Quelle: www.sozialismus.de 

Das politische Kapital der Europäer
Interview mit Pierre Bourdieu

Mit Pierre Bourdieu diskutierten Steffi Odenwald, Franz Schultheis, Gerd Siebecke und Margareta Steinrücke.

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Sozialismus: Sie sagen: Man müsse und könne dem Europa der Banken und des Geldes – flankiert von einem Europa der Polizei, der Strafverfolgung und des Militärs – ein soziales Europa entgegensetzen. Dazu sei zumindest eine Begrenzung der schädlichsten Auswirkungen der innereuropäischen Konkurrenz und des Wettbewerbsdrucks der USA und Japans nötig. Was muss positiv dazukommen, um das Projekt Soziales Europa im Gegensatz zu der von Ihnen analysierten Universalisierung des US-Modells zu qualifizieren?

Bourdieu: Es geht zunächst darum, die sozialen Bewegungen in Europa zu stärken, um eine echte transnationale, gesellschaftliche Kohäsion herzustellen. Die jetzige europäische Gewerkschaftslobby in Brüssel kann das nicht leisten, es bedarf einer echten sozialen Bewegung. Es gibt Beispiele dafür, wie eine solche Bewegung aussehen könnte, auch wenn sie erst rudimentär sind: der Marsch der Arbeitslosen z.B. und verschiedene Treffen der Gewerkschaften in Europa, aber nicht auf der Chef-Ebene zwischen den Gewerkschaftsführern, sondern zwischen Leuten, die mit gemeinsamen politischen und ideologischen Perspektiven an die Sache herangehen und auch intrinsisch motiviert sind. Wenn man dieses soziale Europa realisieren will, muss ein großer gemeinsamer Raum für die politische Diskussion geschaffen werden. Dem stellen sich verschiedene Hindernisse in den Weg. Dazu gehören zunächst die sprachlichen, die den Austausch zwischen den Gewerkschaften erschweren. Aber es gibt auch sehr unterschiedliche Traditionen in den Gewerkschaftsbewegungen – man weiß zu wenig voneinander, und man kennt sich zu wenig. Die Interessen der einzelnen Gewerkschaften sind natürlich verbunden mit den einzelnen Nationalstaaten und deshalb auch nicht immer kompatibel.
Insofern gibt es eine dringende Notwendigkeit, Öffentlichkeit zu schaffen. Man müsste etwa Zeitungen und Zeitschriften entwickeln, in denen ein solcher Austausch organisiert werden kann. Auf anderen Ebenen kann er auch mündlich stattfinden. Ich nenne z.B. den Dialog, den ich selbst mit Günter Grass am 20. November dieses Jahres führen werde. Das ist eine Form des Austausches, bei der sich nicht nur Regierungschefs treffen, sondern auch zwischen Intellektuellen diskutiert und dann in beiden nationalen Kontexten gleichzeitig über die gleichen Fragen gesprochen wird. Dasselbe war der Fall bei der Auseinandersetzung mit Tietmeyer, wo in Frankreich und in Deutschland nicht nur über die jeweiligen Bankenstrukturen im eigenen Land, sondern auch über das, was in dem anderen Land stattfand, gesprochen wurde. Das läuft darauf hinaus, den transnationalen Austausch aller Art zu stärken. Dafür bedarf es auch neuer Strukturen, was Gewerkschaften und Parteien angeht. Und es muss zu einer Veränderung der Mentalitäten kommen, die immer noch zu stark in den nationalen Kontexten befangen sind.
Wir brauchen nicht zuletzt in Brüssel auch Pressure-Groups von Intellektuellen und Gewerkschaften, wenn möglich sogar gemeinsame. Gegebenenfalls wäre es sogar sinnvoll, eine Schule für europäische Kader zu gründen, damit diese Eliten im europäischen Kontext auch mit den gleichen Grundlagen ins politische Geschäft gehen und wissen, worüber sie reden, wenn sie sich miteinander austauschen, also die gleiche Sprache sprechen. Was das politische Programm angeht, so ist es nötig, die föderalen Strukturen und das Parlament zu stärken, um dem Europa der Technokraten eine demokratische Alternative entgegenzusetzen. Das alles ist ausgesprochen schwierig zu realisieren. Dabei spielen die Journalisten eine zentrale Rolle. Man müsste sie integrieren und zum Komplizen dieser Aktion machen und bestimmte nahestehende Journalisten zu solchen Anlässen wie hier mit hinzubitten. Journalisten haben eine unwahrscheinliche Macht, sie können etwas schon im Keim ersticken, sie filtern und selektieren Informationen, und sie gestalten Themen nach ihrem Geschmack und ihrer Meinung stark um. An dieser Macht kommt man nicht vorbei. Es ist zwar schwierig, sie systematisch in diese soziale Bewegung mit zu integrieren. Aber ich verweise in diesem Zusammenhang auf die gemeinsame Veranstaltung, die wir 1997 mit der deutschen Mediengewerkschaft in Frankfurt hatten.

Es ist schon schwierig genug, die Rahmenbedingungen für einen europäischen Dialog erst einmal zu schaffen. Noch schwieriger wird es, sich darüber zu verständigen, was eigentlich die Inhalte, oder sagen wir besser: die Werte eines solchen Sozialen Europas sein könnten. Was wären die drei, vier Diskussionspunkte, über die man sich zunächst verständigen müsste?

In der europäischen Tradition der Arbeiterbewegung selbst findet man solche Schlüsselwerte, die es wieder aufleben zu lassen gilt, weil sie verschüttet wurden. Es hat einmal einen starken europäischen Internationalismus der Gewerkschaften gegeben, und noch in den 30er Jahren gab es einen intensiven Austausch zwischen den verschiedenen Initiativen in Europa. Man verkehrte zwischen Paris, London und Berlin, ohne dass dabei nationale Schranken Kommunikationsprobleme bereiteten. Der Bereich der économie sociale, der Gemeinwirtschaft, des Gemeinwesens, und die verschiedenen Formen der Arbeiterkooperativen in der europäischen Tradition sind etwas in Vergessenheit geraten oder wurden auch verdrängt. Man könnte – und das Phänomen Blair zeigt das auch sehr deutlich – fast von Scham und Peinlichkeit im Umgang mit diesen Werten sprechen. Man benutzt diese Begriffe nicht mehr, weil sie vielleicht unmodern erscheinen und aus dem politischen Vokabular gestrichen wurden. Aber sie sind immer noch lebendig – das hat sich in der französischen Streikbewegung des Jahres 1995 sehr gut gezeigt, wo es aus den verschiedensten Ländern Solidarbekundungen von Menschen gab, die sich ganz spontan mit diesen neuen Bewegungen identifizierten. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ein Arbeiter aus Großbritannien kam auf eigene Kosten nach Paris, um seine Solidarität unter Beweis zu stellen. Dieses Beispiel lässt hoffen, dass diese Werte, die unterschwellig noch fortexistieren, wieder lebendig gemacht werden können. Man müsste die sozialen Erfindungen, die es in Europa gab, wie etwa die Kooperativen, modernisieren, also ihre Gestalt aufgreifen, ihnen aber ein neues Gewand geben. Man würde in diesem europäischen Erbe die wichtigen Ansatzpunkte finden, die man heute braucht, um der Logik des Marktes etwas entgegenzustellen.
Ein Teil des Problems im Umgang mit dem europäischen Erbe der Gewerkschaftstraditionen des 19. Jahrhunderts (Arbeiterkooperativen etc.) besteht darin, dass diese im sowjetischen Systems verunstaltet und missbraucht, und damit auch negativ belastet und entwertet wurden. Der Neoliberalismus hat in seiner Rezeption des sowjetischen Systems nun gerade eine Denunziation dieser Formen der Gewerkschaftsbewegung vom Zaun gebrochen. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf Marcel Mauss verweisen, der schon in den 30er Jahren die sowjetischen Erfahrungen sehr kritisch angegangen ist, wobei er selber diese Gewerkschaftstradition im französischen Republikanismus sehr stark für Frankreich unterstützte. Es wird ein Problem sein, diese Ansätze zu rehabilitieren und von dieser Erblast zu befreien.
Wie kann man nun diese traditionellen Sozialbewegungen neu beleben? Man müsste eine Erhebung machen, ein Repertoire der sozialen Erfindungen erstellen, die es im Europa der Nachkriegszeit gegeben hat, um vor Augen zu führen, was es in der sozialen Ökonomie alles an Gütern gibt, mit denen man auch wieder neu wirtschaften könnte. Und es geht darum, die Techniken und politischen Praktiken, die in diesen sozialen Bewegungen gelebt wurden, überhaupt einmal zu erheben, aufzulisten. Ich meine z.B. Kinderkrippen, die in der sozialen Ökonomie eine zentrale Rolle spielten, und Erfindungen, wie z.B. Obdachlosenheime. Man müsste hierzu eine Übersicht schaffen, eine Art soziales Museum.
Um noch ein konkretes Beispiel aus der aktuellen Diskussion um die Pensionskassen zu nehmen: In Frankreich greift man dabei immer wieder auf das amerikanische Modell zurück und sagt, dort gebe es das ja. Man vergisst dabei, dass in dieser Hinsicht auch eine gute europäische Tradition existiert, und dass die Genossenschaftsbewegung im 19. Jahrhundert das alles schon kannte. Also braucht man nicht auf Amerika als Modell zu rekurrieren, sondern kann das europäische Traditionsgut aufleben lassen.
In einem solchen mutualistischen Verständnis würde natürlich die ökonomische Komponente sehr stark sein, es gäbe einfach Kapital, das dann von der Bewegung verwaltet werden könnte, und man könnte den ökonomischen Kräften des Marktes ein Sozialkapital, ein sozialpolitisches Kapital, ein Gemeinschaftskapital entgegenstellen, und dadurch entstünde dann auch eine ökonomische Macht. Man spricht aktuell viel über die Tobin-Steuer, was eine sehr gute Sache ist. Aber es wäre genauso effizient und interessant, sich zu fragen, ob nicht über ein solches genossenschaftlich oder gewerkschaftlich verwaltetes Kapital eine noch effizientere ökonomische Macht herauszubilden wäre.
Wer sind die zentralen Akteure der neuen sozialen Bewegungen? Es mag erstaunen, wenn wir von Erziehern, von Pädagogen sprechen, von Journalisten und Intellektuellen. Das ist auch insofern überraschend für die Vertreter der traditionellen Gewerkschaftsbewegung, als man die Intellektuellen immer nur als Anhängsel dieser Bewegung und als Hilfestellende sah. Die Geistesarbeiter – auch ein deutscher Begriff – treten aus dem Schatten dieser Bewegung heraus und spielen jetzt eine aktivere Rolle. Das könnte an den sozialstrukturellen Umbrüchen der Gesellschaft liegen. Wir leben heute in einer Bildungsgesellschaft, in der die traditionelle Teilung in Blue-Collar- und White-Collar-Worker keine tragende Rolle mehr spielt. Und deshalb ist auch die traditionelle Trennung von Gewerkschaften hier und Intellektuellen da zu einem guten Teil obsolet. Um auch hier ein konkretes Beispiel zu nennen: Ich habe bereits des öfteren an gemeinsamen Veranstaltungen mit den Mediengewerkschaften, auch mit der deutschen Mediengewerkschaft, teilgenommen. Es hat hier einen sehr regen Gedanken- und Erfahrungsaustausch gegeben, und das waren sehr wichtige Schaltstellen zwischen Intellektuellen und Gewerkschaften.
Was man ebenfalls aufheben müsste, ist die fatale Differenz, die man macht zwischen der ausländischen Bevölkerung, denen, die man Fremdarbeiter nannte und manchmal noch nennt, und der einheimischen Bevölkerung. Es wäre ein ganz wichtiger Beitrag zur sozialen Bewegung in Europa, wenn man die Zugewanderten in die sozialen Bewegungen integrieren oder ihnen eigene soziale Bewegungen geben könnte. Und das ist vielleicht auch einer der Gründe, weshalb die sozialen Bewegungen in den USA so schwach sind. Dort war und ist die farbige Bevölkerung ausgeschlossen, und dadurch ging ein wichtiges Potential verloren. Es würde sicherlich ein wichtiger Beitrag zur sozialen Bewegung in Europa sein, wenn man die falsche Konfliktlinie von Auswärtigen, Ausländern dort und einheimischer Bevölkerung hier aufheben oder zumindest mildern könnte.

Eine »modernisierte« Sozialdemokratie in Großbritannien und auch in Deutschland ist primär am Ziel der Geldwertstabilität und der Haushaltskonsolidierung orientiert. Der Abbau wertvoller sozialer Errungenschaften wird dabei in Kauf genommen. Die regierenden Sozialdemokraten zerstören damit den inneren Kern der sozialistischen Idee: den Anspruch, durch kollektives Handeln die Grundlagen des von der Herrschaft der Ökonomie bedrohten sozialen Zusammenhalts zu bewahren. Zeichnet sich damit ein grundlegender Bruch in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung ab? Was bedeutet das für die Perspektiven einer an emanzipatorischen Zielen festhaltenden Politik? Und wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Politik der Regierung der pluralen Linken unter Lionel Jospin?

Ja, es hat wirklich einen sehr grundlegenden Bruch in der sozialdemokratischen Tradition gegeben. Aber ich möchte ausdrücklich davon warnen, Frankreich in dieser Hinsicht als einen Ausnahmefall zu betrachten und von den französischen Sozialisten zu viel zu erwarten. Die französischen Sozialisten sind einfach heuchlerischer als die anderen. Es gelingt ihnen viel besser zu verstecken, was es an Brüchen in ihrer Tradition gibt. Das hat etwas von einem Betrug. Die sozialistische Rhetorik funktioniert nach wie vor sehr geschickt. In Wirklichkeit ist jedoch auch Jospin ganz auf der Linie von Tony Blair und Gerhard Schröder. Nach glaubwürdigen Berichten aus dem engsten Kreis der Sozialisten, ich zitiere Moscovici, den Minister für Europa-Fragen, wäre auch Lionel Jospin durchaus bereit gewesen, das Blair-Schröder-Papier zu unterschreiben und sich in den erlauchten Kreis einzubringen. Darin besteht aus meiner Sicht gerade das Heuchlerische, dass man nicht Farbe bekennt.
Der Grund, warum Jospin nicht unterschrieben hat, liegt in der Stärke der sozialen Bewegungen in Frankreich, die es den regierenden Sozialisten nicht möglich macht, die Blairsche Modernisierung in gleicher Weise mitzutragen. Sie machen ein Doppelspiel: Die Rhetorik bleibt, aber im Geiste ist die Sozialdemokratie Frankreichs auf der Seite der Modernisierer. Faktisch hat die Jospin-Regierung mehr Modernisierungen im Blairschen Sinne gemacht als die konservativen Regierungen Frankreichs vorher. Insofern gibt es sehr viel stärkere Parallelen zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland, als gemeinhin unterstellt wird.
Und insofern gilt generell: Die sozialen Bewegungen in Europa müssen den Konzepten der sich modernisierenden Sozialdemokratie entgegengehalten werden. Es müssen neue Formen der Auseinandersetzung und des Kampfes entwickelt werden. Auch hierzu ein aktuelles Beispiel: Das tragische Zugunglück bei der britischen Eisenbahn macht deutlich, dass die britischen Eisenbahner sich auf das französische Beispiel beziehen und sagen können: Guckt, so schlecht ist die staatliche Regulierung dieses Sektors ja gar nicht; die Züge fahren pünktlich, Unfälle dieser Tragweite gibt es nicht, und insofern wäre dies ein Ansatzpunkt für ein Umdenken.
Vielleicht besteht die Chance in Europa darin, dass die verschiedenen Länder mit ihren unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen für die anderen zum Beispiel werden könnten. Man kann sich die Errungenschaften in den Nachbarländern zur Waffe machen und sagen, wenn es in Frankreich z.B. die Rente schon mit 55 gibt, warum verweigert man sie dann den Deutschen mit 60? Warum sollten sich umgekehrt die französischen Arbeitnehmer nicht die positiven Aspekte deutscher oder griechischer sozialstaatlicher Errungenschaften heraussuchen und als Beispiel vornehmen, anstatt sich immer an den schlechtesten Beispielen zu orientieren und zu sagen, Lohnerhöhungen kommen bei uns nicht Frage, weil Arbeiter woanders noch weniger verdienen. Man muss den Spieß umdrehen und argumentieren, es sind immer die höchsten und am weitesten entwickelten sozialen Errungenschaften, die als Orientierung herangezogen werden müssen. Wir brauchen ein soziales Benchmarking anstelle eines sozialen Dumpings, und wir müssen die höchste Messlatte anlegen, wenn wir wirklich ein soziales Europa erreichen wollen.

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