Neuerscheinung
Thomas Metscher »Integrativer Marxismus«

besprochen von
Dieter Kraft

03/2018

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Im Mangrovenverlag ist jetzt von Thomas Metscher das Buch »Integrativer Marxismus - Dialektische Studien. Grundlegung« erschienen. Nach den Planungen von Thomas Metscher handelt es sich um den Band 1 eines auf vier Bände angelegten Projektes. Dieter Kraft bespricht das, wie er schreibt, "fulminante Werk eines marxistischen Philosophen".

Dass ausgerechnet ein protestantischer Theologe das fulminante Werk eines marxistischen Philosophen besprechen darf, hat womöglich etwas mit diesem Werk selbst zu tun. Immerhin trägt eines der sechs Kapitel ein Wort des Apostel Paulus: "Prüfet alles, das Gute behaltet." (1. Thess. 5, 21). Ein Wort aus der ältesten Schrift des sogenannten "Neuen Testaments", das völlig angemessen auch als Untertitel zu Metschers neuestem Buch hätte stehen können: Integrativer Marxismus – Prüfet alles, das Gute behaltet. Jedenfalls ist es die Grundmaxime, mit der der Autor ein unglaublich weites Feld durchschreitet, um Antworten auf die Frage zu finden, wie konsistent und universal zugleich der Marxismus heute sein müsste, wenn er den globalen Herausforderungen unserer Gegenwart in Theorie und Praxis gerecht werden will. Und diese Herausforderungen sind exorbitant, denn: "Unverkennbar tritt die Welt in eine historische Entscheidungsphase, an deren Ende der Rückfall in vorzivilisatorische Lebensverhältnisse, wenn nicht die Auslöschung menschlich bewohnter Welt stehen kann." Aber Metscher wäre kein Marxist, wenn er nicht sofort hinzufügen würde: "doch auch der Beginn einer neuen, anderen Welt, die auf den Prinzipien der Kooperation, Gleichheit und eines hegenden Umgangs mit der Natur beruht." (25)

Weil ersteres immer wahrscheinlicher zu werden beginnt und letzteres zunehmend utopischer, aber auch alternativlos zu sein scheint, stehen Marxisten heute in einer Situation, in der sie gezwungen sind, den Marxismus neu zu konzipieren – nicht zu reformieren, sondern zu weiten. Und Metscher geht für dogmatisch Verengte sehr weit, wenn er sagt: "Die Ausarbeitung des Marxismus, die seine Zukunftsfähigkeit sichern soll, hat nicht allein durch die Aneignung des Universums überlieferten Wissens und überlieferter Kultur wie die Einarbeitung der Ergebnisse der positiven Wissenschaft zu erfolgen. Dazu gehört vielmehr, im vollen Umfang, die Verarbeitung auch nichtwissenschaftlicher Weltanschauungs- und Wissensformen: vom Alltagsbewusstsein und Sprache über Mythos, Religion bis zu den Künsten. Dabei geht es nicht allein und auch nicht in erster Linie um die Ausarbeitung des Falschen und ‚Ideologischen‘ in diesen Formen (dies gehört selbstverständlich immer dazu: die Kritik ist die Bedingung des Gewinns positiven Wissens), sondern gerade um das Herausarbeiten ihrer Wahrheitsmomente. In diesem Sinn ist ein Marxismus der Zukunft als eine Synthesis von Wissensformen zu konzipieren." (43) Prüfet alles, das Gute behaltet – Integrativer Marxismus. So ähnlich hat auch Lenin gedacht – und nicht nur im Blick auf die drei Quellen des Marxismus.

Nicht erst in dem vorliegenden Band hat sich Metscher für eine Konzeption eines integrativen Marxismus eingesetzt. Seine vielfältigen Verweise auf sein überaus opulentes Œuvre [1] sind außerordentlich hilfreich, sein Insistieren auf einen kontextualen Gesamtzusammenhang marxistischer Theoriebildung adäquat einordnen und verstehen zu können. Doch in seinem neuen Werk, das ganz bewusst auch ältere Texte enthält, fokussiert Metscher seine theoretische Perspektive zugleich auf eine Frage, die von manchen Linken womöglich als "Querfront" denunziert werden wird. Und diese heute alles entscheidende Frage lautet: Ist der Marxismus in der Lage in seiner eigenen Theoriebildung jene bündnispolitische Komponente zu verankern, die allein uns hoffen lassen darf, dass dem weltzerstörenden Imperialismus eine Kraft entgegenwirkt, die ihn nicht zum Ende der Menschheitsgeschichte werden lässt. Damit werden Metschers "Dialektische Studien", wie er seine einzelnen Untersuchungen im Untertitel nennt, zugleich zu einer eminent politischen "Grundlegung".

Im Zentrum dieser "Grundlegung" steht, als könnte es gar nicht anders sein, die Dialektik, die heutzutage von anderen marxistischen Autoren bereits ins Exil der Philosophiegeschichte verabschiedet wurde. Für Metscher hingegen steht und fällt der Marxismus, erst recht ein integrativer Marxismus, mit eben jener Dialektik, die als eine geradezu ontologische Struktur [2] natürlich das Sein und auch das Denken des Menschen bestimmt. Dialektik ist eine "Fundamentalkategorie" (173), die zum Nukleus marxistischer Theorie und Praxis gehört. "Der entscheidende Schritt dialektischer Erkenntnis ist der des Erkennens der wechselseitigen Abhängigkeit des Einen vom Anderen, eines grundlegenden Reflexionsverhältnisses", das sich auf einen "unendlichen Progress" (186) bezieht und deshalb alles Dogmatische kategorisch ausschließt und kein statisches "Entweder – Oder" (200) zulässt. Das aber heißt: die Dialektik führt in eine Expansion, kraft derer auch der Marxismusbegriff expandiert zu einem "Begriff von Marxismus, der neben dem Kernbereich der Wissenschaft auch Philosophie und Kunst umfasst – der Marxismus als Trias von Wissenschaft, Kunst und Philosophie" (14).

Und mehr noch: Diese "Trias" eines dialektisch konzipierten Marxismusbegriffs eröffnet Perspektiven und Themenbereiche, die herkömmlicherweise ignoriert oder gemieden oder eskamotiert [3] worden sind. "Felder theoretischer Erweiterung" (139) nennt Metscher jene Komplexe menschlichen Lebens, die bisher fast ausschließlich zum Besitzstand von Idealismus, Existenzialismus und Religion gehörten.

Aber wenn Zeugung, Geburt, Liebe, Glück, Leid, Krankheit und Tod "Grundtatsachen menschlichen Daseins" (140) sind, dann gehören sie ebenso in den Reflexionshorizont marxistischen Denkens wie die sog. Sinnfrage. "Der Marxismus, will er mehr sein als eine bloß kritische Theorie – der Marxismus als philosophische Weltanschauung – kann solchen Fragen so wenig ausweichen wie den Erfahrungen, aus denen sie hervorgehen." (141) Auf dem "Terrain des Begriffs" werden sie philosophisch wohl kaum zu beantworten sein, aber auf dem "Terrain der Kunst" können sie einen Ort der Bewältigung finden. So ähnlich hat das übrigens auch Peter Hacks gesehen, als er seinen "Numa"[4] sagen ließ: "Wenn sich die Menschheit selbst gerettet hat, / muss sich der Mensch noch immer selber retten."

"Der Marxismus ist seinem Wesen nach eine emanzipatorische Theorie. Sein Ziel ist ein diesseitiges: reale Befreiung, ein von Angst, Gewalt und Not befreites Dasein auf der Basis menschlicher Gleichheit."

   

Thomas Metscher ist bekanntlich nicht nur Philosoph, er ist Anglist und Germanist, er ist Kunst- und Kulturtheoretiker und wohlbekannt auch als ehemaliger Professor für Ästhetik. Und glücklicherweise spiegelt sich dieses multiple Wissenschaftsprofil auch in seinem Marxismusverständnis: Integrativer Marxismus.

Zu dem gehört selbstredend auch die Auseinandersetzung mit der Religion, die für ihn fast unproblematisch ist, solange die Religion nicht Kriegs- und Herrschaftsdienst leistet. Weil zum Marxismus kein prinzipieller Atheismus gehört und weil es sich bei Theismus und Atheismus gleichermaßen um Glaubensfragen handelt, dürfen sie getrost Privatsache sein und bleiben. Für den Marxismus gilt allein das Wissen, auch wenn dieses Wissen an Grenzen gebunden ist, die nicht durch Glaubenssätze überschritten werden dürfen, sondern allein durch mehr Wissen. Ein "religionsförmiger" Marxismus "deformiert sich zur Ideologie" (145). Auch in diesem Zusammenhang wird Metschers unbedingtes Interesse an einer möglichst breiten und umfassenden Bündnispolitik deutlich: "Der Raum für »kommunistische Christen/Innen« ..., für jeden Glauben, der die sozialistisch/kommunistische Zielsetzung bejaht, muss seitens des Marxismus wie seiner Organisationen ohne Vorbehalt offen sein." (147)

Es ist auch dieses politische Interesse, dass Metschers Umgang mit dem Utopiebegriff bestimmt. Dabei geht es keineswegs um die Annullierung der Engelsschen "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", wohl aber um die heute immer bedrängender werdende Frage, was der Marxismus dem Imperialismus eigentlich entgegenzusetzen hat – außer Analyse und Kritik.

Wir stehen vor und zum Teil auch schon mitten in einer Epochenkrise, die für die zivilisierte Menschheit in Barbarei oder gar im Exitus enden könnte. Der Kapitalismus hat eine Gesellschaft geschaffen, deren Sozialität zunehmend zu Makulatur wird. Die Entwertung aller zivilisatorischen Werte durch die "Vermarktung des Menschlichen" (Lucien Sève) führt in der finanzgetriebenen Globalisierung in den "konvulsivischen Durchbruch einer »Un-Welt«" des Hieronymus Bosch.

Und deshalb Metschers Frage nach der "konkreten Utopie": Welche Welt- und Gesellschaftsbilder haben wir dem entgegenzusetzen? Welche "Konstruktion von Möglichem" (158), welche alternative Perspektive auf das Zukünftige, auf eine andere, eine neue Kultur? Eine Perspektive, die auch anderen zur Orientierung werden könnte! Es klingt geradezu apodiktisch, wenn Metscher schreibt: "Ich plädiere für die Notwendigkeit einer solchen Utopie. Sie folgt aus der praktischen Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft als es die bestehende ist." Ich "plädiere dafür, das Moment utopischen Denkens in den Marxismus zurückzuholen – nicht im Sinn von »Rezepten für die Garküche der Zukunft«, wie Marx spottend gesagt hat, sondern als Denken des geschichtlich Möglichen, im Hier und Jetzt möglich Gewordenen: der konkreten Utopie." (156)

Schon jetzt gibt es heftigen Einspruch gegen die Implantierung des Utopiebegriffs in den Marxismus (junge Welt 3./4. 02. 2018, S. 13). Aber dass es bei Metscher um den Weg zurück von der "Wissenschaft hin zur Utopie" geht, davon steht in seinem Buch wirklich nichts. Ganz im Gegenteil: "Der Marxismus steht als wissenschaftliche Theorie auf dem Boden der Wissenschaften und des von ihnen erarbeiteten positiven Wissens." (44) Und er hat dabei alle Ergebnisse der positiven Wissenschaften kritisch und zugleich vorurteilsfrei zu verarbeiten und "kraft der Methode dialektischer Kritik das Wahre und Falsche, Brauchbare und Unbrauchbare sorgfältig zu scheiden", um das Wahre und Brauchbare "in den Korpus marxistischen Wissens einzuarbeiten" (42).

Dieser Metschersche Ansatz ist ebenso kühn wie notwendig. Aber es ist schon so: Die Dialektik bringt selbst den Marxismus zum Tanzen, denn Dialektik hat es nicht nur mit dem Widerspruch zu tun, sondern auch mit der integrativen Synthese, die die Wahrheit im Alten in die Wahrheit des Neuen aufhebt und in der Wechselwirkung selbst des Konträren neues Wirken erzeugt. Und Metscher zeigt in seinem großartigen Buch, dass das für alle Themenbereiche zutrifft, auch für Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Ethik, Ideologie... Sein Projekt ist auf vier Bände angelegt. Der erste liegt uns nun vor, und wir dürfen mit Spannung auf die Fortsetzungen warten, die vieles, was in der "Grundlegung" nur in Abbreviationen[5] zur Sprache gebracht werden konnte, entfalten und entwickeln wird.

An einem Grundsatz freilich können wir uns schon jetzt festhalten. "Der Marxismus ist seinem Wesen nach eine emanzipatorische Theorie. Sein Ziel ist ein diesseitiges: reale Befreiung, ein von Angst, Gewalt und Not befreites Dasein auf der Basis menschlicher Gleichheit. Das bedeutet: Sozialismus als reale Demokratie. Für diesen Zweck sollten alle Kräfte, die sich diesem Ziel verpflichten, zusammentreten." (285)

Für dieses politische Ziel hat Thomas Metscher ein grundlegendes theoretisches Werk vorgelegt.

Erläuterungen (eingefügt von kommunisten.de)

[1] Œuvre: Arbeit, Werk, Lebenswerk
[2] Ontologie: philosophische Lehre vom Sein und dessen Prinzipien.
[3] eskamotieren: durch einen Trick verschwinden lassen; weginterpretieren
[4] Numa: Theaterstück von Peter Hacks (1928 - 2003, das in einem nachrevolutionärem Italien spielt und das Problem des Dogmatismus, des Beharrens und der Stagnation aufgreift. Ein ständiges Denken in Widersprüchen, ein Aufstieg zu vertiefter Erkenntnis und entsprechendem Handeln sei notwendig, um den Sozialismus weiter zu entwickeln. Jede Form von Beharren und Stagnation sei gefährlich und letztendlich tödlich. "Wenn wir für knappe Weile noch verhindern,/Daß was geschieht, geschieht, was uns nicht lieb wär."
[5] Abbreviation: Verkürzung

Thomas Metscher
Integrativer Marxismus. Dialektische Studien. Grundlegung

Mangroven Verlag,

Kassel 2017, 306 S.

25,00 Euro

Quelle: http://www.kommunisten.de/ueber-joomla/lieratur-und-kunst

Hinweis: Es handelt sich dort  um einen Vorabdruck aus der Nr. 114 der Zeitschrift Z, die im Juni 2018 erscheinen wird.