Kritik der traditionellen Klassentheorie Teil 1 und 2
Leseauszug aus: ...die "Grundlegung" lesen!

von Stefan Meretz

03/2019

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(Teil 1 | S. 69 -72)

Im vorherigen Kapitel 8.4 ist die traditionelle marxistische Formationen- und Klassentheorie, auf die sich Holkamp in der GdP bezieht, zusammengefasst. Nun sind seit dieser Zeit rund 40 Jahre ver- und mit dem Realsozialismus ein Weltsystem untergegangen, das sich genau auf jene Theorie bezogen und einen entsprechenden Weg aus dem Kapitalismus versucht hat. Viele haben aus der historischen Niederlage den Schluss gezogen, dass sich die gesamte zugrunde liegende Theorie empirisch als falsch erwiesen hat und folglich nicht mehr berücksichtigt werden kann. Andere halten hingegen weiter an den klassischen Argumentationslinien fest und bemühen sich um eine immanente Aktualisierung.

Die von mir in diesem Exkurs vorgelegte immanente Kritik beschreitet einen dritten Weg. Sie geht davon aus, dass die Ansprüche nach Überwindung von Kapitalismus, Klassenspaltung, Herrschaft und Entfremdung legitim und dass eine Form der Vergesellschaftung jenseits dessen möglich ist. Gleichzeitig erkennt sie an, dass der bisherige praktische Versuch des Realsozialismus keiner war, der ein Schritt in die Richtung der Aufhebung des Kapitalismus ging, sondern analysiert ihn als eine bürgerlich-immanente Entwicklungsvariante, die sich trotz Verfügung über die Gestaltungsmacht der wesentlichen kapitalistischen Bewegungsformen — in abgeschwächter oder verstärkter Weise — bediente: Warenproduktion, Wertgesetz, Geldvermittlung, Kapitalakkumulation, Markt, Lohnverhältnis, Staat etc. mit den entsprechenden Folgen: Entfremdung, Ressourcenerschöpfung, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Unfreiheit u.a.m.

Die Tatsache, dass der Realsozialismus als versuchte Umsetzung eines nicht-kapitalistischen Weges untergegangen ist, verweist auf zwei Dinge. Erstens verweist es auf die historischen Grenzen der Gesellschaften, die ihre gesellschaftliche Produktion und Vermittlung auf Grundlage der Warenproduktion und des Wertgesetzes organisierten. Der Realsozialismus ist nicht untergegangen, weil er eine Alternative zur kapitalistischen Warenproduktion darstellte, sondern weil er diese in willkürlicher Weise — nämlich organisiert über Staat und Zentralplanung — umsetzte. Der Realsozialismus ist folglich nur zuerst untergegangen, ein Zerfall, der sich im neoliberalen Kapitalismus wesentlich langsamer vollzieht. Zweitens verweist das Scheitern darauf, dass eine Alternative jene von Realsozialismus und Realkapitalismus geteilten Grundlagen in die Kritik nehmen muss, und nicht jene abgeleiteten Formen, worin sich die Gesellschaften tatsächlich unterschieden. Die geteilten Grundlagen werden mithin als die wesentlichen und aufzuhebenden Grundlagen bestimmt: Warenproduktion, Wert-/Geldvermittlung, Lohnverhältnis, Kapitalakkumulation.

Die Kritik ist insofern immanent, als sie die insgesamt in der GdP begründete Notwendigkeit und Möglichkeit der kollektiven Verfügung aller Menschen über ihre Lebensbedingungen ernst nimmt. Sie ist kritisch als sie versucht, die theoretischen Defizite in der traditionellen marxistischen Argumentation aufzuzeigen und neue Argumente vorlegt. Wie sich später zeigen wird, hat dies durchaus auch Auswirkungen auf die im engeren Sinne kritisch-psychologischen Vermittlungsbegriffe.

Ausgangspunkt ist die Erfahrung, dass es nicht ›einen‹ Marxismus gibt, der sich als der authentische begründen könnte, sondern es gibt viele theoretische Strömungen, die jeweils die Richtigkeit ihrer interpretativen Sicht auf das Werk von Karl Marx vertreten. Marxismus ist also kein Kanon, sondern Marxsches Denken ist Teil des Gedankenraums des je historisch Denkbaren und insofern zeitgebunden. Die Entwicklung des Realkapitalismus ermöglichte auch neue Einsichten, die Teil der Diskussionen um die Möglichkeiten der Aufhebung des Kapitalismus und der Konstitution einer Form kommunistischer Vergesellschaftung sind.

Die aus meiner Sicht relevanten neuen Erkenntnisse in aller Kürze:

  1. Arbeit und Kapital (verstanden als Klassen) vertreten beide Partialinteressen. Diese Partialinteressen sind gegeneinander gerichtet, aber es ist nicht so, dass die Arbeiterklasse ein »Allgemeininteresse an der Überwindung von Verhältnissen klassenbedingter Fremdbestimmtheit überhaupt« (199f) repräsentiert. Diese Annahme ist zentral für den Kapitalismus überschreitende Transformationskonzepte, die der Arbeiterklasse die zentrale Rolle (historische Mission) zuschreiben. Diese Zuschreibung ist jedoch nur ein ›Sollen‹ und in diesem Sinne idealistisch, sie ist aber nicht theoretisch-logisch begründbar. Begründen lässt sich nur der Interessengegensatz, nicht aber die (Selbst-) Aufhebungsperpektive auf Basis der Interessen der Arbeiterklasse.
  2. Der Klassenkampf ist eine dem Kapitalismus immanente Bewegungsform der Austragung des Interessengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Dieser hatte vor allem in der fordistischen Hochzeit der warenproduzierenden Gesellschaften eine reale zivilisationsförderliche Wirkung. Diese drückte sich unter anderem durch die Existenz der realsozialistischen Staaten und des westlichen Sozialstaats aus. Deren Potenzen sind erschöpft, und es gibt objektiv keinen Weg mehr zurück zu dieser Produktionsweise.
  3. Gemeinsam geteilte Grundlage der Staat gewordenen fordistischen Entwicklungswege ist die Warenproduktion. Alle Bestimmungen der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx haben uneingeschränkt Geltung. Alle ›sozialistischen‹ Varianten der Warenproduktion haben sich in einen ›normalen‹ Kapitalismus transformiert oder sind auf dem Wege dorthin, entweder unter Änderung der politischen Herrschaftsverhältnisse (osteuropäische Länder) oder unter Beibehaltung dieser (China, Vietnam u.a.). Parallel dazu verwandelt sich der ›westliche Sozialstaat‹ in eine Exekutionsmaschine der deregulierten Verwertungslogik des Kapitals.
  4. Der vorgeblich antagonistische, tatsächlich aber immanente Interessengegensatz von Kapital und Arbeit wurde als Realgegensatz von ›Kapitalisten‹ und ›Arbeitern‹ bzw. ›Ausbeutern‹ und ›Ausgebeuteten‹ personifiziert und zur polaren Entscheidung verkürzt, wer über die gesellschaftlichen Angelegenheiten verfügt (›auf welcher Seite stehst du‹, ›die oder wir‹ etc.). Herrschaft wurde personell oder institutionell verstanden und verortet. Der Logik entsprechend standen den Herrschenden die Beherrschten gegenüber. Die Einsicht, dass Herrschende und Beherrschte nicht eindeutig personell oder institutionell zuzuordnen sind und dass es immer auch die Beherrschten sind, die sowohl beherrscht werden wie selbst Herrschaft ausüben, ist zwar auf der individualtheoretischen Ebene durch das Selbstfeindschaftskonzept thematisiert, hat auf der gesellschaftstheoretischen Ebene keine theoretische Entsprechung gefunden. Diese Divergenz ist eine Quelle der Kontroversen innerhalb der Kritischen Psychologie (dazu im zweiten Teil mehr).
  5. Da die traditionelle Klassentheorie einer Klasse die Rolle des ›historischen Subjekts‹ (die Klasse, die den Kapitalismus aufhebt) zuweist, gibt es einerseits keinen Bedarf  und andererseits auch eine notwendige Ablehnung der Frage, wie denn eine Vergesellschaftung jenseits des Kapitalismus aussehen könne. Jedes ›Auspinseln‹ einer Zukunft sei kontraproduktiv — so das insbesondere von der Kritischen Theorie entwickelte, durchaus nachvollziehbare Argument — da sonst normativ gesetzt werde, was zu geschehen habe. Die Praxis der Aufhebung entwickle sich aus den Widersprüchen und nicht durch Setzung eines Neuen. Dieses als ›Bilderverbot‹ bekannt gewordene Diktum hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, dass die Klassentheorie, die einer Seite im Widerspruch die Lösungspotenz zuschreibt, selbst inadäquat und undialektisch ist.
  6. Mit dem Arbeit-Kapital-Antagonismus und der Arbeiterklasse als angenommenem Repräsentanten der Allgemeininteressen war lange die Frage der gesellschaftlichen Exklusionen bzw. Inklusionen institionell oder gar personell zugeordnet: Das Kapital als Verkörperung der Herrschenden repräsentiert gleichsam den Pol des Ausschlusses, während der langfristige Einschluss der Interessen aller durch die Arbeiterklasse verkörpert werde. Die lange Zeit als ›Hauptwiderspruch‹ unterzuordneten ›Nebenwidersprüche‹ wurden erst durch praktische und theoretische Interventionen verschiedener ›subalterner‹ Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Antisexismus, Antiziganismus etc.) zur Geltung gebracht — über Zwischenstufen (›Triple-Oppression‹) bis zur Auflösung des theoretischen Subordinationsverhältnisses (mit unterschiedlichen Konsequenzen).
  7. »Fremdbestimmung« wird nicht »durch die herrschenden Klassen« (200) ausgeübt, auch nicht durch entsprechende Instanzen. Fremdbestimmung ist kein Verhältnis zwischen Personen, Instanzen oder Klassen, sondern es ist ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis, dem alle Gesellschaftsmitglieder unterliegen. Sie begründet sich aus dem Fetischverhältnis, welches soziale Verhältnisse als sachliche Verhältnisse erscheinen lässt, weil sich die verselbstständigte Sachlogik (der Zwang zur perpetuierten  Verwertung von Wert) gegen die Bedürfnisse der Menschen kehrt. Diesen übergreifenden ›Sachzwang‹ unterliegen alle, gleich in welcher gesellschaftlichen Position, mit welchen Partialinteressen und in welcher Lebenslage (dass sich Position und Lebenslage von Arbeitern und Kapitalisten in der Regel erheblich unterscheiden, ist evident).
  8. [Update 8.7.11, entspr. Kommentar 1 u. 2] Die gesellschaftliche Vermittlung wird zwar auch über den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital strukturiert, aber dies ist lange nicht der einizge und auch nicht der wesentliche Interessengegensatz im Kapitalismus. Das wesentliche Merkmal ist, dass sich gesellschaftliche Vermittlung insgesamt über Interessengegensätze organisiert und zwar wesentlich über die Verwertungslogik des Kapitals als allgemeiner gesellschaftlicher Infrastruktur dieser Vermittlung. Die sich in Widersprüchen bewegende Verwertung des Werts erzeugt permanent Einschlüsse und Ausschlüsse entlang multipler Interessengegensätze, und zwar über alle Positionen hinweg und durch alle Lebenslagen hindurch. Keine Position, keine Lebenslage, kein Ort und kein Interesse ist dabei in dem Sinne privilegiert, dass darüber per se eine den Kapitalismus überschreitende Transformation möglich wäre. Herrschende und Beherrschte, um diese Terminologie aufzugreifen, gibt es damit überall, aber es gibt nicht ›die‹ Herrschenden, denen ›die‹ Beherrschten gegenüberstünden. Damit ergibt auch das »Arrangement mit den Herrschenden« (375, 377, 378, 379, 397, 398, 399, 404, 405, 406, 412, 413 etc.) nicht den intendierten Sinn, dass dabei ein Gemeinmachen mit der ganz anderen (antagonistischen) Seite stattfinden würde, sondern nur den Sinn, dass es die herrschenden Verhältnisse sind, mit denen je ich mich arrangiere, oder besser: Ich arrangiere mich mit den vielfältigen Mechanismen von Herrschaft und setze diese ein, weil ich so — im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit, wie wir später sehen werden — meine Existenz durch Teilhabe an dieser Art der gesellschaftlichen Produktion der Lebensbedingungen sichern zu können glaube (einschließlich der damit verbundenen Widersprüche, die noch ausgeführt werden).

Diese grobe Skizze muss genügen. Im folgenden werde ich mich weiterhin bemühen, die in der GdP formulierte Position so gut es geht in ihrer eigenen Argumentation wiederzugeben. Erst zu einem späteren Zeitpunkt (in Kap. 12) werde ich an der Stelle, an der Holzkamp in einem weiteren Exkurs die allgemeinen gesellschaftstheoretische Aussagen in Bezug auf Lebenslage und Position konkretisiert, ebenfalls einen zweiten kritischen Exkurs einfügen.

(Teil 2 | S. 95 - 98)

Der erste Exkurs zur Kritik der traditonellen marxistischen Klassentheorie (Kap. 8.5) soll in diesem zweiten Teil präzisiert und mit der Skizze einer Alternative abgeschlossen werden. Bereits im ersten Teil sollte deutlich geworden sein, dass es in der Kritik nicht darum geht, die Existenz sozialer Klassen in Abrede zu stellen, auch nicht die Gegensätzlichkeit ihrer Interessen, sondern kritisiert wird im Kern die These der prinzipiellen Identifizierung der Interessen der Arbeiterklasse mit allgemein-menschlichen Interessen.

Diese Identifizierung, die wie in Kap. 8.5 dargelegt nicht haltbar ist, hat Folgen für die fortschreitende Analyse. Das soll hier stichpunktartig gezeigt werden:

  1. Durch die Interessen-Identifizierung von Arbeiterklasse und Menschheit im Allgemeinen wird ein polarer Dualismus konstruiert. Auf der einen Seite steht die Arbeiterklasse, die potenziell die allgemein-menschlichen Interessen repräsentiert, auf der anderen Seite mit dem Kapital jene Hauptklasse, die ihr Partialinteresse gegen die allgemein-menschlichen Interessen vertritt, um Privilegien zu sichern. Eventuelle weitere Klassen oder Schichten (Mittelschichten o.ä.) tendieren danach mal zur einen und mal zur anderen Seite.
  2. Damit entsteht ein argumentatives Zwangsmoment: Entweder es handelt sich um partielle oder um allgemeine Interessen, beides zugleich ist formallogisch ausgeschlossen. Damit liegt ein scheinbar klares Kriterium zur Einschätzung von Situationen und verbundenen Interessenlagen vor. Die reale Erfahrung zeigt jedoch, dass fast nirgendwo eindeutige Interessenlagen zu finden sind.
  3. Die dual-polare Interessenkonfiguration ist immer auch mit Personen verbunden. Am deutlichsten wird dies an den Bezeichnungen ArbeiterKapitalist und Herrschende — Beherrschte. Gemäß der Dualität sind Personen entweder diese oder jene.
  4. Die Personifikation wird durch Strukturzuordnungen nicht abgeschwächt. Im Einzelnen ist es unerheblich, ob mit ›den Herrschenden‹ tatsächlich Personen oder aber nur Instanzen (Struktureinheiten, Hierarchieebenen etc.) gemeint sind. Entscheidend ist, dass die Interessen scheinbar eindeutig bipolar verteilt sind: Sie sind entweder verknüpft mit den Interessen der Kapitalistenklasse nach Ausbeutung und Unterdrückung der Beherrschten, oder umgedreht verknüpft mit dem Interesse der Beherrschten, die Partialinteressen der Herrschenden zu brechen, um (langfristig) allgemein-menschliche Interessen durchzusetzen.
  5. Die Logik des ›die‹ oder ›wir‹ wird damit nicht aufgehoben. Das ›die‹ können dabei auch Instanzen sein, etwa bürgerliche Parteien oder Interessen-Vereinigungen, etwa der Bundesverband der Industrie. Genauso stehen auf der anderen Seite Organisationen wie etwa die Gewerkschaften oder auch Parteien. Es können aber eben auch konkrete Personen sein. Dann besteht die Gefahr, dass die Personifikation von Verhältnissen in eine Personalisierung von Situationen umkippt. Damit wird ein zentrales Anliegen der Kritischen Psychologie, nicht Personen, sondern Situationen zu problematisieren, theoretisch unterlaufen. Das zeigen auch immer wieder praktische Erfahrungen in kritisch-psychologischen Projekten.
  6. Die polare Konstellation sich gegenüberstehender Interessen, bei der der eine Pol die ›richtige‹, weil allgemein-menschliche Seite repräsentiert, erzeugt scheinbar überschaubare Verhältnisse. Wer erst einmal verstanden hat, auf welcher Seite ›man‹ zu stehen habe, findet auch Orientierung und Halt. Die im ›man‹ liegende »Normativität« (360) verliert jedoch ihren restriktiven Charakter nicht, nur weil sie sich auf der ›richtigen‹ oder auch nur ›besseren Seite‹ wähnt.
  7. In realen Untersuchungen führt die scheinbare Überschaubarkeit und Klarheit der gesellschaftlichen Interessen immer wieder dazu, die Interessen der Herrschenden, die »mindestens latent allgegenwärtig sind« (366), »wie immer vermittelt« (375), mit in die widersprüchliche Situation hineinholen zu müssen, etwa als »Arrangement mit den Herrschenden« (ebd.), da sonst prinzipiell nicht erklärbar wäre, warum sich nicht einfach die allgemeinen Interessen durchsetzen.
  8. Tatsächlich ist die reale Interessenkonstellation nicht so überschaubar, da es sich auch bei den Interessen der Arbeitskraftkäufer wie -verkäufer ausschließlich um Partialinteressen handelt. Allgemeininteressen verkörpern die beteiligten Personen allein deswegen, weil sie Menschen sind, nicht weil sie Kapitalisten oder Arbeiter sind.
  9. Real geht oft auch der soziologisch bestimmte Status als Arbeitskraftverkäufer (Arbeiter) wie Arbeitskraftverwerter (Kapitalist) mitten durch die Personen hindurch. Der viel zitierte ›Arbeitskraftunternehmer‹ ist nicht nur eine Metapher, sondern Begriff für die Tatsache, dass Arbeitende beide gesellschaftlichen Funktionen wahrnehmen müssen, in dem sie ihre eigene Arbeitskraft verwerten. Für Personen in solchen Situationen ist die polare Interessenkonstellationen als analytischer Hintergrund und Ausgangspunkt »total ungeeignet« (um Holzkamp zu paraphrasieren).
  10. Wenn das »Arrangement mit den Herrschenden«, ja oder nein, nicht als Kriterium taugt, dann bleibt in einer Gesellschaft der vielfach durchdrungenen Partialinteressen nichts anderes übrig, als sich über diese Partialinteressen jeweils aktualempirisch Klarheit zu verschaffen. Das ist in der GdP auch angelegt, weswegen mit dem Verzicht auf den Antagonismus als polarem Angelpunkt nicht die ganze gesellschaftstheoretische Grundlage hinfällig wird. So fasst Holzkamp als Grundchakteristikum restriktiver Handlungsfähigkeit »das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen …, denen gemäß die je eigenen Lebensinteressen durch die Interessen anderer eingeschränkt sind, und ich die Verfügung über meine Lebensbedingungen nur auf Kosten der anderen erweitern kann« (374). Dafür bedarf es keines »Arrangement(s) mit den Herrschenden«. Damit gibt es allerdings auch keine eindeutigen Grenzlinien der Interessen. Die, die sich wehren oder etwas Alternatives aufbauen, sind in keiner privilegierten Position, sind nicht gefeit, wiederum Strukturen zu stärken, die die eigene Entfaltung behindern.

Wie kann eine Alternative aus der Einheit von »Kritik/Reinterpretation/Weiterentwicklung« (515) — hier bezogen auf die gesellschafttheoretischen Grundlagen — gewonnen werden? Aus Platzgründen kann auch dies nur spiegelstrichartig geschehen. Zudem gibt es aus meiner Sicht hier keine festen Antworten.

  1. Der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit ist Erscheinungsform der zugrunde liegenden Prozesse der Produktion der gesellschaftlichen Lebensbedingungen in getrennter, privater Form. Die privat-getrennte Produktion, die Warenproduktion, erzwingt die gesellschaftliche Vermittlung über den Austausch der Produkte als Waren. Dies wiederum konstituiert mit Notwendigkeit die basalen Vermittlungsformen und Kategorien: abstrakte und konkrete Arbeit, Äquivalententausch, Wert und Gebrauchswert, Geld, Kapital etc. Diese basalen Vermittlungsprozesse gewinnen mit dem Dominanzwechsel zum Kapitalismus einen verselbstständigten Charakter: Es geht nun nicht mehr anders, als in diesen Formen die gesellschaftlich-vorsorgende Produktion der Lebensbedingungen abzusichern und damit gleichzeitig eben diese Formen zu reproduzieren (doppelte Funktionalität).
  2. Die Verselbstständigung der sachlichen Vermittlungsbewegungen gegen die sozialen Prozesse hat Marx mit dem Begriff des Fetischismus gefasst. Dieser bedeutet jedoch, anders als lange interpretiert, nicht die Vorspiegelung eines Scheins etwa als bloße zweckgerichtete ideologische Form zur Herrschaftssicherung, hinter dem ein wirkliches Anderes steckt, sondern der Schein ist das Reale, ist Erscheinung des real Wirkmächtigen. Wir bewegen uns in den Fetischformen, weil wir dies müssen, da wir nur so unsere individuelle Existenz absichern können. Ware, Wert, Arbeit etc. erscheinen als ›soziale Naturformen‹, also so, als ob Menschen ›natürlicherweise‹ schon immer so und nicht anders ihre Lebensbedingungen herstellen. Auf diese Weise erscheinen alle vorkapitalistischen Gesellschaften nur als unentwickelte, unreife Vorformen dessen, was sich heute in ausgreifter Form des ›Natürlichen‹ herausgebildet hat. Damit wird klar, dass kategorial eine gesellschaftliche Vermittlung auf Basis der scheinbaren Naturformen, der Fetischformen, nur eine immanente sein kann. Das entwichtigt keineswegs die Anerkenntnis von Ausbeutungsverhältnissen, nur liegt in diesen selbst kein Moment der Aufhebung des Kapitalismus.
  3. Eine allgemein-menschliche Emanzipation kann tatsächlich nur diese sein. Sie kann also nicht über die Interessen einer Klasse vermittelt werden, sondern nur über die Bedürfnisse der Menschen selbst, dessen Kern die Handlungsfähigkeit ist (243). Es geht damit um die Aufhebung der bürgerlichen Formen und die Durchsetzung einer neuen Weise, die gesellschaftichen Lebensbedingungen in verallgemeinert-vorsorgender Weise herzustellen.
  4. Wenn das Grundcharakteristikum der restriktiven Handlungsfähigkeit die Exklusionslogik, das Durchsetzen jeweils auf Kosten der Anderen im Modus von Partialinteressen ist, dann kann als Richtungsbestimmung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit eine Inklusionslogik herausgehoben werden, bei der die Entfaltung des Individuums die Voraussetzung für die Entfaltung aller ist — und umgekehrt. Das bedeutet auch, dass mit der Aufhebung von Partialinteressen auch der Interessenmodus zur Umsetzung von Bedürfnissen selbst verschwindet. Es bedeutet nicht, dass damit alle Konflikte enden, im Gegenteil: Konflikte können dann endlich so ausgetragen werden, dass sich niemand auf Kosten anderer durchsetzt. Differenzen sind damit nicht mehr Quelle von Trennung, Exklusion und Abstoßung, sondern von Kreativität, Energie und Inklusion.

Damit ist nur eine grobe kategoriale Entwicklungsrichtung skizziert, die hier nicht weiter entfaltet werden kann.

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