Marokkos Großmachtambitionen in Afrika

von Bernard Schmid

03/2017

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Internationales Aufsehen erregt ein Prozess, der am Montag dieser Woche (den 13. März 17) in Rabat begann. In der marokkanischen Hauptstadt, genauer in ihrer Doppelstadthälfte Salé, wurde zu Wochenbeginn das Berufungsverfahren gegen 25 Aktivisten für die Unabhängigkeit der Westsahara eröffnet. Dieses Territorium, das von Beobachtern mitunter als „letzte Kolonie in Afrika“ – im klassischen Sinne – bezeichnet wird, war bis 1975 durch die frühere Kolonialmacht Spanien besetzt. Danach wurde es durch Marokko okkupierte, dessen Regime in einem „grünen Marsch“ rund 200.000 spätere Siedler auf den Weg schickte und dadurch zugleich eine wunderbare Ablenkungsmöglichkeit für alle innenpolitischen Schwierigkeiten schuf.

Doch mit Unterstützung des Nachbarstaats und großen Rivalen Algerien kämpft seitdem die „Frente Polisario“, so lautet die ursprüngliche spanische Abkürzung für „Befreiungsfront für die Westsahara und Rio de Oro“, gegen die marokkanischen Behörden. Das Regime in Rabat errichtete eine Mauer quer durch das besetzte Gebiet und umzäunte auf diese Weise den aus seiner Sicht „nützlichen Teil“ der Westsahara, wo die Bevölkerungszentren liegen und vor allem größere Phosphatreserven lagern. Den Konflikt vermochten das Regime, seine Soldaten und Siedler bislang nicht vollständig einzudämmen. Erst Anfang März dieses Jahres zogen sich die marokkanischen Truppen aus dem Umland von Guerguerate, einer Siedlung in einem „Niemandsland“ zwischen den marokkanischen Befestigungen und der marokkanischen Grenzen, infolge von Reibereien mit Polisario-Kombattanten zurück.

Im Oktober 2010 entstand in der Nähe der Hauptstadt des besetzten Territoriums, Laayoune, ein Protestcamp, das auf dem Höhepunkt bis zu 15.000 Menschen in dreitausend Zelten umfasste. Vor allem Binnenflüchtlinge, die in Folge des bis heute anhaltenden Konflikts aus ihren Häusern vertrieben wurden, protestierten gegen ihre Lebensbedingungen. Das marokkanische Regime ließ die Zeltstadt mit brutaler Gewalt räumen. Dabei wurden am 8. November jenes Jahres laut marokkanischen Angaben elf Polizisten, laut Zahlen der Polisario 36 von deren Kombattanten und Demonstranten getötet. Beide Seiten veröffentlichten allerdings bislang keinerlei individuelle Namen von eventuellen Opfern, um die mutmaßlich jeweils übertriebenen Behauptungen zu untermauern. Unter elffachem Mordvorwurf ließ die marokkanische Staatsmacht jedoch elf vormalige Insassen des geräumten Camps von Gdeim Izik gerichtlich verfolgen. Dabei legte sie jedoch keine Namensliste der Opfer vor, in deren Namen Anklage erhoben wurde.

Alle wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit gefoltert, und die mutmaßlich unter Folter erpressten Geständnisse dienten als einzige Beweise in einem Prozess, der 2013 zur erstinstanzlichen Verurteilung aller Angeklagten führte. Das Strafmaß betrug zwischen zwanzig Jahren und lebenslanger Haft. Doch im Juli 2016 verurteilte das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen das Marokko in dieser Sache, weil Foltervowürfe erwiesen seien. Daraufhin beeilte sich das Regime in Rabat, zu reagieren, weil es seine internationale Imagekampagne konterkariert – mit welcher es sich als besonderen Freund der Menschenrechte darzustellen versucht, seitdem die 2011 im Kontext des „arabischen Frühlings“ vorgelegte neue Verfassung erstmals Folter ausdrücklich verbietet. Innerhalb von 14 Tagen ordnete es einen Berufungsprozess an, welcher dreieinhalb Jahre lang verschleppt worden.

Am 26. Dezember vorigen und 23. Januar dieses Jahres fanden erste Verhandlungstage statt. Dabei erwies sich das Gericht als außerordentlich parteiisch. Drei französische Anwältinnen und Anwälte plädierten für die Angeklagten, denn nimmt eine marokkanische Standeskollegin das Wort „besetzte Westsahara“ in den Mund, wird ihr umgehend die Zulassung entzogen. Sobald die Worte „Folter“ oder auch „besetztes Gebiet“ fielen, wurden die Verteidiger jedoch durch Vorsitzenden Richter, Staatsanwalt und Anwälte der als Nebenkläger auftretenden Polizisten gleichzeitig niedergeschrien. Und der Gerichtspräsident ließ sich dazu herab, zu behaupten, das Anti-Folter-Komitee der UN existiere nicht oder seine Entscheidungen seien für Marokko als Nicht-Unterzeichner-Staat nicht bindend – was unsinnig ist, da eines der fünfzehn offiziellen Mitglieder des Komitees ein Repräsentant Marokkos ist.

Anfang dieser Woche wurde die Verhandlung fortgesetzt. Entgegen ursprünglichen Annahmen platzte die Verhandlung nicht. Die marokkanische Presse begleitet das Verfahren mit einer Kampagne, durch die sich anzudeuten scheint, dass nicht mit einer Verminderung des Strafmaßes zu rechnen ist.

Den drohenden Imageschäden versucht das marokkanische Königreich unterdessen ebenfalls durch eine proaktive Diplomatie und expansive Wirtschaftspolitik auf dem gesamten afrikanischen Kontinent auszugleichen. Einer der Meilensteine dabei ist die Rückkehr des Landes in die Afrikanische Union (AU). Seine Wiederaufnahme war im Juli 2016 beantragt und wurde am 30. Januar dieses Jahres juristisch vollzogen. Just am Montag dieser Woche (13.03.17), also zeitlich parallel zum Prozessauftakt in Rabat – was wohl nicht beabsichtigt war – wurde die grün-rote marokkanische Nationalfahne auf dem Gebäude des AU-Sitzes im äthiopischen Addis Abeba gehisst.

Marokko war 1984 aus der Vorläuferorganisation der AU – der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) – ausgetreten, weil dort auch die Polisario im Namen der von ihr proklamierten „Arabischen Sahraouischen demokratischen Republik“ (RASD) einen Sitz als Exilregierung innehat. Um seinen Sitz wiedereinzunehmen, musste das marokkanische Regime zwar die Charta der AU unterzeichnen, die unter anderem die Prinzipien der Entkolonialisierung und des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung besetzter Territorien enthält. Das marokkanische Regime macht jedoch auf innenpolitischer Ebene Auslegungsvorbehalte geltend, denen zufolge die jeweiligen Formulierungen, entsprechend interpretiert, auf die Situation Marokkos und der Westsahara vermeintlich nicht zutreffen.

Parallel dazu tritt Marokko in jüngster Zeit als Großinvestor in mehreren afrikanischen Staaten wie Côte d’Ivoire, Mali und Senegal auf, exportiert aber auch seine Imame und Material für Religionsschulen dorthin. Anfang März d.J. offerierte das marokkanische Königshaus der Côte d’Ivoire eine Moschee und 10.000 Exemplare des Koran. Die Mehrzahl der Staatsführungen in Westafrika lässt sich ferner öffentliche Bauten von Marokko errichten, während der Präsident von Mali – Ibrahim Boubacar Keïta – sich allerdings eher vordringlich daran interessiert zeigte, dass die Gäste aus Nordafrika seine persönliche Villa fertigbauen. Die wirtschaftspolitische Charmeoffensive geht mit einer intensiven Reisetätigkeit des Königs auf dem Kontinent einher. Im vorigen Oktober war er beispielsweise in Ostafrika – unter anderem in Rwanda und Tansania -, Ende Februar 17 weilte er auf Staatsbesuch in Guinea, und Anfang März war er formal auf Urlaub im zentralafrikanischen Gabun.

Als Finanzier von Infrastrukturmaßnahmen hat das marokkanische Regime dabei zum Teil die frühere Rolle, die Libyen unter dem vormaligen Gaddafi-Regime auf dem afrikanischen Kontinent spielte, übernommen. Mit dem gewichtigen Unterschied, dass Marokkos Regionalmachtambitionen bei den internationalen Großmächten wohlgelitten sind. Die Ambitionen Marokkos werden finanziell dadurch ermöglicht, dass das Land nach dem Ausbruch der Finanzkrise in den USA 2007/08 zum Standort vieler Banken, Versicherungskonzerne und Finanzinstitute geworden ist – als „sicherer Hafen“ sowie Drehscheibe bei der Durchdringung Afrikas. Das wirft nebenbei mächtig Steuern für den marokkanischen Staat ab.

Am 06. November 2016 hielt der marokkanische Monarch, wie alljährlich, seine Rede zum Jahrestag des Beginns des „grünen Marsches“. Die Besonderheit bei diesem Mal war jedoch war, dass Mohammed VI. seine Ansprache nicht im eigenen Land, sondern in der senegalesischen Hauptstadt Dakar hielt.

In der letzten Februarwoche 2017 stellte Marokko nun auch noch einen Antrag auf die Aufnahme in die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft, französisch CEDEAO oder englisch ECOWAS abgekürzt, die bislang von Senegal im Nordwesten bis Niger und Nigeria im Osten reicht. Ein Beitritt würde mit einem Austritt aus der Regionalintegration „Union des arabischen Maghreb“ (UAM), welcher Marokko bislang angehört – wo das Land sich aber an seinem Rivalen Algerien stößt – einhergehen. Marokko teilt allerdings keine direkten Landgrenzen mit den bisherigen Mitgliedsländern der Wirtschaftsunion, was das Ganze nicht unkompliziert macht. Nach 23 Staatsbesuchen des marokkanischen Königs in elf Ländern der Cedeao/Ecowas in den letzten Jahren wird dies allerdings von seiner Seite als kaum störendes Detail betrachtet.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.