Quelle: Jungle World vom 29.3.2000

Formen totaler Vereinnahmung
Zur Aktualität der Gesellschaftsanalysen Hannah Arendts 

Von Klaus Thörner

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Während die Apologeten einer rot-grünen Zivilgesellschaft sich des Werks von Hannah Arendt nur dort bedienen, wo es ihnen nützlich erscheint, neigen Linke dazu, es überhaupt zu ignorieren. In der Auseinandersetzung mit der Herrschaftskritik der gruppe demontage (Jungle World, 3/2000, »Birth of the Nations«) kritisiert Klaus Thörner die Reduktion des Staates auf ein Gewaltverhältnis zur Regulierung von Kapitalinteressen. Das Beispiel Jugoslawien zeige, wie die Auflösung von Staatlichkeit zu Terror, Willkürherrschaft oder einem Volksgruppenrecht führe, in dem sich niemand mehr auf Individualrechte berufen könne.

Der Boom der sich auf Hannah Arendt beziehenden Veröffentlichungen, der nach ihr benannten Preise und Forschungszentren will nicht enden. Seit 1989 entdeckt die etablierte Wissenschaft und entdecken linksliberale und rechtskonservative Kreise eine Theoretikerin, die sie zuvor wegen ihrer Unangepasstheit an den rechten und linken Mainstream am Rande liegen gelassen hatten.

Doch worauf bezieht sich das aktuelle Interesse? In erster Linie auf den letzten Teil des Hauptwerkes von Arendt, »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, in dem sie sich sowohl mit dem Nationalsozialismus wie mit dem Stalinismus als Formen totaler Herrschaft beschäftigt. Mit der Kronzeugin Arendt erscheint eine Gleichsetzung möglich und damit die Einebnung des »Tausendjährigen Deutschen Reiches« und der deutschen »Endlösung« als eine von mehreren Formen totaler Herrschaft im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig wird uns Arendt als Vordenkerin einer »Zivilgesellschaft« verkauft.

Ihre Vorstellung von direkter Demokratie und einer Gestaltung des politischen Raumes durch Gleichberechtigte, die sich am Gedanken einer föderalistischen Räterepublik orientierte, wird zu einem realpolitischen Programm formatiert, um mit Bürgerinitiativen, NGOs und der angeblichen Kraft kommunikativen Handelns den Kapitalismus zu domestizieren. (1)

Während das Dresdener Arendt-Institut die referierte Totalitarismus-Theorie zu etablieren versucht und sich vor allem der Stasi-Forschung widmet, fungiert das Hannah-Arendt-Zentrum an der Universität Oldenburg vor allem als Beratungs- und Werbebüro der rot-grünen Zivilgesellschaftler. Berührungspunkte zwischen den Forschungseinrichtungen sind durchaus vorhanden. So machte sich die Leiterin des Oldenburger Arendt-Zentrums, Antonia Grunenberg, bisher vor allem als Verfasserin des Buches »Antifaschismus - ein deutscher Mythos« einen Namen, in dem nicht mehr der Faschismus, sondern der Antifaschismus als totalitäre Doktrin abgehandelt wird. (2) Logisch erscheint vor diesem Hintergrund Grunenbergs Lobrede auf Martin Walsers Plädoyer für die selbstbewusste Nation, mit der sie Ende 1998 die wissenschaftliche Zunft auf den rechten Pfad einschwor. (3)

Zuletzt bot das Oldenburger Arendt-Zentrum Anfang Februar dieses Jahres auf einer mit anderen Einrichtungen der Universität veranstalteten Tagung der deutsch-amerikanischen Wissenschaftlerin Dagmar Barnouw ein Forum. Barnouw trat, ganz im Sinne Walsers, für eine Historisierung und Kontextualisierung des Nationalsozialismus ein und polemisierte gegen fortdauernde Ansprüche von Opfer-Gruppen. Nicht zuletzt wollte sie, angeblich völlig wertneutral, das Prinzip »Geschichte ist Revisionismus« wissenschaftlich etablieren, wobei sie dessen Notwendigkeit - wiederum völlig wertneutral - mit einem Herunterrechnen der Opfer-Zahlen von Auschwitz belegte. In Erweiterung des Grunenberg-Verdikts vom Mythos Antifaschismus sprach sie abschließend vom »antifaschistischen Wahn«.

Die Möglichkeit einer radikalen Gesellschaftsumwälzung kommt im aktuellen Arendt-Diskurs nicht mehr vor. Dabei beziehen sich die Zivilgesellschaftler mit Vorliebe auf Arendts Buch »Über die Revolution«, in dem sie die verpassten Chancen zur Durchsetzung von Räte-Systemen in den Revolutionen seit 1776 reflektiert und an der Aktualität dieses Gedankens festhält. Zum Glück erklärt uns der Arendt-Forscher Albrecht Wellmer, was Arendt gemeint hat: Konkretistisch verstanden sei die Räte-Idee von Hannah Arendt naiv, sie müsse als eine Metapher für die Zivilgesellschaft gelesen werden. (4)

Ähnlich wird mit Arendts Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« verfahren. Wenn es überhaupt erwähnt wird, dann nur als Beleg einer Gleichstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus unter dem Label des Totalitarismus. Richtig ist, dass Arendt sowohl Nationalsozialismus als auch Stalinismus als Formen totaler Herrschaft untersucht hat. Ihre Darstellung totaler Herrschaft verliert jedoch das Fundament, wenn sie ohne deren Herleitung referiert wird.

Mit anderen Worten: Wenn Arendt ernst genommmen würde, könnte die Tendenz zur Wandlung demokratischer Nationalstaaten in totalitäre Systeme nicht verstanden und angemessen analysiert werden, ohne die Entwicklung des Antisemitismus und Imperialismus zu benennen. Als weitere Ursprünge totaler Herrschaft sieht Arendt den wachsenden Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert und die zunehmende Entrechtlichung einzelner Bevölkerungsgruppen.

Dies bleibt in der etablierten Arendt-Forschung weitgehend unberücksichtigt. Die Liste der Arendtschen Themen, auf die nicht oder kaum eingegangen wird, ist lang: ihre Analyse des Nationalismus, vor allem in seiner völkischen Prägung; die Bedeutung des Bündnisses zwischen Kapital und Mob; die Trennung zwischen republikanischem Chauvinismus und völkischem Nationalismus; die Wandlung demokratischer Rechtsstaaten in totalitäre bürokratische Apparate; ihre Darstellung der »vollendeten Sinnlosigkeit« der Shoah und der Wirkungsmacht der Ideologie; die Ausführungen über Sadismus und Willkür der TäterInnen in den Vernichtungslagern, die das einseitige Bild von der »Banalität des Bösen«, das seit Arendts Prozess-Bericht über »Eichmann in Jerusalem« die Sicht auf die deutschen TäterInnen prägt, korrigiert bzw. ergänzt; ihre Analyse über die zunehmende Ausgrenzung von Menschen und die Produktion von immer mehr Flüchtlingen und Illegalen.


Der Janus-Kopf von Antisemitismus und völkischem Imperialismus

Die Anfänge des modernen Antisemitismus lagen für Arendt in der Frühzeit des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu Beginn des imperialistischen Zeitalters, das seinen Ausgangspunkt in einer Überproduktions- und Überakkumulationskrise nahm, stellte sich heraus, dass der Kapitalismus, wenn er mit den Grenzen der Territoriums gesetzte Limitierungen überstieg, nicht mehr ohne staatliche Unterstützung und Intervention auskommen konnte.

Die Bourgeoisie konnte es sich nicht mehr leisten, sich von Staatsgeschäften fernzuhalten, und so verloren die Juden in den ersten Jahrzehnten des Imperialismus, also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ihre Monopolstellung im staatlichen Anleihe- und Darlehenswesen. Gemessen an imperialistischen Geschäften wurde der jüdische Reichtum zur quantité négliable.

Im nationalstaatlich organisierten europäischen Imperialismus, in dem der Streit zwischen den Nationen im Sinne eines Konkurrenzkampfes zwischen Riesenkonzernen aufgefasst wurde, »konnte das national nicht gebundene, intereuropäische jüdische Element«, so Arendt, »nur Gegenstand allgemeinen Hasses werden«. (5)

Zum überakkumulierten Kapital, das auf Expansion drängte, gesellte sich nach Arendt der Mob, dessen Genese sie so beschrieb: »Älter als überflüssiger Reichtum war ein anderes Nebenprodukt kapitalistischer Entwicklung: Die menschlichen Abfallprodukte, die nach jeder Krise, wie sie unweigerlich auf jede Periode industrieller Ausdehnung folgte, aus der Reihe der Produzenten ausgeschieden und in permanente Arbeitslosigkeit gestoßen wurden.« (E 339)

Unter dem Begriff des Mobs fasste Arendt zunächst pauperisierte, für die Binnenindustrie des Nationalstaats »überflüssige« Massen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus Europa auswanderten und sich in den Kolonien ihrer Mutterländer mit dem überschüssigen Kapital verbündeten. Verallgemeinernd folgerte sie: »Das Bündnis von Kapital und Mob steht am Anfang aller konsequent imperialistischen Politik.« (E 347)

Den Begriff des »Mobs« erweiterte Arendt im Weiteren noch auf Bevölkerungsgruppen, deren Einbindung in das kapitalistische Produktionssystem zwar noch erhalten blieb, die sich jedoch einer ständigen Angst vor »Überflüssigkeit« ausgesetzt sahen. Arendt benannte in diesem Zusammenhang die übertriebene Bedrohungsangst des Kleinbürgertums. (E 106)

Im Bündnis mit dem Mob gelang es dem Kapital nach Arendt, die imperialistische Strategie des Kapitals sozial zu verankern. Jenseits der Vertretung von Klasseninteressen bildete sich ein neues politisches System heraus, für das Imperialismus und Antisemitismus als klassenübergreifende Konstitutionsformen eine entscheidende Rolle spielten.

Antisemitische Parolen erwiesen sich, so Arendt, als die erfolgreichsten Mittel zur Aufreizung und Organisierung der Massen zum Zwecke der Expansion der Nationalstaaten. Damit umriss sie den in der sonstigen Forschung vernachlässigten Zusammenhang zwischen Imperialismus und antisemitischer Agitation. Der Antisemitismus entpuppte sich schließlich als das, worauf eine in allen anderen Fragen hoffnungslos gespaltene öffentliche Meinung sich über Nacht einigen konnte.

Arendt erkannte ein deutliches Ansteigen des offenen Antisemitismus in Zeiten der Krisen des Kapitalismus. Die erste antisemitische Welle in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts stand für sie nicht zufällig im Kontext von Krisen, Depressionen und Finanzskandalen. Das antisemitische Grundmuster lag für Arendt in einem falschen Antikapitalismus, »wonach derjenige, dessen Geld ausschließlich dazu benutzt (wird), mehr Geld zu machen, bitterer und nachhaltiger gehaßt wird als derjenige, der seine Profite auf einem langen und komplizierten Umwege des Produktionsprozesses erwirbt«. (E 101)

Hinzu kam im imperialistischen Konkurrenzkampf der kapitalistischen Nationalstaaten der Wahn von einer jüdischen Verschwörung im Weltmaßstab: »Es sind immer wieder die Vorstellungen von den Juden als einer internationalen Handelskette, eines weltumspannenden Familienkonzerns, (...) die (...) sich transformieren in die Phantasien über die (...) allmächtige Geheimgesellschaft, die die Fäden des Weltgeschehens zieht.« (E 83)

Der von Arendt herausgestellte Zusammenhang zwischen Imperialismus, falschem Antikapitalismus, Nationalismus und Antisemitismus ist in der Forschung einzigartig. Sie analysiert diese Phänomene nicht einfach neben- oder nacheinander. Sie stehen bei ihr vielmehr in einem Wechselverhältnis und bedingen einander.

Auch in ihrer Analyse der NS-Volksgemeinschaft verwies Arendt auf einen Zusammenhang zwischen Imperialismus und Antisemitismus. Antisemitische Wahnvorstellungen fungierten demnach als unerlässliche Kehrseite und Legitimationsbasis deutscher Eroberungs- und Weltmachtpläne: »Die Fiktion einer gegenwärtigen jüdischen Weltherrschaft bildete die Grundlage für die Illusion einer zukünftigen deutschen Weltherrschaft. (...) Nur darum rückte der Antisemitismus unverrückbar in das Zentrum der Nazifikation; ihn daraus wieder zu entfernen, hätte geheißen, den Massen die Zuversicht auf die unabwendbar näher rückende künftige deutsche Weltherrschaft zu rauben.« (E 760)

Über den NS hinaus bemerkte Arendt zutreffend, »dass der Antisemitismus politisch nur relevant wird und virulent werden kann, wenn er sich mit einem der wirklich entscheidenden politischen Probleme der Zeit verbinden kann«. In der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus galten der »Schandvertrag« von Versailles, die Zuwanderung von Ost-Juden, weiteren Arbeitsmigranten, Flüchtlingen und Staatenlosen und ab 1929, die Bedrohung der deutschen Arbeit durch die Weltwirtschaftskrise als entscheidende Probleme, heute heißen sie u.a.: Flüchtlinge bzw. Illegale sowie Bedrohung der deutschen Arbeit durch Globalisierung, Shareholder-Value und angelsächsischer Kapitalismus.

Bereits für das 19. Jahrhundert erkannte Arendt innerhalb des Bedingungszusammenhanges zwischen Imperialismus und Antisemitismus ein spezifisch deutsches Moment. Sie betonte, dass nur in Deutschland die imperialistischen Bewegungen mit ihren extrem nationalistischen Phrasen von vorneherein antisemitisch waren, ja »sie kristallisierten sich um die Judenfrage«. Die deutsche Pan-Bewegung nahm von der »Judenfrage« ihren Ausgang. Und: »Je mehr im Bündnis zwischen Mob und Kapital die Initiative auf den Mob überging, desto mehr kristallisierte sich die imperialistische Ideologie um den Antisemitismus.« (6) Arendt ging dabei allgemein von der Möglichkeit eines Umschlagens der Demokratie in eine Despotie aus, deren Herrscher aus dem Mob hervorgingen. (7)

Die Einsichten Arendts zum Kontinentalimperialismus und Pangermanismus lassen sich heute als kritische Stellungnahmen zu von der gruppe demontage vorgetragenen (vgl. Jungle World, 3/2000) und in der deutschen Linken weit verbreiteten Positionen lesen. Eine Argumentation, die behauptet, es sei unsinnig, auf Unterschiede zwischen imperialistischen Staaten zu verweisen und zu einer Verteidigung der staatlichen Souveränität etwa Frankreichs und Jugoslawiens gegenüber dem deutschen Ziel einer Separierung von Staaten in Stammesverbände und Blutsbanden aufzurufen, lässt sich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Arendts über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nicht halten.

So erkannte Arendt z. B. ein wesentliches Mittel des Pangermanismus in einer heute wieder hochaktuellen Methode der deutschen Außenpolitik: der Instrumentalisierung von »Volksgruppen« bzw. ethnischen Minderheiten. Arendt benannte das Ziel der Antisemiten darin, durch die Benutzung völkischer Minderheiten in anderen Nationen, die zu eng gewordenen Grenzen des nationalen Territoriums zu sprengen. Um dies zu erreichen, würden sie, »den Begriff der Nation, der immer eine Pluralität gleichberechtigter Nationen voraussetzt, durch einen Volksbegriff ersetzen, der von vorneherein eine physisch gegebene Hierarchie der Völker implizierte.« (E 111)

Dem pangermanistischen Kontinentalimperialismus, der in erster Linie auf die Erweiterung deutschen Raumes in Richtung Ost- und Südosteuropa drängte, ging es laut Arendt im Gegensatz zum britischen und französischen Überseeimperialismus immer darum, »dass sich das 'deutsche Herrenvolk' im eigenen Lande von unterdrückten Rassen abheben können muß -, der Rassebegriff selbst erfährt bei ihnen eine verstärkte und verallgemeinerte Bedeutung. (...) Es war dem kontinentalen Imperialismus vorbehalten, die Rasseideologie unmittelbar in Politik umzusetzen und apodiktisch zu behaupten: 'Deutschlands Zukunft liegt im Blute.'« (E 475 f.)

Wärend die historische Forschung den pangermanistischen Kontinentalimperialismus und seine innenpolitischen Implikationen zu wenig beachtete, sah Arendt - auch hierin hochaktuell - im Antisemitismus eine Ausdrucksform der breiten Bevölkerung in Deutschland und Österreich für ihre latente oder offene Ablehnung des Systems der parlamentarischen Demokratie. Bereits in der Weimarer Republik glaubte sich jede neue politische Gruppe nicht besser vor den umworbenen Massen legitimieren zu können, als durch die klare Betonung, dass sie nicht Partei, sondern Bewegung sei. (E 532)

»Antisemitismus hatte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als die wirksamste Waffe demagogischer Propaganda bewährt und bildete auch ohne jeden Einfluß von seiten der Nazis in den zwanziger Jahren in Deutschland und Österreich einen der mächtigsten Faktoren der öffentlichen Meinung. Es war nur natürlich, dass die antisemitische Stimmung desto mehr anstieg, je beharrlicher alle der Republik ergebenen Parteien und Organe der öffentlichen Meinung eine Diskussion der Judenfrage vermieden. Dass diese als nicht 'salonfähig' galt, war für den Mob der schlüssigste Beweis dafür, dass die Juden die wahren Repräsentanten der herrschenden Gewalten sind, und machte die Behandlung der Judenfrage als solche zum Kampf gegen die Heuchelei und Verlogenheit des 'Systems'.« (E 750) An dieses Ressentiment konnte der Nationalsozialismus nahtlos anknüpfen.

Obwohl Arendt sich in ihren Schriften kaum mit der Entwicklung des Kapitalismus beschäftigte, betrachtete sie die totale Herrschaft, ähnlich wie Adorno / Horkheimer, als negative Aufhebung der Klassengesellschaft. Ein wesentliches Merkmal der totalen Herrschaft bestand für Arendt in der völkischen Zusammenfassung und Organisierung der durch den Kapitalismus und die moderne Gesellschaft atomisierten Subjekte.

Das eigentliche Neue an der Nazi-Propaganda erkannte sie darin, dass diese den Antisemitismus zu einem Prinzip der Selbstbestimmung machte. Den Massen atomisierter, undefinierbarer und substanzloser Individuen wurde ein Mittel der Selbstidentifizierung in die Hand gegeben. (E 753 f.) Anders gesagt: Aus Angst vor Überflüssigkeit formierten sich die Deutschen zur antisemitischen Volksgemeinschaft. Die mit der Idee der Volksgemeinschaft verbundene Wärme und Sicherheit war laut Arendt sehr geeignet, die Ängste moderner Menschen im »Dschungel einer atomisierten Gesellschaft zu beschwichtigen«. (E 499)

Im seit den Anfängen des Imperialismus bestehenden Bündnis zwischen Kapital und Mob entwickelte sich im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus nach Arendt der Mob zum bestimmenden Faktor. Die alte monokausale linke Theorie »Hinter dem Faschismus steht das Kapital« wird von Arendt damit nicht einfach verworfen, sondern erweitert und korrigiert zur Aussage: Der Faschismus stützt sich auf ein Bündnis von Kapital und Mob: »Das überschüssige Kapital, das des Mobs bedurfte, um sich sicher und profitabel zu investieren, setzte einen Hebel in Bewegung, der verborgen und von besseren Traditionen verdeckt, in der Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft immer enthalten gewesen war. Die von allen Prinzipien und aller Heuchelei gereinigte Gewaltpolitik konnte sich erst durchsetzen, als sie mit einer Masse von Menschen rechnen konnte, die aller Prinzipien ledig und numerisch so stark angewachsen war, daß sie Fürsorgetätigkeit und Fürsorgefähigkeit des Staates überstieg.« (E 350)

Davon ausgehend wäre, übertragen auf die aktuelle Situation, die etablierte rot-grüne Arendt-Forschung, die von der Zivilgesellschaft und osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen schwadroniert, mit der Frage zu konfrontieren, ob nicht das »überschüssige Kapital« seit 1989 auch einen Mob in Gang gesetzt hat, den wir in Deutschland randalierend auf jüdischen Friedhöfen und brandschatzend und mordend vor Asylbewerberheimen finden.


Rassismus und Bürokratie als imperialistische Organisationsformen

In den von Kapital und Mob gemeinsamen beherrschten Kolonien wurden Rassismus und Bürokratie zu den wesentlichen Organisationsformen. Diese Prinzipien wurden, so Arendt, später nach Europa re-importiert und durch den pangermanistischen Kontinentalimperialismus radikalisiert. Repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung und staatliche Verfasstheit wurden nach dem Ersten Weltkrieg besonders in Deutschland und den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns mittels dieser Prinzipien nach und nach unterhöhlt.

Arendt schrieb zu den Anfängen dieser Entwicklung: »Die Expansionspolitik des imperialistischen Zeitalters bediente sich zweier, innerhalb der europäischen Geschichte durchaus neuer Herrschafts- und Organisationsprinzipien: Sie führte den Rassebegriff in die innerpolitische Organisation der Völker ein, die sich bis dahin als Nationen verstanden und andere, nichteuropäische Völker als werdende Nationen angesehen hatten, und sie setzte an die Stelle der vorimperialistischen erobernden und ausraubenden Kolonialherrschaft, die geregelte Unterdrückung, die wir Bürokratie nennen, in welcher Verwaltung an die Stelle der Regierung, die Verordnung an die Stelle des Gesetzes und die anonyme Verfügung eines Büros an die Stelle öffentlich-rechtlicher Entscheidungen tritt.»(E 405)

Am Ende dieser Entwicklung stand der Verwaltungsmassenmord. In der Darstellung der großen Bedeutung des bürokratischen Apparates für das nationalsozialistische System und die Organisation des deutschen Projektes »Judenvernichtung« ergeben sich deutliche Übereinstimmungen zwischen den Forschungsergebnissen Arendts, Raul Hilbergs und Franz Neumanns.

Auch Forscher, die bevölkerungspolitische Motivationen betonen, können nicht an Arendt vorbeigehen. Denn durch den Verwaltungsmassenmord wollte das nationalsozialistische Deutschland, so Arendt, die »Judenfrage« und alle noch verbleibenden demografischen Probleme der Welt lösen. (E 408) An dieser Stelle wird deutlich, dass Arendt keineswegs die Relevanz bevölkerungspolitischer Ziele in deutschen Strategien, d.h. die Tötung »überflüssiger und unerwünschter Esser« negierte, auch wenn sie die »vollendete Sinnlosigkeit« als das Einzigartige der Shoah hervorhob.

Die Analysen Arendts bieten somit Ansatzpunkte für eine Verknüpfung diverser Forschungen zum Nationalsozialismus und der Shoah mit den Arbeiten von Susanne Heim und Götz Aly (8), in denen die bevölkerungspolitische Motivation für das deutsche Massenmordprogramm betont wurde. Dabei sollte jedoch die Hauptmotivation, der eliminatorische deutsche Antisemitismus, nicht außer Acht gelassen werden.


Vollendete Sinnlosigkeit?

Auch am Gegenpol des von Heim / Aly vertretenen Erklärungsansatzes zur Shoah, dort, wo Daniel Jonah Goldhagen den wahnhaften Antisemitismus als deutsche Hauptmotivation erkannte, ermöglichen die Analysen Arendts Verbindungsstränge zu anderen Aspekten der Forschung.

Goldhagen urteilte zu vorschnell, als er Arendts Darstellung in folgenden Sätzen resümierte: »Seit Hannah Arendt hat eine dominierende Forschungsrichtung implizit oder explizit die Annahme vertreten, dass sich die Täter 'affektiv neutral' verhielten, den Juden gegenüber also keinerlei Gefühl zeigten. Alle Erklärungen, die die Bedeutung der Täterpersönlichkeit leugnen, bringen damit zumindest potentiell zum Ausdruck, daß die wie immer gearteten Ansichten der Täter über die Opfer nicht von kausaler Bedeutung waren.« (9)

Goldhagen übersieht in dieser einzigen Stellungnahme zu Arendt zweierlei: Erstens beschrieb Arendt neben dem kühl und berechnend agierenden Schreibtischtäter, dem ganz gewöhnlichen deutschen Beamten und Bürokraten, den sie mit ihrem Eichmann-Porträt charakterisierte, in ihrer Studie zum Auschwitz-Prozess auch die sadistische Willkür der TäterInnen in den Lagern, die die Situation für die Opfer täglich aufs Neue unberechenbar machte. (10)

Zweitens übersieht Goldhagen, dass Arendt keineswegs die kausale Bedeutung der Ansichten der TäterInnen über die Opfer negiert. Im Gegenteil. Dort, wo Arendt von der vollendeten Sinnlosigkeit des Lager-Universums und der Shoah nach Maßstäben des »gesunden Menschenverstandes« sprach, betonte sie gleichzeitig, ganz ähnlich wie Goldhagen, die Eigenmächtigkeit und innere Logik der Wahnideen der TäterInnen: »Das Lagerleben erinnert den Betrachter an nichts so sehr wie an ein Irrenhaus. Der gesunde Menschenverstand, für dessen Nützlichkeitsdenken stets das Gute und auch das Böse einen Sinn macht, wird durch nichts so sehr beleidigt wie durch die vollkommene Sinnlosigkeit einer Welt, (...) in welcher es gar nicht darauf ankommt, dass Arbeit sich in Produkten vergegenständlicht. (...) Weder die Einrichtung der Lager selbst, und was innerhalb ihrer streng bewachten Grenzen vor sich ging, noch deren politische Rolle ergeben für den gesunden Menschenverstand irgendeinen Sinn. (...) Doch es bestehen kaum Zweifel daran, dass die Urheber diese Verbrechen im Namen ihrer Ideologie begangen haben, von der sie glaubten, sie sei durch die Wissenschaft, die Erfahrung und durch die Gesetze des Lebens bewiesen. (...) Dem von ihnen angerichteten Grauen liegt die unbeugsame Logik zu Grunde, welche auch die Sichtweise von Paranoikern regiert, in deren Systemen alles mit absoluter Notwendigkeit folgert, wenn einmal die erste verrückte Prämisse akzeptiert worden ist.« (11)

Gleichsam in Vorwegnahme einer der Hauptthesen Goldhagens und in deutlicher Kontrastierung zur Gleichsetzung nationalsozialistischer Vernichtungslager mit dem stalinistischen Gulagsystem bemerkte Arendt: »Es ist einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen dem deutschen und dem russischen Konzentrationslagersystem, dass die Arbeitskraft der Häftlinge von den Nazis aus ideologischen Gründen nicht ausgebeutet wurde. Arbeit in den Lagern war ein wesentlicher Bestandteil der Folterung und durfte gerade darum nicht zweckhaft sein.« (E 888 f.) Vor allem Neuankömmlingen seien deshalb in den Lagern sinnlose Aufgaben zugewiesen worden. (E Fußnote 917 f.)

Des Weiteren betont Arendt ebenso wie Goldhagen die persönliche Verantwortung der TäterInnen und ihre Möglichkeit, »Nein zu sagen«, auch unter den Bedingungen einer Diktatur. Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung nicht möglich. (E 658) Allein mit dieser Aussage sperrt sich Arendt gegen die aktuelle Totalitarismustheorie.

Die Analysen von Hannah Arendt bieten für die Forschung über den Nationalsozialismus und die Shoah Verbindungsstränge, um heute oftmals gegeneinander diskutierte Ansätze, wie die Betonung der Ideologie und des antisemitischen und rassistischen Wahnsystems der TäterInnen (z. B. Goldhagen), dem bürokratisch organisierten Verwaltungsmassenmord (z. B. Hilberg) und der Bevölkerungspolitik (z. B. Heim / Aly) in ihrer Wechselwirkung diskutieren zu können.

Neben ihrer Bedeutung für die Geschichtsschreibung über den Imperialismus, den völkischen Nationalismus, den Nationalsozialismus und die Shoah enthalten die Schriften Arendts darüber hinaus wichtige Ansätze für eine Analyse der aktuellen Gesellschaftsentwicklungen.


Republikanischer versus völkischer Nationalismus

In der Debatte zwischen der gruppe demontage, Jürgen Elsässer und anderen (12), um die Frage, ob sinnvoll zwischen republikanischen Staatsformen einerseits und auf der Blutsbande beruhenden Stammesgesellschaften wie der deutschen andererseits unterschieden werden kann und ob die Verteidigung staatlicher Verfasstheit gegenüber deren angestrebter Aufsprengung durch Rassehorden wie der UCK, baskischen Separatisten oder den Sudetendeutschen eine notwendige linksradikale Option sein müsste, nimmt Arendt eine Position ein, vor der die Argumentation der gruppe demontage nicht haltbar ist.

Als wichtiges Element auf dem Weg zur totalen Herrschaft benennt sie die - nach demontage zu vernachlässigende - Verwandlung von Nationen in Rassehorden. (13) Darüber hinaus unterschied Arendt deutlich zwischen der republikanischen und völkischen Form des Nationalismus und demonstrierte dies am Beispiel Deutschlands und Frankreichs.

Nach der Niederlage von 1806 setzte sich in den deutschen Fürstentümern, so Arendt, die völkische Vorstellung durch, die sich deutlich vom französischen Republikanismus absetzte. Damals begannen »die Versuche, die sprachliche Definition des deutschen Volkes mit (...) Vorstellungen von 'Blutsbanden' zu erweitern.« (E 367) Das deutsche Nationgefühl blieb darüber hinaus immer ein Reaktionsgefühl, das ohne die Realität eines äußeren Feindes seinen Sinn verlor und daher leichter ins Hysterische umschlug als das Nationalgefühl in anderen Staaten. (E 368)

Die von Arendt vorgenommene Differenzierung zwischen republikanischem Chauvinismus und völkischem Nationalismus gilt bis heute: »Der völkische Nationalismus (...) unterscheidet sich von dem westlichen Nationalismus auch dann, wenn dieser in seiner pervertierten chauvinistischen Form in Erscheinung tritt. Der Chauvinismus vor allem französischer Prägung (...) konnte sich in allen möglichen romantischen Verherrlichungen der Vergangenheit, der Toten- und Ahnenkulte ergehen. Er konnte ein unglaubliches Vokabular der Großsprecherei ersinnen und versuchen, die ganze Nation mit 'gloire' und 'grandeur' besoffen zu machen; aber er hat niemals behauptet, dass Menschen französischer Abstammung, die in einem anderen Lande geboren und erzogen, ohne Kenntnis der französischen Sprache und Kultur, nur dank mysteriöser Qualitäten ihres 'Blutes' Stammesfranzosen seien. (...) Die völkische Arroganz ist größer und schlimmer als der chauvinistische Größenwahn, weil sie sich auf innere unmeßbare Eigenschaften beruft.« (E 481 f.)

In der aktuellen Situation, in der deutsche Stammeskrieger wie Schily, Scharping und Fischer mit Hilfe verbündeter Blutsbanden gegen das Prinzip staatlicher Souveränität und territorialer Integrität im internationalen Recht und am praktischen Exempel Jugoslawien zu Felde ziehen, ist die von Arendt aufgezeigte Differenz zwischen republikanischem Chauvinismus und völkischen Nationalismus und Blutsgedanken ein Unterschied ums Ganze, den Serben, Juden und Roma im Kosovo zur Zeit am eigenen Leibe erfahren müssen.

Die von der gruppe demontage und einem großen Teil der linksradikalen Szene vorgenommene reduktionistische Analyse des Staates als Gewaltverhältnis zur Regulierung verschiedener Kapitalinteressen verkennt, so bitter es für Linke klingen mag, dass seit der Französischen Revolution einzig der Staat als Instanz fungiert, die Rechte setzt und eben auch garantiert. Ein »Recht auf Rechte«, von dem Arendt spricht, gibt es bisher nur mit einem legalen Status als Staatsbürger. Eine Auflösung der Staatlichkeit, die laut demontage so beiläufig und wurstig hinzunehmen ist, führt, wenn sie nicht am Ende einer Weltrevolution steht, die weit und breit nicht in Sicht ist, zu Terror, Willkürherrschaft oder einem Volksgruppenrecht, in dem niemand sich mehr auf Individualrechte berufen kann.


Die Entrechtlichung von Flüchtlingen und Staatenlosen

Auch hinsichtlich der aktuellen Flüchtlingspolitik sind Arendts Analysen von Bedeutung. Ihre Darstellung der Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg erweist sich für die Phase nach 1989 als erschreckend zeitgemäß: Der Weltkrieg und die anschließende Inflation änderten die Besitzverhältnisse nach ihrer Auffassung so radikal, dass nicht mehr von der alten Klassengesellschaft gesprochen werden konnte.

Es folgten »Arbeits- und Erwerbslosigkeit, die nur noch im Namen etwas mit den uns bekannten Krisen der kapitalistischen Produktion gemein hatten, denn sie blieben nicht auf die Arbeiter- oder besitzlosen Klassen beschränkt, sondern erfaßten ganze Nationen und sämtliche Berufe. Die Bürgerkriege, die sich zwischen die beiden Weltkriege schoben, waren nicht nur blutiger und grausamer als früher; sie hatten Völkerwanderungen zur Folge, wie sie Europa seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden nicht mehr gekannt hatte.« (E 559)

Die von Schily und der deutschen Bürokratie vorangetriebene Ersetzung des Asylrechts durch Gnaden- und vor allem Verwaltungsakte attestierte Arendt in ähnlicher Weise bereits für die deutsche Politik der zwanziger Jahre. Sie erkannte, dass sich in Deutschland vor dem Hintergrund des so genannten Flüchtlings- und Staatenlosenproblems mehr und mehr die Überzeugung durchsetzte, »dass nationale Interessen allen Erwägungen juridischer Art überzuordnen waren, dass mit anderen Worten 'Recht ist, was dem deutschen Volke nützt'. Die Sprache des Mobs drückte hier, wie auch sonst nur das in brutaler Offenheit aus, wovon die öffentliche Meinung ohnehin überzeugt war und dem die öffentliche öffentliche Politik, wenn auch mit Zurückhaltung, ohnehin Rechnung trug.« (E 575)

Das prekäre Gleichgewicht zwischen Nation und Staat, zwischen Volkswillen und Gesetz, zwischen nationalen Interessen und legalen Institutionen ging laut Arendt verloren zu Gunsten eines demagogisch verhetzbaren Volkswillens, einer immer chauvinistischer werdenden Nation. (vgl. E 576) Die Demontage nahm ihren Lauf, die deutsche Linke, damals auch nicht schlauer als heute, ließ es geschehen.

Die Staatenlosen aus der Zeit vor 1945 heißen heute Illegale. Als Hauptfrage der deutschen Bürokratie der zwanziger Jahre, die auch heute wieder den Apparat von Otto Schily umtreibt, nannte Arendt: »Wie kann man den Staatenlosen wieder deportationsfähig machen? Der einzig praktische Ersatz für das ihm mangelnde nationale Territorium sind, immer wieder die Internierungslager gewesen.« (E 594)

Heute sind es die »Zentralen Anlaufstellen« (ZASTen) und Abschiebeknäste, in die Illegale interniert werden, bis ihre Identität festgestellt oder ein potenzielles Herkunftsland zu ihrer Aufnahme erpresst ist. Ein anderes modernes und »heimatnahes« Modell der Internierung von »Überflüssigen« sind die Nato-Protektorate in Bosnien und im Kosovo. Arendt folgerte weiter:

»Der irrsinnigen Massenfabrikation von Leichen geht die (...) Präparation lebender Leichname voraus. Den Anstoß (...) haben jene Ereignisse erzeugt, welche in einer Periode (...) plötzlich Hunderttausende und dann Millionen von Menschen (...) staatenlos, rechtlos machten, wirtschaftlich überflüssig und sozial unerwünscht.« (E 921)

Arendt wies darauf hin, dass die totale Herrschaft ihre Opfer als »Unerwünschte« und »Lebensuntaugliche« deklarierte und sie »von der Erdoberfläche verschwinden ließ, als hätte es sie nie gegeben«. (E 898) Die beständige Möglichkeit einer derartigen Bevölkerungspolitik hielt sie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für gegeben. Es sei davon auszugehen, dass weiterhin Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien »überflüssig« werden. Gleichzeitig bestehe die Gefahr, dass sich die immer der Bedrohung eigener Überflüssigkeit ausgesetzt sehenden atomisierten Individuen der modernen Gesellschaft als Verfechter einer eliminatorischen Bevölkerungspolitik gegenüber den von der öffentlichen Meinung eindeutig als »unerwünscht« und »überflüssig« deklarierten Gruppen entpuppen: »Wir wissen nicht, wie viele Menschen in diesem Massenzeitalter - in dem sich jeder auch noch fürchtet, 'überflüssig' zu sein, wenn das Gespenst der Arbeitslosigkeit nicht umgeht - freudig jenen 'Bevölkerungspolitikern' zustimmen würden, die unter diesem oder jenem ideologischen Vorwand in regelmäßigen Abständen die 'Überflüssigen' ausmerzen.« (E 906)

Arendts Darstellung der »Regelung« des »Problems« der Flüchtlinge und Staatenlosen in den zwanziger und dreißiger Jahren, die Schaffung eines rechtsfreien Raumes durch die fortschreitende Außerkraftsetzung des Asylrechts und die Internierung und Deportation von MigrantInnen und »Unerwünschten« ist von beklemmender Aktualität. Die von Arendt aufgezeigte Verknüpfung der »Judenfrage« mit der Flüchtlingsfrage in der öffentlichen Diskussion der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus verweist im Übrigen auf antisemitische Codes in der aktuellen Debatte um Migration und Illegale.

Wer mithin, wie die wissenschaftliche Arendt-Industrie in Dresden und Oldenburg, von Antisemitismus, Rassismus, Imperialismus, völkischem Nationalismus, Flüchtlingspolitik, dem Bündnis zwischen Kapital und Mob, der zunehmenden Überflüssig-Machung von Menschen und den modernen Erscheinungsformen dieser Phänomene nicht reden will, sollte von Hannah Arendt schweigen. Für eine Re-Formulierung radikaler Gesellschaftskritik sind die Analysen von Hannah Arendt zu diesen Themen demgegenüber von großer Bedeutung.


Anmerkungen

(1) Vgl. Albrecht Wellmer, »Hannah Arendt über die Revolution«, in: H. Brunkhorst/W. R. Köhler/ M. Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Frankfurt/M. 1999

(2) Vgl. Antonia Grunenberg: Antifaschismus - ein deutscher Mythos. Reinbek 1993

(3) Vgl. »Mit bloßem Dagegensein ist es nicht getan«. Hartmut Kuhlmann im Gespräch mit Antonia Grunenberg, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, Dezember 1998

(4) Vgl. Wellmer, a. a. O., S. 131.

(5) Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München/Zürich 1998, S. 57, im folgenden abgekürzt: E.

(6) Arendt, Hannah, »Über den Imperialismus«, in: Die Wandlung, 1945/46, Achtes Heft, S. 664.

(7) Arendt, »Über den Imperialismus«, a.a.O., S. 654.

(8) Vor allem: Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hamburg 1991

(9) Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996, S. 561

(10) Vgl. Arendt, Hannah: »Der Auschwitz-Prozeß«, in: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Berlin 1989, S. 99 ff.

(11) Arendt, »Die vollendete Sinnlosigkeit«, in: Nach Auschwitz, a.a.O., S. 8. u. 27.

(12) Vgl. konkret, Dezember 1999 und Januar 2000, Jungle World, Nr. 3, 12. Januar 2000, Dossier

(13) Vgl. Arendt, »Über den Imperialismus«, a.a.O., S. 654.


Klaus Thörners Text wurde für diese Ausgabe gekürzt. Vollständig wird er, zusammen mit Beiträgen von Lars Reensmann, Alfred Schobert, Cordula Behrens-Naddaf und Gerhard Scheit, in der vom Asta der Uni Oldenburg herausgegebenen Broschüre »Hannah Arendt und die Kritische Theorie« erscheinen.

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