Philosophie nach Kant und die Rückkehr zur vorkantianischen Meta­physik. Andererseits: die Behandlung der dialektischen Gesetze als ein geschlossenes System a priori gegebener, unver­letzlicher Schemata entdeckt einen ausgesprochen unwissen­schaftlichen, theologischen Standpunkt.

Zum anderen - wenn die Dialektik auf die allgemeine Struk­tur der bestehenden Welt und auf eine Methode des Erken­nens des Gegebenen reduziert wird, verliert sich der ganze Aktivismus des Marxschen philosophischen Denkens. Der Philosoph, der die Welt verändern und sie nicht nur erklären will, kann nicht beim erreichten Wissen vom Bestehenden haltmachen. Er analysiert auch das, was sein könnte (im Rahmen der bestehenden natürlichen und gesellschaftlichen Grenzen), und engagiert sich in der praktischen Realisierung dessen, was in Übereinstimmung mit gewissen objektiven menschlichen Bedürfnissen sein sollte. Die revolutionäre Philosophie ist demnach Erkenntnis und Werturteil, Entdeckung allgemeiner Wahrheiten und radikale Gesellschaftskritik zugleich. Die Dialektik ist in diesem Falle nicht nur eine all­gemeine Theorie und eine Methode zur Erlangung positiven Wissens, sondern ebenso auch Theorie und Methode der revo­lutionären Negation und der Uberwindung der bestehenden Wirklichkeit. Wenn dies vergessen wird, entsteht die Gefahr, daß die Dialektik sich in eine Waffe der rationalen Rechtfer­tigung der gegebenen historischen Form der menschlichen Existenz verwandelt, d. h. in ein Instrument der Ideologie. In Wirklichkeit, in gar nicht zu ferner Vergangenheit und auch heute, haben einige Marxisten die Dialektik als ein ideo­logisches credo aufgefaßt, ihre Probleme als ideologische Fra­gen genommen, für deren Lösung mehr die politischen Führer verantwortlich seien denn die Wissenschaftler und Philoso­phen. Vice versa erklärt die Ideologisierung der Dialektik in gro­ßem Maße den dogmatischen wie auch den konformistischen Charakter dieser Konzeption.

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Die Revolte gegen Dogmatismus und Konformismus hatte bei einigen Marxisten ein starkes Mißtrauen gegenüber der Dialektik überhaupt zur Folge. Dieser Standpunkt ist beson­ders verbreitet unter den Experten der exakten Wissenschaf­ten, die noch einige besondere Gründe haben, unzufrieden zu sein mit der Mehrheit der heutigen Interpretationen der Dialektik: der erschreckende Mangel an Präzision, die Ver­wendung äußerst unklarer und doppeldeutiger Begriffe, die entmutigende Nachlässigkeit in Analyse und Argumentation, die unverzeihliche Simplifizierung und Ignoranz besonders bei der Erörterung wissenschaftlicher Resultate, die die dia­lektischen Gesetze »beweisen« sollen usw. Wenn diese Exper­ten protestieren gegen verschiedene Vulgarisierungen und es ablehnen, sich mit philosophischen Thesen zu solidarisieren, denen Kompetenz sowohl als auch Originalität fehlen und die offensichtlich weit unter dem Niveau der Logik und der Methodologie der theoretischen Untersuchung liegen, so ist es unmöglich, sich nicht auf ihre Seite zu stellen. Aber ebenso unmöglich ist es, mit ihnen zu gehen, wenn sie erklären, kein einziger Wissenschaftler habe jemals auch nur irgendeinen Nutzen von der Dialektik gehabt noch würde ja auch nur eine einzige Entdeckung mit Hilfe der Dialektik gemacht, so daß man demnach also keinerlei Bedarf für so etwas habe. Das ist eine ähnliche Art von Argument, als wollte jemand behaupten, es gäbe kein Volk, das seine Sprache mit Hilfe der Linguistik geschaffen hat, oder es gäbe keinen Schriftsteller, der seine Romane dank der Literaturtheorie geschrieben hat, oder es gäbe kein Kind, das dank der Sexologie geboren wor­den ist - was wahr, aber irrelevant ist, wenn es um die Ver­dienste dieser Theorien geht.

Für jede praktische Aktivität ist es möglich, eine Theorie zu formulieren, die allgemein strukturale Charakteristika dieser Aktivität feststellen würde sowie die invarianten Kriterien ihrer Entwicklung. Gleichgültig, ob sich die Menschen ihrer bewußt sind oder nicht, wenn es sich um gut organisierte, sinnvolle Prozesse handelt, dann besteht in diesen prakti­schen Prozessen selbst die eine oder andere Gruppe jener Strukturmerkmale. Derlei Theorien helfen, das zu Bewußt­sein zu bringen, was bereits als unbewußte Gewohnheit exi­stierte. Wenn die Theorie stimmt, dann vergrößert sie unser Wissen von uns selbst und von unserer Tätigkeit. Außerdem befähigt sie uns, unsere eigene Macht zu kontrollieren, kri­tisch und rational über sie nachzudenken und die Art und Weise unseres zukünftigen Handelns zu verbessern. Die Stufe der Allgemeinheit solcher Theorien ist verschieden. In dieser Art ist die Dialektik eine Theorie von höchstem Niveau. Sie konstituieren die allgemeinsten Prinzipien der menschlichen Praxis als Ganzheit, eingeschlossen das Denken und wissenschaftliches Forschen als Spezialfälle. Hier tauchen folgende Fragen auf: soweit menschliche Aktivität in meh­rere verschiedene Richtungen und auf mehrere verschiedene Ziele hin orientiert sein kann, so sehr werden sich auch die Prinzipien und Kriterien der Wertbestimmung unterscheiden. Welches sind also die Werte, die jener Art menschlicher Praxis die Richtung angeben, für die die Dialektik die allgemeinste Theorie und Methode ist? Welches sind die entgegengesetzten Theorien und Methoden, die zu einer in bezug auf den Mar­xismus entgegengesetzten Philosophie führen? Bevor wir je­doch diese Frage beantworten, muß all denen gegenüber ein Phänomen betont werden, die die Notwendigkeit jeder allge­meinen methodologischen Betrachtungen bezweifeln. Wenn es stimmt, daß sich unser Denken in Ubereinstimmung mit gewissen Regeln abspielt (die viel komplexer sind als die­jenigen, die die formale Logik bisher explizite formuliert hat), und wenn es ebenso richtig ist, daß wir gewisse Regeln befol­gen, wann immer unsere Praxis gut organisiert und auf ein Ziel gerichtet ist, dann stellt die Unkenntnis dieser Regeln eine spezifische Form der Alienation dar. Das Bewußtmachen dieser Regeln, die Fähigkeit, rational und kritisch über sie nachzudenken, die Erlangung der Kontrolle über sie und ihre Verbesserung, damit wir die Bedingungen, unter denen wir leben, auf effektivste Weise überwinden - all das stellt, unter anderem, offensichtlich einen sehr wichtigen Aspekt der menschlichen Desalienation dar.

Damit hat jeder Skeptizismus gegenüber der Dialektik eine von zwei möglichen Wurzeln. Die eine Wurzel ist (zugege­benermaßen oder nicht), daß man der entgegengesetzten allgemeinen philosophischen Theorie und Methode den Vor­zug gibt: der Phänomenologie, dem Positivismus, dem Prag­matismus, der linguistischen Analyse usw. Die zweite mögliche Wurzel ist das Vorurteil, demzufolge in der mensch­lichen Praxis einzig und allein von Bedeutung ist, daß man alles macht, wie es sein muß, und nicht, daß auch wir wissen, wie es zu tun ist. Das ist die Apologie der Blindheit und der Irrationalität, und außerdem auch ein ziemlich konservativer Standpunkt. Die Vergrößerung des menschlichen Selbstbe­wußtseins in jedem Bereich des Denkens und der Praxis war immer von einem bedeutenden Fortschritt in diesem Bereich gefolgt: die Entwicklung der Psychologie nach Freud und der Logik nach Boole sind hierfür gute Beispiele. Indes besteht kein Zweifel, daß die sozialistischen Revolutionen in Ruß­land und anderswo undenkbar wären ohne die Marxsche Theorie, die ihrerseits als revolutionäre Theorie ohne die Dialektik undenkbar wäre.

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Einige Marxisten, wie beispielsweise Lukács, und die Philoso­phen, die dem Marxismus gewisse Sympathien entgegenbrin­gen, wie Jean Paul Sartre und Hyppolite, nehmen zwischen diesen beiden Extremen hinsichtlich des Verständnisses der Dialektik eine interessante Position ein: die des dogmatischen Konformismus auf der einen und des Skeptizismus auf der anderen Seite. Sie haben recht, wenn sie den aktivistischen und humanistischen Charakter der Dialektik betonen. Sie haben recht, wenn sie darauf insistieren, daß es Sinn habe, über die dialektischen Strukturen zu reden und die dialekti­sehe Methode nur dort anzuwenden, wo eine Interaktion zwi­schen Subjekt und Objekt besteht, wo die menschliche Pro­duktion in Betracht gezogen ist, wo eine Einheit von Theorie und Praxis besteht. Ebenfalls richtig ist, daß die Kategorie der Totalität eine äußerst wichtige Rolle in der Dialektik spielt: ein Objekt kann nur als Teil einer Gesamtheit begrif­fen werden, als Teil einer konkreten synthetischen Einheit, der es zugehört. Die Praxis ist u. a. ein Prozeß der Totalisie-rung: wir kreieren ein neues Objekt als Teil eines breiteren Projekts, als Mittel zur Erlangung eines künftigen Ziels, in dessen Licht das Objekt überhaupt erst seinen Sinn be­kommt.

Aber aus all dem folgt nicht, daß die Erweiterung der dialek­tischen Methode in der Natur sinnlos oder ungerechtfertigt wäre, wie es diese Autoren und viele ihrer Nachfolger be­hauptet haben.

Nach Ansicht von Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein), kann die konkrete marxistische Dialektik einzig und allein eine Methode zur Analyse der Gesellschaft sein. Engels beging einen Fehler, als er, dem schlechten Beispiel Hegels folgend, die dialektische Methode auch auf die Erforschung der Natur ausgedehnt hat. Der Natur nämlich fehlen einige wesentliche Charakteristika der Dialektik: die Interaktion von Subjekt und Objekt, die Einheit von Theorie und Praxis, die historische Veränderung der objektiven Grundlagen unse­rer Kategorien. Infolgedessen besteht ein fundamentaler Un­terschied zwischen den Methoden der Sozial- und der Natur­wissenschaften. Im Unterschied zu den ersten ist die Tendenz zur Abstraktion, der Quantifizierung, der Isolierung beson­derer, unhistorischer Tatsachen oder Sphären mit ihren spezi­fischen Gesetzen - Charakteristikum der zweiten. Anzumerken ist, daß Lukács schon in diesem Werk ebenso auch einen anderen, elastischeren Standpunkt vertritt, dem­zufolge man auf konkrete Weise verschiedene Arten der Dialektik ausarbeiten sollte, von denen besonders zwei be­trachtet werden müssen: die »völlig objektive Dialektik der Natur« und die »historische Dialektik«. Dennoch herrscht in dieser Phase der intellektuellen Entwicklung von Lukács die erste Art vor, und sie ist weitaus charakteristischer für ihn.

Sartres Hauptargument gegen die Dialektik der Natur ist, daß es in der Natur keine Totalitäten und keine Prozesse der Totalisierung gibt, in Sartres Begriff des Wortes. In allen bestehenden Natursystemen sind die Teile zueinander und dem ganzen System gegenüber äußerlich. Besonders wich­tig ist die Tatsache, daß diese Teile immer äußerlich uns gegenüber bleiben; im Unterschied zu den historischen Pro­zessen, an denen wir teilnehmen, können wir uns nie die phy­sikalisch-chemischen Tatsachen von innen vorstellen, wir haben sie nicht geschaffen wie etwa die Geschichte. Sartre schließt nicht jede Möglichkeit aus, von einer Dialektik der Natur zu sprechen, aber er ist der Ansicht, daß man das nur über Analogien tun könne, auf metaphorische Weise, durch anthropomorphistische Projektion des Modells, das nur inner­halb der menschlichen Geschichte gilt. Seiner Auffassung nach ist eine derartige Extrapolation theoretisch ungültig. Außer­dem führt sie zur Pluralität partieller Dialektiken für ver­schiedene Natursysteme. Die Idee einer universalen Dialektik hat keinen Sinn, da die Natur endlos und insofern ohne Ein­heit ist.

Es ist nicht schwer einzusehen, daß in beiden Fällen, bei Lukács wie bei Sartre, die Negation der Dialektik der Natur auf zwei inakzeptablen Voraussetzungen beruht. Die eine ist die Spaltung zwischen Natur und Geschichte, was zu einer groben, unkritischen, realistischen, epistemologischen Position in der Interpretation der Resultate der Naturwissen­schaften führt.

Die zweite ist die allzu enge Bestimmung der Dialektik. Die Dialektik ist, ohne hinreichende theoretische Berechtigung, auf allzu spezielle Weise definiert. Aus dieser Definition folgt analytisch, daß die Dialektik keine allgemeine philosophische Methode sein kann, sondern nur eine besondere Methode der historischen Forschung und Erklärung. Beide Autoren (die sonst einen so starken Akzent auf die Kategorie der Totalität setzen) können nicht erklären oder auch nur sehen, was diese Totalität ist, deren Teil die Dialektik ist, oder, mit anderen Worten, was eine allgemeine philosophische Methode des Denkens, der Erkenntnis und was eine Methode der prakti­schen Operation mit einem Objekt jeder Art ist.

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Wenn die verschiedenen Autoren über die Dialektik der Na­tur sprechen, dann ist unklar, ob sie unter diesem Terminus verstehen:

a) eine allgemeine Struktur der natürlichen Prozesse an sich,

b) eine allgemeine Struktur der Theorie dieser Prozesse oder

c) eine allgemeine Struktur der menschlichen Praxis, die zur Veränderung der Natur und zur Formierung einer Theorie führt.

Die eine oder andere Kritik der Dialektik der Natur ist inso­fern berechtigt, als sie sich auf die Natur »an sich« bezieht und auf eine dogmatische Konzeption der Dialektik, von der wir bereits sprachen. Aber wenn wir über die Natur »für uns« sprechen, was wir immer tun, wenn wir etwas Bestimmtes und Konkretes über die Natur sagen, so ist das bereits etwas, das die Interaktion zwischen der groben äußeren natürlichen Umwelt und des konkreten historischen Subjekts einer be­stimmten Gesellschaft in einer bestimmten Epoche einschließt, einer Epoche, die bestimmte Bedürfnisse, Werte, ideologische und andere Vorurteile, Motive usw. besitzt. Die Streitigkei­ten um die Natur des Sonnensystems, um die Natur der Mathematik, der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik, des Darwinismus, der Genetik, des Vitalismus gegenüber dem Mechanizismus usw. zeigen deutlich, daß der Prozeß der Er­kenntnis der Natur gewöhnlich dem größeren oder geringe­ren Einfluß des herrschenden kulturellen und ideologischen Klimas unterliegt und daß er weit davon entfernt ist, passive, leidenschaftslose, rein intellektuelle Reflexion der Tatsachen zu sein, die vor dem Entstehen des Menschen bereits gegeben waren.

Den Marxschen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten zufolge sind Natur, Industrie, Naturwissenschaften, die Wis­senschaft vom Menschen, von den wesentlichen menschlichen Kräften und der menschlichen Psychologie, nur Momente einer dialektischen Gesamtheit, Momente, die sich gegenseitig durchdringen.

Die geschaffene Natur des Menschen ist, nach Marx, eine Na­tur, die sich im Lauf der menschlichen Geschichte entwickelt, in der Genesis der menschlichen Gesellschaft. Andererseits ist alles, was nicht Weltgeschichte genannt wird, nichts anderes als die Schaffung des Menschen durch menschliche Arbeit und der Beginn der Natur für den Menschen. Praktische Binde­glieder zwischen dem Menschen und der Natur sind Natur­wissenschaft und Industrie: die Naturwissenschaft durchdringt das menschliche Leben mehr und mehr praktisch in Ge­stalt der Industrie. Die Industrie ist die wirkliche historische Verbindung zwischen der Natur, bzw. den Naturwissenschaf­ten, und dem Menschen. Vom Standpunkt des philosophi­schen Humanismus ist es unmöglich, einen Graben zwi­schen der menschlichen und der Naturgeschichte zu graben, zwischen der Naturwissenschaft und der Wissenschaft vom Menschen. Gerade deshalb schrieb Marx: »Die Wissenschaft als solche ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, der Entwicklung der Natur und des Menschen. Die Naturwissen­schaft wird eines Tages auch die Wissenschaft vom Menschen in sich schließen, wie die Wissenschaft vom Menschen die Naturwissenschaft einschließen wird; es wird nurmehr eine einzige Wissenschaft bestehen.« Marx fährt fort mit der Er­klärung, daß der Mensch ein direkter Gegenstand der Natur­wissenschaften ist, wie auch die Natur ein direkter Gegen­stand der Wissenschaft vom Menschen ist. Sicher ist, daß Marx hier nicht die rohe, ursprüngliche Natur im Sinne hat, die an sich bestanden hatte, bevor der Mensch auf der Erde erschien, ebensowenig auch die Teile der Natur, die außer dem Bereich der menschlichen Sinne, seiner prak­tischen Instrumente oder sogar seiner Phantasie liegen. Es hat tatsächlich keinen Sinn, über die Dialektik solch einer Natur zu sprechen (im Sinne der reinen Äußerlichkeit in bezug auf die Geschichte), obwohl man nicht die Tatsache aus den Augen verlieren darf, daß die Grenzen dieser Äußerlichkeit relativ sind und sich ändern: ihre Teile werden immer mehr bekannt, praktisch modifiziert und durch die menschliche Ge­schichte umfaßt.

Und dennoch haben Lukács, Sartre und die anderen Kritiker der Dialektik der Natur nicht die entscheidenden Gründe ge­liefert, warum dieser Begriff unanwendbar sein sollte auf einen solchen Prozeß der Humanisierung der Natur (der ein untrennbarer Teil des historischen Prozesses selbst ist). Sie ha­ben große Anstrengungen unternommen, künstliche Mauern zwischen der Natur- und der Sozialwissenschaft zu errichten, aber ihre Beschreibungen der Naturwissenschaft sind oft unzuverlässig und ungenau. Lukács z. B. glaubt, daß für die Naturwissenschaft und ihre Methoden die Isolierung von Tat­sachen charakteristisch ist, deren Verständnis auf eine ab­strakte und unhistorische Art wie auch die Vernachlässigung der qualitativen Veränderung. Und dennoch haben die Natur­wissenschaften bis heute sehr viel größere Erfolge errungen als die Gesellschaftswissenschaften, und zwar besonders hin­sichtlich der Integrierung einer Masse von Tatsachen in Syste­me, die Gesamtheiten von Phänomenen aus einem ganzen Bereich bedecken. Nach Laplace und Darwin stellt der histo­rische Charakter der Natur nichts Neues dar, und der riesige technologische Fortschritt der modernen Zeit kam als Folge der Uberwindung der Abstraktheit der fundamentalen Naturwissenschaften.

Sartre erklärt auf der anderen Seite, daß es in der Natur keine Totalitäten gebe, und das ist eines seiner Hauptargu­mente. Er selbst erkennt indes, daß biologische Organismen offensichtlich eine gewisse Art von Totalitäten sind - nur, daß sie bisher nicht als solche erforscht worden sind, auch nicht mit Hilfe der dialektischen Methode (was für unser Pro­blem natürlich ziemlich irrelevant ist). Er leugnet zuerst, daß die Natur Geschichte hat, und dann konzediert er die Möglich­keit, historische heuristische Modelle einzuführen. Die gesamte Dialektik hat natürlich heuristischen und keinen demonstra­tiven Wert. Sartre geht zurück auf Hegel, wenn er der Ansicht ist, die Natur sei Äußerlichkeit, und behauptet, wir könnten die Natur nie von innen her verstehen. Er vergißt dabei, daß unser Körper, unsere Sinne und sinnlichen Fähigkeiten ein Teil der Natur sind, ein Teil des äußeren Wesens, von dem wir unmittelbare Erfahrungen haben.

Statt sich Natur und menschliche Geschichte als zwei verschie­dene und klar getrennte Sphären vorzustellen, sollten wir das Verständnis zwischen zwei verschiedenen Ebenen mensch­licher Wirklichkeit als kontinuierlich-diskontinuierlichen Ubergang begreifen:

a) von einfachen Objektsystemen, die zueinander äußerlich sind - zu komplexen Ganzheiten, deren Teile fest miteinan­der verbunden und voneinander abhängig sind;

b) vom Maximum an Stabilität zum Maximum qualitativer Veränderung;

c) von der aufgenötigten Determination zur Selbstbestim­mung;

d) von der Passivität zur Aktivität, von fixen Strukturen des Reagierens zu offenem, zielbewußtem, kreativem Verhalten;

e)von dem, was gegeben ist, zu dem, was erzeugt ist;

f) von äußerlicher vermittelter Kontemplation zu innerer unmittelbarer praktischer Erfahrung, zu Verständnis usw.

Trotz vielen Unterschieden ist auf allen Ebenen der mensch­lichen Wirklichkeit eine allgemeine Struktur gegeben, auf die sich der Begriff »Dialektik« in seinem allgemeinsten Sinne beziehen sollte. Dieser Begriff bezeichnet vor allem die Struktur methodologischer Prinzipien aller theoretischen Un­tersuchung und praktischer Aktion, die gerichtet sind auf die vollkommene Emanzipation des Menschen und die Humani­sierung der Natur und der gesellschaftlichen Umwelt.

Diese dialektische Struktur des menschlichen Denkens und Handelns setzt das Bestehen einer isomorphen Struktur des materiellen Wesens voraus (der Natur, des objektiven Gesell­schaftslebens, unseres eigenen Körpers). Ohne diesen Isomor­phismus könnte unsere Aktion nicht gut organisiert und effektiv werden, ohne ihn wäre unser Denken nicht in der Lage, die wirklichen Bedingungen zu bestimmen und die wirklichen Folgen unserer Aktionen vorauszusehen. Wesentliche Züge jeder solchen dialektischen Struktur sind: systematische Einheit der Teile, dynamischer Charakter jedes Systems, das auf inneren Konflikten der Kräfte beruht, Ent­stehen neuer Qualitäten als Resultat der Reorganisation der Elemente, das Moment der Selbstbestimmung und der Selbst­erzeugung, der progressiven historischen Veränderung des ge­samten Systems in Richtung auf eine bestimmte Grenze. Diese allgemeine Struktur kann auf verschiedene Arten spezifiziert werden in Abhängigkeit vom Grade der Kom­plexität, der Verschiedenartigkeit, des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung des Systems, von dem die Rede ist.

Groß ist der Unterschied zwischen physikalisch-chemischen, biologischen und gesellschaftlichen Einheiten. Demnach ist auch das Maß der historischen Veränderung unvergleichlich größer in der menschlichen Gesellschaft (besonders der moder­nen) als in der Milchstraße oder in unserem Sonnensystem. Die Grenze, die dem ganzen Prozeß Richtung gibt, ist ein äußerer Zustand der Dinge in der anorganischen Natur, in der organischen Welt kann sie ein unbewußtes Bedürfnis sein, in der menschlichen Geschichte ist sie ein bewußtes Ziel, ein Ideal.

Wesentlich ist jedoch, daß man die Desintegration unseres philosophischen Denkens in verschiedene partielle Bereiche mit verschiedenen Methoden verhindert, weil man dort näm­lich die Dialektik nur als eine dieser partiellen Methoden an­sähe. Gleichgültig, wieviele Arten partieller Dialektik kon­struiert werden könnten, die Hauptsache ist, sich darüber klar zu bleiben, daß all dies Spezialfälle einer offenen, aber auch allgemeinen dialektischen Struktur sind, die ihnen zu­grundeliegt.

Editorische Hinweise:

Mihailo Marković war in den 1960er- und 1970er-Jahren  Mitglied der jugoslawischen Praxis-Gruppe bekannt. Sein Aufsatz "Aktuelle Fragen der marxistischen Dialektik" erschien in der Zeitschrift Filozofija in den 1960er Jahren.

Auf Deutsch: Ffm 1968, in: Mihailo Marković : Dialektik der Praxis, S.42-53

Weitere Informationen zur Praxis-Gruppe:

Goran Bećirčić, Der Entwicklungsgedanke der Praxis-Philosophie in Jugoslawien http://othes.univie.ac.at/31691/1/2014-02-09_0048341.pdf