Italienisches Panoptikum (1. Teil)

von Aug & Ohr

03/2017

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onlinezeitung

Italien erlebt derzeit eine Stärkung linker und kommunistischer Bewegungen, Organisationen und Kräfte wie schon lange nicht mehr. Es begann besonders im vergangenen Oktober, als die Basisgewerkschaften, unter ihnen in erster Linie USB (Unione Sindacale di Base) und zwei unter „Cobas“ (comitati di base, Basisausschüsse) firmierende Basisgewerkschaften namens AdL Cobas (Associazione Diritti Lavoratori (1)) und SI Cobas (Sindacato Intercategoriale – Lavoratori Autorganizzati (2)) am 22. Oktober 2017 mit eigenen Kräften und unabhängig von den offiziellen Richtungsgewerkschaften einen Generalstreik auf die Beine stellten, an dem eine Million dreihundertausend Menschen teilnahmen.

Kapillar und von unten

Es gab Blockaden, Besetzungen, Protestmärsche von einer europaweit exemplarischen Kampfkraft und Kampf-Weite. Ziel war es, Forderungen des Arbeitsplatzes und der Branche und der gesamten Arbeiterschaft mit allgemeinpolitischen Forderungen, so gegen Militarismus und Krieg, zu verbinden. In monatelanger mühevoller Arbeit war es den basisgewerkschaftlichen Aktivisten gelungen, die Belegschaften davon zu überzeugen, daß sie gegen die Politik Renzis Stellung nehmen müßten, über ihre eigenen Arbeitsbelange hinaus.

Und das gelang. Renzi und seine Partei hatten die Absicht gehabt, die Verfassung an sensiblen Punkten zu reduzieren, ja man kann sagen: zu demolieren, die Arbeitsrechte weiter und definitiv auszuhebeln und die parlamentarischen Entscheidungsmechanismen zu schwächen. Der Senat sollte reduziert und zum Teil entmachtet werden, die stimmenstärkste Partei ähnlich wie in Griechenland mit zusätzlichen Stimmen ausgestattet werden, und das Ganze wurde in ein Referendum gegossen, mit dem Renzi und die Mehrheit seiner Partei selbstherrlich vermeinten, die „Bürger“ überzeugen zu können.

Sie werden ihm schon folgen, glaubte er. Ein Referendum von oben, wie das des Orbán kurze Zeit vorher. Auch in der primitiven Plakativität mancher seiner Losungen ähnelte es dem Orbán´schen „Referendum“.

Bereits der Generalstreik, gerade der Generalstreik war zu einer politischen Botschaft gegen Renzi und seine Politik geworden, dann folgten Mobilisierungen anderer politischer Plattformen. Der Generalstreik fand in zahlreichen Städten Italiens statt, an der Demonstration in Rom nahmen 30. 000 Menschen teil. Bei dieser römischen Zentraldemonstration wurde, etwas weicher im Vergleich zur Politik der im Veneto, in der Emilia Romagna und zum Teil in der Toskana operierenden ADL Cobas und zu der der streng kollektiv strukturierten SI Cobas (die beide, ebenso wie die USB, aus den Erfahrungen der kommunistischen Kämpfe der „Neuen Linken“ der Siebzigerjahre schöpfen), ein spezielles Konzept umgesetzt, ein bis dato noch nicht erprobtes gemeinsames Vorgehen unterschiedlichster basisgewerkschaftlicher Strömungen. Das war die softere römische Version. Diese zentrale Großdemonstration wurde gemeinsam bestritten von Unicobas (einer studentischen Basisgewerkschaft, Partnerin der schwedischen SAC (3) und der spanischen CGT (4)), der genannten USB und der libertär-anarchistischen USI (Unione Sindacale Italiana). ADL und SI Cobas nahmen daran nicht teil.

Das No Sociale – die breite gesellschaftliche Front

Am Tag darauf fand ein landesweiter Protesttag gegen Renzi, der sogenannte „No Renzi Day“, statt, wobei die OrganisatorInnen sich darüber im klaren waren, daß mit diesem Titel keine Personalisierung , sondern nur die Kennzeichnung einer durch eine Person vertretenen Politik gemeint sein kann. Veranstalterin war die Plattform Coordinamento per il No Sociale: an der großen Kundgebung, die, wie zumeist, durch halb Rom führte, nahmen 40.000 Leute teil. Hier zeigte sich, daß ein Großteil der Mobilisierung in Rom von der USB getragen wurde, also von einer Arbeiterorganisation. Die proletarische Organisation USB war hegemonial im Kampf gegen eine reaktionäre Regierung!

Es handelt sich bei der USB um einen vor mehr als 6 Jahren entstandenen Zusammenschluß dreier bereits bestehender Basisgewerkschaften, der in letzter Zeit immer mehr an Einfluß gewinnt und, zusammen mit den genannten beiden anderen Basisgewerkschaften ADL Cobas und SI Cobas, trotz divergierender Auffassungen über das strategische Vorgehen, als kämpferisches, lebendiges basisgewerkschaftliches Kraftfeld den kapitalabhängigen Kompromißgewerkschaften CGIL-CISL und UIL, dem gelben Dreierbündnis, den historischen Kampf angesagt hat.

Stinkender Leichnam

Eine solche Tendenz zur Entkoppelung von den Gelben wird sich in ganz Europa langfristig entpuppen und entfalten müssen, sie ist bis dato erst, wenn auch in unterschiedlichen Formen, in Spanien, in Griechenland und auch in Frankreich auszumachen.

Es ist das logische Gesetz der Abtrennung von der Sozialdemokratie und der Vernichtung der Sozialdemokratie. Für einen jeden Kommunisten müßte das eigentlich selbstverständlich sein.

Es ist sehr schwer für Menschen, die nichts als den DGB und Ähnliches vor Augen haben, diese Tendenz, in der sich ein solches Gesetz verbirgt, diese Notwendigkeit, rational und/oder emotional zu fassen.

Weder vom Gefühl noch vom Verstand sind die Leute auf dem Dampfer. Die Tendenz, der unerbittliche Prozeß, wird ihnen fremd bleiben, bis eines Tages ähnliche Prozesse in ihrem eigenen Land ebenfalls greifen werden. Man muß sich darüber klar werden, daß das allgemeinpolitische Prinzip, das den deutschen Gewerkschaften ja per Gesetz versagt ist, bei den Basisgewerkschaften an zentraler Stelle steht, und daß das bestimmende Organisationskonzept das von unten ist.

Damit weisen die italienischen Basisgewerkschaften über das in Deutschland, Österreich und dergleichen politisch zugemauerten Ländern gewerkschaftlich routinemäßig Geübte weit hinaus und sind insofern ein Wegweiser, eine Richtschnur für eine unausweichliche nationenübergreifende Entwicklung, eine Richtschnur auch für die teilweise verfaulte Metropolenlinke.

Nochmals Nein!

Am 27. 11., einen Monat nach den beiden exemplarischen Mobilisierungen, fand eine weitere Kundgebung „gegen Renzi“ statt, bei der in Rom 50.000 auf der Straße waren.

Diesmal war sie organisiert von einer breiten Plattform namens „C´è chi dice di no“ („Es gibt Leute die Nein sagen!“), die sowohl von Künstlern und Musikern als auch von einer großen Zahl von Massenorganisationen getragen oder unterstützt wurde.

Die sozialdemokratische Partei der Unterdrückung des Proletariats und des Prekariats wird also von mehreren Seiten her in die Zange genommen.

Ein neuer Feminismus

Das zahlenmäßig, aber auch vom politischen impact her überragendste Ereignis aller Kundgebungen dieser Periode war eine Demonstration in Rom, an der 200.000 Frauen teilnahmen!

Italien war in den Siebzigerjahren das Land mit der stärksten und radikalsten Frauenbewegung Europas. Aber wie überall, so war auch in Italien ein Schwund der Aktivitäten und Organisationen zu beobachten (auch bereits in den Achtzigerjahren, wo die PCI (die Kommunistsiche Partei), die Vorgängerorganisation von DS (Linksdemokraten) und PD (Demokratische Partei), zusammen mit den Christdemokraten, ebenso wie in den Siebzigerjahren die Repression gegen die außerparlamentarische Linke und die Bewegungen anführte. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer gewissen Lethargie der letzten Jahre war es doch eine Überraschung: Jetzt findet mit einemmal die im europaweiten Vergleich größte Frauendemonstration der letzten Jahre statt!

Es war keine „spontane“ Demonstration: drei landesweite Organisationen und zusätzlich die römischen Feministinnen hatten vorgearbeitet, das rein numerische Resultat war aber doch überraschend, viele Frauen hatten Tränen in den Augen, weil sie solches seit Jahren nicht mehr erlebt hatten.

Damit zeigt sich wieder, daß sich die „Frauenfrage“, die ja wohl auch eine Männerfrage ist, sich gleichberechtigt an die Seite der unabhängigen Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen stellt, einen Kern des gesamtgesellschaftlichen Kampfes darstellt.

Generalstreik des Proletariats und des Prekariats, Generalstreik der Frauen

Am 8. März fand, aufbauend auf diese Erfahrung, auf die der Folgemeetings (in Bologna hatte ein weiteres Treffen mit 2000 Frauen stattgefunden) und auch auf die des basisgewerkschaftlichen Generalstreiks ein Generalstreik der Frauen statt, bei dem das Recht zu streiken auch für Einzelpersonen und nicht gewerkschaftlich Organisierte svom Gesetz garantiert war. Dank des harten gewerkschaftlichen Einsatzes und der noch nicht vollends liquidierten Arbeitsgesetzgebung!

Der lange Marsch in den Abgrund

Die Sozialdemokratie steht heute allen Bewegungen im Weg. Man sucht neue politische Formeln und Organisationsformen und muß dabei gegen die Sozialdemokratie (den neuen Sozialdemokratismus) zielen, der, besonders in Italien, zum treuesten Pudel des Neoliberalismus geworden ist. Nur in Ungarn kann oder konnte man eine ähnliche brutale Härte ultraliberalistischer Ausrichtung von Sozialdemokraten beobachten: in der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP).

Die Demokratische Partei Italiens ist, ebenso wie die MSZP, die immer mehr nach rechts driftende SPÖ und die PASOK, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Europas. Die PD ist/war die stärkste der sozialdemokratische Parteien, ihre Vorgängerpartei war die PDS und deren Vorgängerpartei die PCI – letztere die größte aller kommunistischen Parteien Westeuropas - und es hatte sich in den Folgeparteien jeweils noch eine Restsubstanz von linkem Sozialismus und ein Quentchen Kommunismus erhalten, die aber durch die sukzessive, über verschiedene Stufen, ja Brüche erfolgende Umwidmung der Ursprungspartei in Richtung Sozialdemokratisierung, also in Richtung eines großen antiproletarischen und antikommunistischen Konzepts, immer weiter abgebaut wurde, bis unter Renzi die offene Reaktion in dieser Partei die Macht ergriff, der immer noch viele, aus Gewohnheit oder Vertrautheit, anhangen.

Wenn also diese PD gegen das Proletariat und das Prekariat, gegen die Basislinke und die Bewegungen vorgeht, wird sie dafür zahlen müssen.

Emanzipierungsversuche

Sie zahlt erstens dadurch, daß sich eine neue breite Linkspartei gegründet hat, die Sinistra Italiana (SI). Gründungsversammlung war in Rimini vom 17. bis zum 19. Februar. Versuche, im bisherigen politischen Vakuum eine neue Linkspartei zu schaffen, waren dem vorausgegangen, als wichtigste Projekte wären Alba und die Partei des Bene Comune (der commons, des Öffentlichen Gutes) zu nennen. Die Sinistra Italiana ist eine Linkspartei, die voraussichtlich Bestand haben und sich mit etlichen scharfen Reformen ins Zeug legen wird. Durch diesen Gegenpol wird die (italienische) Sozialdemokratie geschwächt, umsomehr als etliche Mitglieder der PD zur SI überwechselten.

Vor kurzem, am 25. Februar, spaltete sich außerdem von der PD ein Teil ab, der nun den definitiven Namen Articolo 1 - Movimento Democratici e Progressisti (frei: Fortschritt und Demokratie“) erhalten hat. Die offizielle Abkürzung ist MDP.

Exkurs: Zum politischen Stellenwert der Verfassung

Ein Teil der Gruppierung bestand zuerst auf die ausschließliche Benennung “Articolo 1“, dann brachte man diese Formel als Zusatzbezeichnung durch. Dabei handelt es sich um einen politisch zentralen Artikel der italienischen Verfassung, der heute auch von denjenigen Bewegungen als Losung verwendet wird, die sich gegen den Abbau der sozialen und politischen Rechte wenden – wenn sich auch die proklamative Verfassungsbezogenheit ein wenig zu einem bekundenden Ritual entwertet hat. Immerhin ist dieser „Articolo 1“ der Introitus der Verfassung, und der Grundcharakter der neuen, nunmehr radikal gegen Faschismus und Königsherrschaft gerichteten Verfassungssubstanz soll gleich am Anfang anklingen: „Italien ist eine demokratische Republik, die auf der Arbeit gründet“.

Wieso so viel Aufsehen um „Arbeit“? Die Arbeiter- und kommunistische Bewegung nach dem Krieg hat, basierend auf den Erfahrungen des linken, kommunistisch geprägten Teiles der Partisanenbewegung, mit „Arbeit“ die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse in der Verfassung verankert (nicht allerdings ohne ausgleichende, in Richtung Sozialpartnerschaft weisende Formeln), und da dieses Kennwort „Arbeit“ in Italien so sehr der Reflex der lebendigen und harten demokratischen und linken Kämpfe der Nachkriegszeit ist, die noch für alle gegenwärtigen Bewegungen Vorbild sind, hat es, als Element eines Verfassungstextes eine Bedeutung, die über den eines simplen Paragraphen weit hinausgeht. Es wurde zu einem – ein wenig sprachrituellen -Bezugspunkt des heutigen Widerstands; aber auch derer, die radikale Demokratie simulieren. Mit der passionierten Bezugnahme auf „Arbeit“ ist gemeint: Wir wollen uns den Inhalt, den diese Paragraphen repräsentieren, nicht wegnehmen lassen!

Manchem mag die Formulierung doch etwas steif und abstrakt vorkommen. Das kommt daher, daß es sich um einen Kompromiß handelt. Die ursprüngliche, von Togliatti vorgeschlagene Formel, war „Italien ist eine demokratische Arbeiterrepublik“ (repubblica democratica di lavoratori), Das war einigen dich wohl zu klassenbezogen, dem christdemokratischen Langzeitpolitiker Fanfani gelang es daraufhin, die Kompromißformel durchzubringen, die heute noch gilt.

Die „demokratische Republik, die auf der Arbeit gründet“ und die kategorische Verwerfung von Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte, das sind zwei – die Bewegungen kodifizierend stützende – politische Kernpunkte der Verfassung. Daher ist von Bewegungen in Ländern, in denen keine derartige politische Bedeutung der Verfassung vorwaltet, Verständnis für diese - genuine bis rituelle – Verfassungstreue zu verlangen. Dies zur Erklärung des etwas bombastischen Titels der Neuformierung.

Mitte-links entsteht neu.

Was ist nun diese Abspaltung? In ihr haben sich diejenigen Kräfte zusammengetan, die bereits in der Partei für ein Nein zum Renzi´schen Referendum optiert hatten, also de facto zu einer parteiinternen Opposition geworden waren. Diese Leute waren bei einer Showveranstaltung Renzis in Florenz von seiner fanatischen Kerntruppe auf die widerlichste Weise mit „fuori!“ (raus) niedergebrüllt worden! Der Stil des Führungskerns.

Aber so brüllten seinerzeit PC-Ordner auf Unità-Festen die Mitglieder der außerparlamentarischen Linken, etwa von Lotta Continua, nieder, wenn diese es wagten, sich unter das Unità-Volk zu mischen oder gar zu versuchen, mit den Parteitreuen zu diskutieren.

Es ist zu erwarten, daß von dieser Gruppierung, die rechts von der Sinistra Italiana steht, der Kampf in etlichen zentralen Punkten gegen wesentliche Konterreformen, also politische Abbaumaßnahmen in den Bereichen Bildung, Arbeitsrecht, Prekariat, mitgetragen wird. Insofern ist die Gruppierung nicht nur nützlich, sondern mitnotwendig. Würde sich die Gruppierung darauf nicht einlassen, könnte sie nicht überleben.

Sinistra.

Wir haben hier vor uns einen zum Teil weit nach links driftenden Mitte-Links-Bereich, der zur Zeit aus zwei Lagern besteht: aus dem sich selbst als reformerische Mitte-Links-Formation verstehenden MDP und aus dem linkeren der Sinistra Italiana. Die SI kann, gewissermaßen als Erbe der Partei SEL („Sinistra Ecologia Libertà“ (5)), die sich von der Rifondazione abgelöst hatte, als viel linker eingestuft werden; die SEL hat sich vor kurzem aufgelöst und ist in die SI integriert worden - deren stärkster Bestandteil sie ist/war.

Wenn wir hier noch nicht die radikalen Massenbewegungen und noch weiter links stehende Parteien und Kräfte beschrieben haben, so haben wir zumindest an dieser sehr nützlichen und wichtigen Breitenpolitik ablesen können, wie erfolgreich es sein kann, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Damit wird ein gefährlicher Gegner in die Ecke getrieben. Allein deswegen wäre es völlig falsch, diese reformerischen Neubildungen aus einem selbstzufriedenen radikalen Winkel heraus großspurig zu verwerfen.

In Italien ist es gelungen, die PD wurde durch die neue Linkspartei geschwächt und sie wurde durch die MDP geschwächt.

Ein weiteres Gebilde lockt und wirbt ab.

Zusätzlich ist noch eine Formation am Entstehen, die in der Nähe der PD, aber in scharfer Opposition zu Renzi, ausgebrütet wurde und offiziell am 11. März in Rom an die Öffentlichkeit getreten ist.

Eine Organisation aus der Retorte? Sie nennt sich, nicht sehr originell, campo progressista („Das Lager des Fortschritts“), eine Initiative rund um den ehemaligen Bürgermeister von Mailand Pisapia. Das Projekt versteht sich ebenso wie das MDP als neue Mitte-Links-Bewegung und sieht sich in der Tradition des Ulivo, und es ist diesen Pragmatikern gelungen, die Parlamentspräsidentin Laura Boldrini, die noch in Rimini auf der Gründungsversammlung der Sinistra Italiana aufgetreten war, auf ihre Seite zu ziehen. Von der SEL war sie noch ins Parlament und dann auf einen der höchsten Posten befördert worden, auf den der Präsidentin der Abgeordnetenkammer. Das ist der Dank.

Auf der von Pisapia lancierten politischen Veranstaltung Futuro Prossimo (sehr frei: „Unsere Zukunft“), die Mitte Februar in Mailand stattfand und auf der er sein Projekt Campo Progressista vorstellte, gab Boldrini Folgendes zum besten: „Ich möchte eine Linke der Arbeit, eine feministische Linke, eine Umweltlinke und eine proeuropäische Linke.“

Wie versteht sie Letzteres? „Wir müssen uns auf das Europa der Gründerväter besinnen, auf die Vereinigten Staaten von Europa. Aber dieses Europa muß wieder ein menschliches Gesicht erhalten, es muß wieder näher an den Menschen sein.“ Ein europäischer Einheitsstaat – der sich den Menschen zuwendet.

Also auch dies gelang: nicht nur die Schwächung der PD durch linkere Formationen, sondern auch die Schwächung neuer linker Formationen durch Wiederaufgüsse von PD-Politik.

In diesem Bereich der drei reformerischen Mitte-Links-Neugründungen findet - fast schon gesetzmäßig - ein ununterbrochenes Fluktuieren statt: rechte Senatoren haben sich von der SI getrennt und sind zum MDP übergelaufen, Leute von der PD gingen zur SI. Boldrini ist nur die Spitze eines Eisbergs, der aus geschäftigen Überläufern, Informanten, Zuträgern besteht. Das MDP stellt ein politisches Sammelsurium dar. Zusammen mit linkeren und demokratischer Eingestellten finden sich im MDP auch „Konservative“, ja PD-Rechte, es sind vergangene Machthaber und ehemalige oberste Funktionsträger von PC, DS und PD in das MDP miteingewandert. Dazu gehören Bersani, ehemaliger Parteisekretär der PD, und D´Alema, ehemaliger Bürgermeister von Rom, der nicht zu den Linken zu zählen ist und der, wie auch der derzeit mehr im Hintergrund stehende Veltroni, schon in der PC seine Karriere begonnen hat. Sodaß das MDP aus „Autoritären“, aus PD-Reformern und aus SI-Rechten zusammengesetzt ist. Ob sie sich alle zusammen läutern werden?

La gauche de la gauche.

Nun gibt es auch ein Parteienspektrum links von SI und MDP. Im Zentrum steht da zunächst die vor zwei Jahren neugegründete Kommunistische Partei Italiens (PCI). Die Partei bezieht sich auf Togliatti, der, bei all seinen Verdiensten, doch durch die Liquidierung des Konzepts der Herrschaft des Proletariats den Weg der italienischen Kommunisten in die Bourgeoisie sehr früh eingeleitet hat, und sie bezieht sich auf Berlinguer, der der erbittertste Feind der neuen sozialen Bewegungen der Siebzigerjahre war, sie bezieht sich aber auch auf Gramsci. In praxi ist sie aber äußerst wertvoll: eine ihrer Hauptaktivitäten ist der Kampf gegen die NATO, daneben auch ihre Zusammenarbeit mit dem italienischen Anti-EU-Lager. Dann die trotzkistische Kommunistische Arbeiterpartei (Partito Comunista dei Lavoratori), die sehr langsam wächst. Darüber werden wir in der Folge berichten. Das Wesentliche in einer Periode eines Umbruchs aber ist die Radikalisierung und Stärkung linker und kommunistischer Kräfte, radikaler Kräfte!

Durch große gesellschaftliche Veränderungen werden aber auch die matteren reformerischen Organisationen erfaßt und verändert. Und dafür müssen sie büßen!

Vendetta.

Die Rache der Sozialdemokratischen Partei Europas ließ nicht auf sich warten. Die Bewegung Demokratie und Fortschritt (MDP) wurde zum Feind erklärt und, so berichtete am 3. März allen voran die Renzi-nahe Parteizeitung Unità, aus diesem europäischen Dachverband ausgeschlossen.

Endnoten

1) Associazione Diritti Lavoratori : für die (zur Verteidung der) Rechte der Arbeiter

2) Lavoratori Autorganizzati: autonom organisierte Arbeiter

3) SAC, Sveriges Arbetares Centralorganisation, starke libertäre Gewerkschaft

4) CGT, Confederación General del Trabajo, anarchosyndikalistisch. Sehr präsent bei den gewerkschaftlichen wie allgemeinpolitischen Mobilisierungen, die moderatere “Stiefschwester” der CNT. Nicht zu verwechseln mit der französischen CGT.

5) SEL, Sinistra Ecologia Libertà: Linke, Umwelt, Freiheit

Editorischer Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Den 2. Teil erwarten wir im April.