Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Migration & Asylrecht
Streit um „Ausländer“politik auch im Regierungslager

03/2018

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Ein Minister hält das Maul, oder er tritt zurück“: Auf diese relativ drastische Art und Weise hatte dereinst Jean-Pierre Chevènement, sozialdemokratischer Multiminister in den achtziger und neunziger Jahren und später Gründer einer Anti-EU-nationalistischen Kleinpartei, seine Konzeption der Amtsführung beschrieben. Den Ausspruch tätigte er, um ein Nichteinverständnis mit dem damaligen Staatspräsidenten François Mitterrand im Jahr 1983 aus Anlass seines Rücktritts von einem Ministeramt – es sollte nicht der letzte Rückzug Chevènements bleiben – zu signalisieren. (Chevènement sollte jedoch später noch mehrfach Minister werden, unter anderem „Verteidigungs“minister von 1988 bis 91 sowie Innenminister in den Jahren 1997 bis 2000.)

An den Spruch erinnern sich noch immer viele Politikbeobachter in Frankreich. In diesen Tagen müsste er allerdings wohl eine Abwandlung erfahren. In den vergangenen Wochen meldete sich die französische Kulturministerin François Nyssen zu Wort - oder versuchte es jedenfalls. Denn leider signalisierte ihr der Elysée-Palast, dass ihre geplante öffentliche Stellungnahme „zu Missverständnissen Anlass geben könnte“. Daraufhin kniff die Dame gegenüber ihrem Vorgesetzten und Staatspräsidenten Emmanuel Macron und hielt es dann doch mit dem Statement ihres einstigen Ministerkollegen Chevènement, nicht in der Variante Rücktritt, sondern eher in der Form eines Rückziehers.

Um Missverständnisse ging es freilich nicht, eher wohl fürchtete man im Präsidialamt, Madame Nyssen könne richtig verstanden werden. Wie andere Prominente, die bei der Präsidentschaftswahl im Vorjahr noch ohne zu zögern Emmanuel Macron unterstützt hatten, verspürt sie erhebliche Bauch- und Kopfschmerzen gegenüber dessen Migrationspolitik. Nyssen forderte daraufhin Mitte Januar dieses Jahres mindestens zehn Leiter öffentlich-rechtlicher Kultureinrichtungen dazu auf, zusammen mit ihr einen Aufruf zu unterzeichnen, indem es unter anderem hieß: „Stellen wir uns vor, dass unsere Kinder sich in zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren umdrehen und unser Tun befragen. Und fragen wir uns: Werden sie stolz sein können auf das, was sie dann sehen?“ Ihre Antwort fiel wohl negativ aus. In einer Ansprache bei einer Kulturtagung in Nantes am 17. Januar 18 – wo sie dann doch deutlich wurde - schlug Nyssen als Alternative zur aktuell eingeschlagenen Politik gegenüber den Migranten vor: „Die Kulturwelt hat die Pflicht zu reagieren. Lasst Ihnen uns eine Aufnahme bieten, die dieses Wortes würdig ist. Unsere Ehre, die unserer Kultur, unserer Republik hängt daran.“ Demonstrativ weihte Nyssen kurze Zeit später auch eine Ausstellung über Künstler im Exil ein.

Diese Worte war sicherlich ziemlich moralisch-pathetisch formuliert. Doch die ihnen zugrunde liegende Kritik an der derzeitigen Migrationspolitik im Macron-Lager wird von Vielen geteilt, auch Personen, die ihm nahe stehen. Die staatliche Politik gegenüber den Migranten war ab Herbst 2017 sukzessive verschärft worden, nachdem am 1. Oktober 17 ein Tunesier im Hauptbahnhof von Marseille zwei junge Frauen erstochen hatte und dabei selbst erschossen wurde. Der Mann mit psychischen Störungen, der sich in der letzten Phase eine vage jihadistische Ideologie zulegte (der IS bekannte sich im Nachhinein zu der Tat), war kurz zuvor wegen Ladendiebstahls festgenommen und in eine Abschiebehaftanstalt in der Nähe von Lyon verbracht worden. Aufgrund von Platzmangels, also weil Überbelegung herrschte, überdies Wochenende war und weil sein „Fall“ damals nicht als dringlich galt – er war nicht als so genannter Gefährder eingestuft -, war er jedoch durch die dortige Verwaltung am selben Tag wieder entlassen worden.

Seitdem sollen alle illegalisierten Migranten seine Tat in gewisser Weise mit bezahlen, indem die Abschiebepolitik drastisch verschärft wird. Eine ministerielle Anweisung vom Dezember 17 – die durch mehrere NGOs vor dem Conseil d’Etat (höchsten Verwaltungsgericht) angefochten, allerdings durch dieses bestätigt, jedoch eingeschränkt wurde - ordnete zudem an, in Notunterkünften für Wohnungs- und Obdachlose sollten Sozialarbeiter und andere Beschäftigte dabei mitwirken, die Betreffenden nach Vorhandensein oder Fehlen einer Aufenthaltsberechtigung zu sortieren. Im November 17 erging bereits die Anordnung von Innenminister Gérard Collomb, zügige Ausreisebescheide an alle abgelehnten Asylsuchenden auszustellen.

Ein im Januar 18 als Vorentwurf bekannt gewordenes Gesetzesvorhaben, das am Mittwoch, den 21.02.18 vom Kabinett als Regierungsentwurf angenommen wurde und nun ab April dieses Jahres im Parlament debattiert werden soll, sieht weitere drastische Verschärfungen vor. Die in Frankreich bislang relativ kurze Abschiebehaft – in mehreren deutschen Bundesländern kann sie bis zur nach EU-Recht zulässigen Höchstdauer von anderthalb Jahren gehen – soll zum Beispiel von derzeit maximal 45 Tagen auf künftig neunzig, unter Umständen auch 135 Tage ausgedehnt werden. Entscheidender ist, dass ein Einspruch gegen die erstinstanzliche Ablehnung in Zukunft in bestimmten Fällen keine aufschiebende Wirkung mehr haben soll. So soll eine Abschiebung möglich werden, noch bevor die zweite Instanz, die in Frankreich beim „Nationalen Gerichtshof für Asylrecht“ (CNDA) zentralisiert ist, entschieden hat – wer dort gewinnt, kann dann gegebenenfalls wieder einreisen, wenn ihm oder ihr nichts zugestoßen ist. Keinen Aufschub gegen Abschiebungen erhalten sollen Asylsuchende, die einen Folgeantrag stellten, die in Frankreich einen bestimmte Gesetzesverstöße begingen oder die aus Herkunftsländern stammen, welche offiziell als „sicher“ eingestuft wurden. Doch auch bei Menschen aus „sicheren Herkunftsstaaten“ gibt es begründete Asylgesuche, die in der Praxis auch mitunter in zweiter Instanz durchkommen, besonders bei spezifischen Bedrohungen wie Genitalverstümmelung oder bei Homosexuellen.

Auch innerhalb der, erst vor weniger als einem Jahr entstandenen Regierungspartei La République en marche (LREM) regt sich wachsende Opposition. Besonders Abgeordnete mit Migrationshintergrund – in der jungen Generation wächst ihr Anteil – oder von der Linken kommende Angehörige des eher sozialliberalen Flügels bei LREM lassen sich kein Blatt mehr vor den Mund halten. Seit dem Donnerstag, 22. Februar d.J. wollen, trotz einer expliziten Unterlassungsaufforderung von Innenminister Collomb, um die dreißig Abgeordnete der Regierungspartei Änderungsanträge zum geplanten neuen Ausländer- und Asylgesetz ins Parlament einbringen.

Bereits seit Januar dieses Jahres diskutieren auch Intellektuelle erregt darüber, und die Pariser Abendzeitung Le Monde sprach deswegen am 05. Februar 18 von einem „Krieg der Petitionen“. Ein Gastbeitrag, der sich gegen aus Sicht der Unterzeichner zu restriktive Änderungen im Ausländerrecht einsprach, erschien am 16. Januar 18 in derselben Zeitung. Seine Unterzeichner waren so wenig des Linksradikalismus verdächtige Prominente wie Laurent Berger, der Generalsekretär des rechtssozialdemokratisch geführten Gewerkschafsbunds CFDT, und der sozialliberale Wirtschaftswissenschaftler Jean Pisani-Ferry. Am 11. Januar d.J. erschien das ebenfalls sozialliberale Wochenmagazin L’Obs unter einem Titelblatt, das ein Konterfei Emmanuel Macrons umgeben von Stacheldraht zeigt. Im Blattinneren kritisierte etwa der Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio eine „unerträgliche Entmenschlichung“ in der Behandlung von Migranten und Geflüchteten durch die Regierung.

Derzeit stehen eher Intellektuelle an vorderer Front, da die sozialen Bewegungen insgesamt aufgrund ihrer Niederlagen gegen die Macron-Regierung – etwa bei den Mobilisierungsversuchen gegen regressive Änderungen beim Arbeitsrecht im Herbst 2017, und im Januar 18 gegen die Einschränkung des Hochschulzugangs, wozu die Mobilisierung scheiterte – eher in einer Flauteperiode stecken. (Allerdings könnte aus derzeitiger Sicht der 22. März 18, also der geplanten Streiktag in den öffentlichen Diensten und bei der Eisenbahngesellschaft SNCF, einen Kristallisationspunkt für viele soziale Widerstände darstellen.)

Die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter am „Nationalen Gerichtshof für Asylrecht“ (la CNDA, Cour nationale du droit d‘asile) ihrerseits traten seit dem 15. Februar d.J. in den Streik gegen geplante Neuregelungen wie die einmal mehr beschworene „Verfahrensbeschleunigung“, die sie als Gefahr für die Geflüchteten wie für ihre eigene Arbeitsbedingungen betrachten. Wenn sich die sozialen Widerstände in den kommenden Monaten doch bündeln sollten, dann wird dieser Aspekt keine geringe Rolle spielen dürfen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Er ist die ausführliche Fassung eines Artikels, der in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World‘ vom 22. Februar 18 erschienen ist