Kapp-Putsch und Rote Ruhrarmee
als Gegenstand literarischer Darstellung

03/2020

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Nach dem Generalstreik

von Wilma Ruth Albrecht

In der Wohnküche eines schmalen Arbeiterhauses in der Oppauer Rheinstraße hatten sich an einem Samstagabend Ende April 1920 zwölf Männer versammelt, um die politischen Ereignisse der letzten Wochen und die Folgen, die daraus zu ziehen seien, zu diskutieren sowie die anstehende Lohnrunde vorzubereiten. Es handelte sich um die kleine kommunistische Parteigruppe der Vorderpfalz , darunter der Elektriker Georg Sauer, die Schlosser Max Wenzel, Fritz Beinhard, der Kesselschmied Johann Salzer, Fritz Bäumler und Ernst Laurenz , dazu gestoßen war seit dem Generalstreik im März auch Georg Ossmann und der auf der Liste der USPD am 18. April neu gewählte Stadtrat Peter Möller.

Sie saßen an zwei zusammen geschobenen Holztischen, auf denen verschiedene Flugblätter und Zeitungen lagen, zwei Teller voll mit Griebenschmalz bestrichenen Brotscheiben sowie zwei Kannen Dünnbier standen, die die Hausfrau, bevor sie mit den Kindern in die engen Kammern im Obergeschoss verschwunden war, spendierte. Sie hatte das kleine Haus mit einem Gemüsegarten von den Eltern, ansehnlichen Tabakbauern, als Mitgift bekommen, jedoch mit der Verpflichtung, dass es ausschließlich in ihrem Besitz bleiben muss, denn sie wussten um das politische Engagements ihres Schwiegersohnes und den damit verbundenen Risiken.

Georg Sauer schloss die Fenster zur Straße, nahm seine dünne Pfeife aus dem Mund, klopfte damit auf die Tischplatte und begann: „Genossen, hiermit eröffne ich unsere Sitzung. Das Rauchen ist jetzt einzustellen ebenso das Durcheinanderquatschen. Auf meiner Tagesordnung habe ich zwei Punkte und dazu Verschiedenes:

Punkt 1: Einschätzung der revolutionären Abwehrkämpfe gegen die konterrevolutionären Putschversuche im Reich und in Bayern, Punkt 2: Organisation der anstehenden Lohnkämpfe in den Großbetrieben, vor allem in der Anilin. Hat noch jemand ein Vorschlag zur Tagesordnung?“ fragte er in die Runde, worauf sich Peter Möller zu Wort meldete: „Ja, Georg, Einschätzung der Ergebnisse der Stadtratswahl in Ludwigshafen und sozialistische parlamentarische Initiativen“, schlug er vor, denn am 18. April hatte sich das Sitzverhältnis im Stadtrat grundlegend zugunsten der linken Kräfte verändert, die MSPD hatte fast die Hälfte ihrer Wähler verloren und lag mit 29,4% nur wenige Prozentpunkte vor der USPD mit 29,1% , beide hielten 12 Sitze und der ganze Bürgerblock aus DVOP, BP und DDP nur 16 Sitze.

Es kam zu einer kurzen Aussprache, dann wurde entschieden den Vorschlag Peter Möllers unter dem Punkt „Verschiedenes“ zu behandeln.

Georg Sauer erteilte nun Johann Salzer, der sich auf den ersten Punkt der Tagesordnung vorbereitet hatte, das Wort. Salzer zog einen kleinen Zettel, auf dem verschiedene Zahlen und Ortsnamen vermerkt waren, aus der Jackentasche und begann:

„Genossen! Die Revolution ist jetzt gerade ein und ein halbes Jahr alt. Wenn man es genau besieht, hat sich im Grunde jedoch nicht viel geändert. Es wurde lediglich die bürgerliche Parlamentsdemokratie, schon im kaiserlichen Deutschland unter Max von Baden eingeleitet, ausgebaut. Weder die Bergwerke, die Großunternehmen und der Großgrundbesitz sind enteignet und sozialisiert, noch wurde das Rätesystem eingeführt. Die Rechte der Arbeiter wurden sogar noch beschnitten. Statt eines revolutionären oder demokratischen Volksheeres duldet und unterstützt man freiwillige stockreaktionäre Freikorps. Die Einkommen der Arbeiter, kleinen Angestellten und Kleinbürger stagnieren nicht nur, sondern werden durch die Geldentwertung unter das Existenzminimum gedrückt. Dagegen hat diese bürgerlich-sozial-demokratische Regierung alles unternommen, um gegen die fortschrittlich revolutionäre Arbeiterschaft vorzugehen. Ich erinnere an den 13. Januar dieses Jahres, als der Sozialdemokrat und preußische Innenminister Heine seine Polizei auf friedlich demonstrierende Arbeiter, die vor dem Reichstag gegen das reaktionäre Betriebsratsgesetz protestierten, vorrücken und 42 Arbeiter erschießen ließ. Ich erinnere an die harten Steuergesetze darunter auch die 10 Prozent Lohnsteuer - all dies Maßnahmen, die die Reaktion begünstigten. So kam es, wie es kommen musste. Am 13. März putschte die reaktionäre militärische Konterrevolution sowohl in Berlin als auch in München. Nur durch unsere gemeinsame große politische Aktion, den Generalstreik, konnte die Konsorten Kapp, von Lüttwitz, Ehrhard und wie die alte Brut auch immer heißt, von der Bühne gefegt werden, nur in Bayern, wo jetzt Kahr Ministerpräsident ist, gelang das nicht.

Vor allem unsere KPD, aber auch die USPD drängten darauf die Reaktion zu ent- und die Arbeiter zu bewaffnen. Auch forderten wir die kämpfenden Arbeiter auf, Arbeiterräte zu bilden und einen Rätekongress einzuberufen. Das kämpfende Proletariat wehrte sich verbissen gegen die Wiederkehr einer so genannten sozialistischen Regierung mit bürgerlichem Unterbau, mit Staatsbürokratie und Parlamenten. Doch erneut ist die Sozialdemokratie den Proletariern in den Rücken gefallen. Hermann Müller stützt sich nicht nur auf den alten Militär- und Verwaltungsapparat, er ließ auch wieder im Ruhrgebiet Freikorps auftreten, um Proletarier und ihre Familien nieder zu schießen oder besser nieder zu metzeln. …“

So sprach Salzer etwa eine halbe Stunde lang, um zu dem Schluss zu kommen: „Der Kampf geht weiter, muss weitergehen. Wir müssen auch mehr Arbeiter für unsere Partei gewinnen, unsere Stellung in den Betrieben stärken und Aktionen besser organisieren. Auf nach dem Motto des Bundesliedes der Arbeiter:

Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!“

Der Redner erhielt schon während seinen Ausführungen viel Zustimmung und am Ende Beifall. Jedoch eine Aussprache war nicht gewünscht, man wollte keine Wunden lecken, sondern zur Tat schreiten.

Deshalb ging es auch sogleich zum nächsten Tagesordnungspunkt „Lohnforderungen und Lohnrunde“. Hierzu referierte der Hilfsschlosser und Vertrauensmann Fritz Beinhard.

„Genossen! Die kommende Lohnrunde muss für zweierlei genutzt werden: erstens brauchen wir eine Lohnforderung, die die ständig weiter gehende materielle und soziale Verelendung nicht nur stoppt sondern entschieden umkehrt, zweitens muss im Lohnkampf die Position der Partei als Vorhut der Arbeiterklasse klar zum Ausdruck kommen und unser Einfluss in den Betrieben gestärkt werden.

Ich komme zunächst zu den Lohnforderungen. Zurzeit beträgt für einen Anilinarbeiter der durchschnittliche Stundenlohn sechs Mark, ein Arbeiter mit Frau und zwei Kindern muss also mit einem durchschnittlichen Wochenlohn bei vierundvierzig Stunden von 264 Mark auskommen. Nach Berechnungen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes liegt der durchschnittliche Wochenlohn im Land bei 299 Mark, das ist zu unserem Lohnniveau ein Unterschied von minus 35 Mark in der Woche. Berücksichtigt werden muss auch die Lohnminderung durch die zehnprozentige Lohnsteuer. Rechnet man beides auf ein halbes Jahr hoch, dann wurden wir Arbeiter in der Anilin um rund vierhundert Mark betrogen. Dabei habe ich noch gar nicht die Geldwertminderung durch die Inflation berücksichtigt. Geht man von dem wöchentlichen Existenzminimum von 304 Mark aus und teilt man es auf die ursprünglich erkämpften 40 Arbeitsstunden, dann ergibt sich ein Stundenlohn von 7,60 Mark. Nun hat die Fabrik aber bei nur geringer Erhöhung der Zahl der Beschäftigten eine erhebliche Produktionssteigerung erreicht. - Ihr kennt alle die Mittel: Akkordsteigerung und ausgefeiltes Konkurrenz schürendes Prämiensystem. - Ich schätze sie auf rund 15 Prozent. Berechne ich die höhere Produktivität auf der Basis der gezahlten Stundenlöhne, dann sind das noch einmal 90 Pfennig, so dass der Mindestlohn 8,50 Mark betragen muss. Berücksichtige ich die weiteren anstehenden Preissteigerungen im Zusammenhang mit dem Währungsverfall und unterlege auch noch einen Verhandlungsspielraum, dann muss unsere Forderung heißen: 9 Mark Stundenlohn und 500 Mark Teuerungsausgleichzahlung. Keinesfalls darf der Stundenlohn unter 8 Mark liegen“, beendete er seine Ausführungen.

Die Anwesenden rechneten nach, manch einer hatte seinen Lohnstreifen aus der Geldbörse gezogen, korrigierten, ergänzten, so dass am Ende die klare eindeutige Forderung lautete: „9 Mark Stundenlohn und 500 Mark!“

Jetzt ging es noch um technische Fragen, wer das Flugblatt schreiben, wie viele Flugblätter gedruckt und wo und wann sie verteilt werden sollten.

Zu Punkt „Verschiedenes“ hatte auch Georg Ossmann etwas beizutragen. „Ja, also“ meinte er unbeholfen, „ich hab´ da auch noch etwas. Dabei geht es um die Arbeitssicherheit. Wir in der Kesselabteilung, also da, wo die Behälter hergestellt werden, wir merken schon geraume Zeit, und da wird mir der Johann zustimmen, dass das Material, mit dem wir arbeiten von schlechter Qualität ist. Die Bleche sind zu dünn, nicht gleichmäßig gewalzt und der Schweißdraht ist weniger fest, manchmal auch brüchig. Wir haben den Eindruck, dass hier billiges Zeug gekauft worden ist. Nun, wenn in die kleinen Behälter nur Farbe gefüllt wird, ist es vielleicht nicht so schlimm, doch bei Gasen und ätzenden Flüssigkeiten sehe ich und die anderen Gefahren, insbesondere bei den Hoch- und Druckbehältern in den Anlagen. Darauf hab´ ich auch schon den Meister und den Betriebsingenieur hingewiesen. Ja, das wollte ich nur gesagt haben“, endete er. „Richtig, Georg, dass Du das angesprochen hast“, meinte der Versammlungsleiter, „wir wollen das Problem im Auge behalten und bei der nächsten Sitzung des Arbeiterausschusses ansprechen. Doch vordringlich ist jetzt erst einmal unsere Lohnkampagne.“ Die Anwesenden nickten bestätigend.

*

Anfang Mai gab die BASF-Direktion ihre Bilanz öffentlich bekannt. Stolz verkündete sie hohe Gewinne und 18% Dividendenausschüttung an die Aktionäre. Gleichzeitig wurden die Lohnforderungen der Arbeiter, die sich auch die Gewerkschaft zu eigen gemacht hatte, brüsk zurückgewiesen. Stattdessen bot der für die Lohnverhandlungen zuständige Direktor Leidel provokativ fünfzig Pfennig mehr Stundenlohn. Die Empörung war gewaltig, Streik war angesagt und Aufstand programmiert.

Johann Salzer gab am 21. Mai vor Schichtbeginn unter den Vertrauensleuten im Oppauer Werk die Losung aus: „Mit Beginn der Mittagspause wird gestreikt!“

Zuvor waren schon vor allen Toren der beiden BASF-Werke Flugblätter verteilt worden, in denen nochmals die Lohnforderungen standen und die Bezüge der Direktoren denen der Arbeiter und Angestellten gegenüber gestellt wurden.

In der Mittagpause verließen die meisten Arbeiter des Oppauer Werkes ihren Arbeitsplatz und sammelten sich wieder einmal vor dem Direktorengebäude, das jedoch schon von einer Hundertschaft bewaffneter Polizei gesichert war.

Als der sonst eher bedächtige und diszipliniert auftretende Ernst Laurenz dies sah, war er nicht mehr zu halten. Nur zwei Monate waren seit der Märzaktion vergangen und wie blutig wurde der Ruhraufstand niedergeschlagen. Das sollte hier nicht geschehen. „Kollegen, bewaffnet Euch. Greift alles, was ihr packen könnt. Wir wollen diesem Direktorenpack, diesen Drecksäcken und Arbeiterfeinden ´mal richtig einheizen!“ schrie er immer wieder in die zusammenströmende Menge.

Tatsächlich trugen bald Hunderte von Arbeitern Eisenstangen, Röhren, Holzpfähle und -planken, Beile und Hammer bei sich, als der sich auf mehrere Tausend anwachsende Demonstrationszug am Hauptdirektionsgebäude nahe des Tor eins in Ludwigshafen angelangt war. Die Ludwigshafener Belegschaft hatte auch schon gehandelt und die Tore sowie den Platz vor dem Gebäude besetzt, damit keine weiteren Polizeimannschaften aufs Gelände gelangen konnten. Laut skandiert hörte man: „Jetzt geht es an den Beidel, dem Fünfgroschenjungen Leidel!“ oder „Wenn Ihr nicht verhandelt, dann wird von uns gehandelt!“ Die Direktoren sollten sich zeigen, sollten Verhandlungen aufnehmen. Doch keiner der Direktoren ließ sich blicken, auch lehnten sie es ab, die durch Zuruf gebildete Arbeiterkommission zu empfangen. Stattdessen barrikadierten sie sich im Verhandlungszimmer und telefonierten mit französischen Besatzungsoffizieren, der Stadtverwaltung und dem Polizeipräsidium.

„Jetzt hab´ ich aber die Schnauze voll“, tönte Ernst Laurenz in die Menge. „Los, wir stürmen das Gebäude!“ und dachte bei sich, ´damit wir die Kerle zumindest als Geisel in der Hand haben, wenn das französisches Militär anrückt.´

Etwa Hundert Mann schlossen sich ihm an, schlugen die Tür ein, stürmten die Treppe hoch, besetzten das Vorzimmer, warfen Aktenordner, Gläser und Flaschen auf den Boden und verabreichten Leidel, der von seinen Direktorenkollegen vorgeschickt wurde, heftige Knüffe und Schläge, so dass er jämmerlich vergeblich flehte doch von ihm abzulassen. Er wolle ja verhandeln. Verhandlungsbereitschaft verkündete jetzt auch Direktor Feid vor der Demonstrationsmenge, dachte aber keinen Augenblick daran, sie auch zu zeigen, denn inzwischen war es der Polizei gelungen, das Gebäude zu besetzen, dazu waren französische Truppen aufmarschiert.

Tatsächlich war der Streik wie auch der der Gasarbeiter im kommenden Oktober von der Werkleitung nicht nur provoziert sondern strategisch geplant, denn sie wollte einen Anlass schaffen, um die revolutionären Vertrauensleute und linken Gewerkschafter aus den Betrieben zu werfen.

Sie drohte wieder einmal mit Aussperrung, Massenentlassungen und Betriebsstilllegung, wodurch sich Gewerkschaft und Betriebsrat gezwungen sahen die Lohnforderungen aufzugeben, um Massenentlassungen zu verhindern. Die missliebigen Arbeiter und Gewerkschafter wurden systematisch ausgesiebt und die Freizügigkeit der Vertrauensleute stark eingeschränkt.

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Andererseits fand man im Dezember des Jahres 1920 eine kurze Meldung, aus der hervorging, dass sich im Stadtrat Ludwigshafen eine dreiköpfige Gruppe bestehend aus Peter Möller, Richard Solle und Eugen Stumpf gebildet und sich der Vereinigten Kommunistischen Partei angeschlossen habe.

Die Schwächung der Arbeitervertreter wirkte sich auch auf die Arbeits- und Betriebssicherheit aus. Wohl wurden Sicherheitsprobleme und gesundheitliche Risiken immer wieder vorgebracht, auch Ossmanns Sorgen um fehlerhaftes Material und Verarbeitungsmängel, doch die Probleme wurden verniedlicht, bis es am 21. September 1921 zu der gewaltigen Explosion des Ammonsulfatsalpeterslagers kam mit 561 Toten und 2 000 Verletzten, ganz zu schweigen von der Zerstörung vieler Häuser, wodurch die Wohnungsnot weiter wuchs.

Auf der Trauerfeier auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof hatte sich viel Prominenz eingefunden: Abgetrennt von der Trauergemeinde hielt Carl Bosch, der Konstrukteur der Oppauer Anlagen und BASF-Vorstandsvorsitzender, eine Rede, die er mit den Worten schloss: „Selbst heute noch, vor den offenen Gräbern zwingt uns das unerbittliche Muß bereits wieder auf den Weg unserer Pflichterfüllung“, wobei der in seiner Nähe stehende sozialdemokratische Reichspräsident Ebert zustimmend nickte.
 

Leseauszug aus:

Wilma Ruth Albrecht
Über Leben.

Roman des kurzen Jahrhunderts.
Demokratischer Heimatroman.


Erster und zweiter Band.
Reutlingen 2016
Verlag Freiheitsbaum / Edition Spinoza
S. 59-62

©Autorin (2020)