Der ungewöhnliche Maoist
Dar Schutajew*, ein sehr untypischer russischer Linke ist gestorben

von Ewgeniy Kasakow

03/2020

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Marxismus-Leninismus fungiert für die gegenwärtige Linke häufig als eine Negativfolie, wobei den Maoisten ein besonderes finsterer Ruf anhaftet. Fast mehr als Massenterror und Hungerkatastrophen nimmt die „Mosaiklinke“ denen übel,  „Hauptwidersprüchler“ zu sein. Die Biographie von Dar Schutajew (1969-2020) passt nicht zu diesem Bild.


Bildquelle: https://vk.com/pishacha

Der in sowjetischer Atomforschungszentrum Obninsk geborene Sohn einer Angestelltenfamilie war nicht nur ein bekannter Indologe, sondern auch langjähriger Politkaktivist. In Juni 2000 gründete er zusammen mit seinen Freunden Pawel Bylewski und Oleg Torbasow die Russländische Maoistische Partei (RMP)[1}. Die RMP entstand aus einer Fraktion von RKSM(b) -- dem Jugendverband der linksstalinistischen Revolutionären Kommunistische Arbeiterpartei (RKRP)[2].

Die jungen russischen Maoisten schockierten die dortige ML-Szene mit ihrem offensiven Feminismus und der Unterstützung der LGBT-Bewegung. Die Provokation war perfekt – die RMP rüttelte die sowjetnostlagische ML-Linke auf. Die Forderung nach der Wiedergründung der UdSSR lehnte die neue Partei als reaktionär ab, die KPdSU seit Chrustschow und die KPCh seit der Neutralisierung der „Viererbande“ galten Schutajew und seinen Mitstreitern als revisionistisch. Dementsprechend hielt Schutajew den Sowjetpatriotismus spätestens seit 1956 für obsolet.

Im Bezug auf den von vielen postsowjetischen Linken verehrten Stalin wendete die RMP Maos Formel „70 % Verdienste und 30 % Fehler“. Im scharfen Kontrast zu den anderen russischen KPs plädierte Schutajew für die Unterstützung der Tscheteschenier im Kampf für die eigene Staatsgründung. Die von vielen Linken in der 1990er Jahre propagierte Quer-Front-Strategie des Bündnises mit den russischen Nationalisten wurde von der RMP vehiement abgelehnt. Im Gegensatz zu den meisten MLer hielten Schutajew und seine Freunde den russischen Nationalismus für einen unterdrückenden, nicht für einen unterdrückten.

Dar Schutajew interessierte sich nicht nur für Maos China, sondern auch, was ihm ebenfalls von den meisten russischen ML-Linken unterschied, für die 68er-Revolte im Westen. Bis 2007 hielt die RMP engen Kontakt mit der Maoist Internationalist Movement (MIM), danach rückte ausgerechnet die als bieder geltende Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) als internationaler Partner in den Vordergrund. Schutajews Freund Oleg Torbasow übersetzte die Werke der MLPD-Theoreitker Willi Dickhut und Stefan Engel.

Das ist umsomehr verwunderlich, angesichts der von Schutajew mitentworfenen RMP-Theorie, wonach die Mehrheit der Bevölkerung in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht mehr zur Proletariat gehöre und die revolutionären Impulse vor allem von Arbeitsmigranten, marginalisierten Gruppen und den Massen der „Dritten Welt“ zu erwarten seien.

Die Intellektuellen betrachtete die RMP ebenfalls als Feinde, was im starken Kontrast zur Herkunft und Tätigkeitsfeld der Führungskader stand. Schutajew, Absolvent der Staatlich Linguistischen Universität Moskau (MGLU) beherrschte neun Sprachen, darunter Sanskrit, Pali, Urdu und Farsi. Er wirkte als wissenschftlicher Mitarbeiter am Institut für die Ostforschung der Akademie der Wissenschaft Russlands, wo er als ein Experte für frühbhuddische Texte, in erste Linie der „Mahāvastu“ galt.

Auch in seinen kulturellen Vorlieben stand Schutajew den „Roten Garden“ der von ihn bewunderten „Kulturrevolution“ sehr fern. Seine Kenntnisse der Bluesmusik, der Beatnik-Poesie, der Werke von Lewis Carrol, J. R. R. Tolkien und Ezra Pound beeindruckten seinen Bekanntenkreis, zu dem Menschen mit unterschiedlichsten politischen Ansichten gehörten, wie zum Beispiel der bekannte Anarchist Michail Magid (Schreibman).

Im Dezember 2010 wurde bekannt, dass die Moskauer Zelle der RMP sich aufgelöst habe, womit Dar Schutjaews Parteimitgliedschaft endete.

In den letzten Jahren seines Lebens konvertierte er zur Katholizismus [3], distanzierte sich aber nie öffentlich von seinen früheren Ansichten. Noch kurz vor seinem Tod gratuelierten ihn seine ehemalige Genossen zum Geburtstag und würdigten seine theoretische Verdienste. Im Ukraine-Konflikt positionierte er sich radikal pro-ukrainisch, was als konsequente Fortsetzung seiner früheren maoistischen Linie der Unterstützung des „unterdrückten Nationalismus“ und Ablehnung des „Sowjetrevanchismus“ gelten kann. Die von ihm gegründete Partei war zwar einer der ersten linken Organisationen Russlands, die sich für solche Themen, wie den Kampf gegen die Homophobie öffnete, einen nennenswerten Faktor konnte sie nicht einmal im ML-Spektrum werden. Formell exestiert sie immer noch, auch wenn ihre Aktivitäten seit zehn Jahren wesentlich weniger geworden sind.

Am 1. Februar 2020 verstarb Dar Schutayjew im Alter von 50 Jahren in Moskau.

*) auch "Dar Žutaev" oder "Dar Zhutaev"

Anmerkungen

1) http://maoism.ru/

2)  Über die Rolle der RKRP als „linksstalinistische“ Partei für die radikale Linke in Russland siehe: E.Kasakow: Sergei Biez (17.06.1968-24.03.2019)

3) Schutajews Konversion zum Katholizismus ist nicht nur durch seine Seiten in sozialen Netzwerken bekannt, sondern auch durch Nachrufe seiner Freunde, wie z.B. des Anarchisten Michail Schreybman(Magid).

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Nachtrag red. trend:


Quelle: http://maoism.ru/en/