Sozialismus: Sie sagen: Man müsse und könne dem Europa der Banken und des
Geldes – flankiert von einem Europa der Polizei, der Strafverfolgung und des
Militärs – ein soziales Europa entgegensetzen. Dazu sei zumindest eine
Begrenzung der schädlichsten Auswirkungen der innereuropäischen Konkurrenz und
des Wettbewerbsdrucks der USA und Japans nötig. Was muss positiv dazukommen, um
das Projekt Soziales Europa im Gegensatz zu der von Ihnen analysierten
Universalisierung des US-Modells zu qualifizieren?
Bourdieu: Es geht zunächst darum, die sozialen Bewegungen in Europa zu stärken,
um eine echte transnationale, gesellschaftliche Kohäsion herzustellen. Die
jetzige europäische Gewerkschaftslobby in Brüssel kann das nicht leisten, es
bedarf einer echten sozialen Bewegung. Es gibt Beispiele dafür, wie eine solche
Bewegung aussehen könnte, auch wenn sie erst rudimentär sind: der Marsch der
Arbeitslosen z.B. und verschiedene Treffen der Gewerkschaften in Europa, aber
nicht auf der Chef-Ebene zwischen den Gewerkschaftsführern, sondern zwischen
Leuten, die mit gemeinsamen politischen und ideologischen Perspektiven an die
Sache herangehen und auch intrinsisch motiviert sind. Wenn man dieses soziale
Europa realisieren will, muss ein großer gemeinsamer Raum für die politische
Diskussion geschaffen werden. Dem stellen sich verschiedene Hindernisse in den
Weg. Dazu gehören zunächst die sprachlichen, die den Austausch zwischen den
Gewerkschaften erschweren. Aber es gibt auch sehr unterschiedliche Traditionen
in den Gewerkschaftsbewegungen – man weiß zu wenig voneinander, und man kennt
sich zu wenig. Die Interessen der einzelnen Gewerkschaften sind natürlich
verbunden mit den einzelnen Nationalstaaten und deshalb auch nicht immer
kompatibel.
Insofern gibt es eine dringende Notwendigkeit, Öffentlichkeit zu schaffen. Man
müsste etwa Zeitungen und Zeitschriften entwickeln, in denen ein solcher
Austausch organisiert werden kann. Auf anderen Ebenen kann er auch mündlich
stattfinden. Ich nenne z.B. den Dialog, den ich selbst mit Günter Grass am 20.
November dieses Jahres führen werde. Das ist eine Form des Austausches, bei der
sich nicht nur Regierungschefs treffen, sondern auch zwischen Intellektuellen
diskutiert und dann in beiden nationalen Kontexten gleichzeitig über die
gleichen Fragen gesprochen wird. Dasselbe war der Fall bei der
Auseinandersetzung mit Tietmeyer, wo in Frankreich und in Deutschland nicht nur
über die jeweiligen Bankenstrukturen im eigenen Land, sondern auch über das,
was in dem anderen Land stattfand, gesprochen wurde. Das läuft darauf hinaus,
den transnationalen Austausch aller Art zu stärken. Dafür bedarf es auch neuer
Strukturen, was Gewerkschaften und Parteien angeht. Und es muss zu einer Veränderung
der Mentalitäten kommen, die immer noch zu stark in den nationalen Kontexten
befangen sind.
Wir brauchen nicht zuletzt in Brüssel auch Pressure-Groups von Intellektuellen
und Gewerkschaften, wenn möglich sogar gemeinsame. Gegebenenfalls wäre es
sogar sinnvoll, eine Schule für europäische Kader zu gründen, damit diese
Eliten im europäischen Kontext auch mit den gleichen Grundlagen ins politische
Geschäft gehen und wissen, worüber sie reden, wenn sie sich miteinander
austauschen, also die gleiche Sprache sprechen. Was das politische Programm
angeht, so ist es nötig, die föderalen Strukturen und das Parlament zu stärken,
um dem Europa der Technokraten eine demokratische Alternative entgegenzusetzen.
Das alles ist ausgesprochen schwierig zu realisieren. Dabei spielen die
Journalisten eine zentrale Rolle. Man müsste sie integrieren und zum Komplizen
dieser Aktion machen und bestimmte nahestehende Journalisten zu solchen Anlässen
wie hier mit hinzubitten. Journalisten haben eine unwahrscheinliche Macht, sie können
etwas schon im Keim ersticken, sie filtern und selektieren Informationen, und
sie gestalten Themen nach ihrem Geschmack und ihrer Meinung stark um. An dieser
Macht kommt man nicht vorbei. Es ist zwar schwierig, sie systematisch in diese
soziale Bewegung mit zu integrieren. Aber ich verweise in diesem Zusammenhang
auf die gemeinsame Veranstaltung, die wir 1997 mit der deutschen
Mediengewerkschaft in Frankfurt hatten.
Es ist schon schwierig genug, die Rahmenbedingungen für einen europäischen
Dialog erst einmal zu schaffen. Noch schwieriger wird es, sich darüber zu verständigen,
was eigentlich die Inhalte, oder sagen wir besser: die Werte eines solchen
Sozialen Europas sein könnten. Was wären die drei, vier Diskussionspunkte, über
die man sich zunächst verständigen müsste?
In der europäischen Tradition der Arbeiterbewegung selbst findet man solche
Schlüsselwerte, die es wieder aufleben zu lassen gilt, weil sie verschüttet
wurden. Es hat einmal einen starken europäischen Internationalismus der
Gewerkschaften gegeben, und noch in den 30er Jahren gab es einen intensiven
Austausch zwischen den verschiedenen Initiativen in Europa. Man verkehrte
zwischen Paris, London und Berlin, ohne dass dabei nationale Schranken
Kommunikationsprobleme bereiteten. Der Bereich der économie sociale, der
Gemeinwirtschaft, des Gemeinwesens, und die verschiedenen Formen der
Arbeiterkooperativen in der europäischen Tradition sind etwas in Vergessenheit
geraten oder wurden auch verdrängt. Man könnte – und das Phänomen Blair
zeigt das auch sehr deutlich – fast von Scham und Peinlichkeit im Umgang mit
diesen Werten sprechen. Man benutzt diese Begriffe nicht mehr, weil sie
vielleicht unmodern erscheinen und aus dem politischen Vokabular gestrichen
wurden. Aber sie sind immer noch lebendig – das hat sich in der französischen
Streikbewegung des Jahres 1995 sehr gut gezeigt, wo es aus den verschiedensten Ländern
Solidarbekundungen von Menschen gab, die sich ganz spontan mit diesen neuen
Bewegungen identifizierten. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ein Arbeiter
aus Großbritannien kam auf eigene Kosten nach Paris, um seine Solidarität
unter Beweis zu stellen. Dieses Beispiel lässt hoffen, dass diese Werte, die
unterschwellig noch fortexistieren, wieder lebendig gemacht werden können. Man
müsste die sozialen Erfindungen, die es in Europa gab, wie etwa die
Kooperativen, modernisieren, also ihre Gestalt aufgreifen, ihnen aber ein neues
Gewand geben. Man würde in diesem europäischen Erbe die wichtigen Ansatzpunkte
finden, die man heute braucht, um der Logik des Marktes etwas entgegenzustellen.
Ein Teil des Problems im Umgang mit dem europäischen Erbe der
Gewerkschaftstraditionen des 19. Jahrhunderts (Arbeiterkooperativen etc.)
besteht darin, dass diese im sowjetischen Systems verunstaltet und missbraucht,
und damit auch negativ belastet und entwertet wurden. Der Neoliberalismus hat in
seiner Rezeption des sowjetischen Systems nun gerade eine Denunziation dieser
Formen der Gewerkschaftsbewegung vom Zaun gebrochen. Ich möchte in diesem
Zusammenhang noch einmal auf Marcel Mauss verweisen, der schon in den 30er
Jahren die sowjetischen Erfahrungen sehr kritisch angegangen ist, wobei er
selber diese Gewerkschaftstradition im französischen Republikanismus sehr stark
für Frankreich unterstützte. Es wird ein Problem sein, diese Ansätze zu
rehabilitieren und von dieser Erblast zu befreien.
Wie kann man nun diese traditionellen Sozialbewegungen neu beleben? Man müsste
eine Erhebung machen, ein Repertoire der sozialen Erfindungen erstellen, die es
im Europa der Nachkriegszeit gegeben hat, um vor Augen zu führen, was es in der
sozialen Ökonomie alles an Gütern gibt, mit denen man auch wieder neu
wirtschaften könnte. Und es geht darum, die Techniken und politischen
Praktiken, die in diesen sozialen Bewegungen gelebt wurden, überhaupt einmal zu
erheben, aufzulisten. Ich meine z.B. Kinderkrippen, die in der sozialen Ökonomie
eine zentrale Rolle spielten, und Erfindungen, wie z.B. Obdachlosenheime. Man müsste
hierzu eine Übersicht schaffen, eine Art soziales Museum.
Um noch ein konkretes Beispiel aus der aktuellen Diskussion um die
Pensionskassen zu nehmen: In Frankreich greift man dabei immer wieder auf das
amerikanische Modell zurück und sagt, dort gebe es das ja. Man vergisst dabei,
dass in dieser Hinsicht auch eine gute europäische Tradition existiert, und
dass die Genossenschaftsbewegung im 19. Jahrhundert das alles schon kannte. Also
braucht man nicht auf Amerika als Modell zu rekurrieren, sondern kann das europäische
Traditionsgut aufleben lassen.
In einem solchen mutualistischen Verständnis würde natürlich die ökonomische
Komponente sehr stark sein, es gäbe einfach Kapital, das dann von der Bewegung
verwaltet werden könnte, und man könnte den ökonomischen Kräften des Marktes
ein Sozialkapital, ein sozialpolitisches Kapital, ein Gemeinschaftskapital
entgegenstellen, und dadurch entstünde dann auch eine ökonomische Macht. Man
spricht aktuell viel über die Tobin-Steuer, was eine sehr gute Sache ist. Aber
es wäre genauso effizient und interessant, sich zu fragen, ob nicht über ein
solches genossenschaftlich oder gewerkschaftlich verwaltetes Kapital eine noch
effizientere ökonomische Macht herauszubilden wäre.
Wer sind die zentralen Akteure der neuen sozialen Bewegungen? Es mag erstaunen,
wenn wir von Erziehern, von Pädagogen sprechen, von Journalisten und
Intellektuellen. Das ist auch insofern überraschend für die Vertreter der
traditionellen Gewerkschaftsbewegung, als man die Intellektuellen immer nur als
Anhängsel dieser Bewegung und als Hilfestellende sah. Die Geistesarbeiter –
auch ein deutscher Begriff – treten aus dem Schatten dieser Bewegung heraus
und spielen jetzt eine aktivere Rolle. Das könnte an den sozialstrukturellen
Umbrüchen der Gesellschaft liegen. Wir leben heute in einer
Bildungsgesellschaft, in der die traditionelle Teilung in Blue-Collar- und
White-Collar-Worker keine tragende Rolle mehr spielt. Und deshalb ist auch die
traditionelle Trennung von Gewerkschaften hier und Intellektuellen da zu einem
guten Teil obsolet. Um auch hier ein konkretes Beispiel zu nennen: Ich habe
bereits des öfteren an gemeinsamen Veranstaltungen mit den
Mediengewerkschaften, auch mit der deutschen Mediengewerkschaft, teilgenommen.
Es hat hier einen sehr regen Gedanken- und Erfahrungsaustausch gegeben, und das
waren sehr wichtige Schaltstellen zwischen Intellektuellen und Gewerkschaften.
Was man ebenfalls aufheben müsste, ist die fatale Differenz, die man macht
zwischen der ausländischen Bevölkerung, denen, die man Fremdarbeiter nannte
und manchmal noch nennt, und der einheimischen Bevölkerung. Es wäre ein ganz
wichtiger Beitrag zur sozialen Bewegung in Europa, wenn man die Zugewanderten in
die sozialen Bewegungen integrieren oder ihnen eigene soziale Bewegungen geben könnte.
Und das ist vielleicht auch einer der Gründe, weshalb die sozialen Bewegungen
in den USA so schwach sind. Dort war und ist die farbige Bevölkerung
ausgeschlossen, und dadurch ging ein wichtiges Potential verloren. Es würde
sicherlich ein wichtiger Beitrag zur sozialen Bewegung in Europa sein, wenn man
die falsche Konfliktlinie von Auswärtigen, Ausländern dort und einheimischer
Bevölkerung hier aufheben oder zumindest mildern könnte.
Eine »modernisierte« Sozialdemokratie in Großbritannien und auch in
Deutschland ist primär am Ziel der Geldwertstabilität und der
Haushaltskonsolidierung orientiert. Der Abbau wertvoller sozialer
Errungenschaften wird dabei in Kauf genommen. Die regierenden Sozialdemokraten
zerstören damit den inneren Kern der sozialistischen Idee: den Anspruch, durch
kollektives Handeln die Grundlagen des von der Herrschaft der Ökonomie
bedrohten sozialen Zusammenhalts zu bewahren. Zeichnet sich damit ein
grundlegender Bruch in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung ab? Was
bedeutet das für die Perspektiven einer an emanzipatorischen Zielen
festhaltenden Politik? Und wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Politik
der Regierung der pluralen Linken unter Lionel Jospin?
Ja, es hat wirklich einen sehr grundlegenden Bruch in der sozialdemokratischen
Tradition gegeben. Aber ich möchte ausdrücklich davon warnen, Frankreich in
dieser Hinsicht als einen Ausnahmefall zu betrachten und von den französischen
Sozialisten zu viel zu erwarten. Die französischen Sozialisten sind einfach
heuchlerischer als die anderen. Es gelingt ihnen viel besser zu verstecken, was
es an Brüchen in ihrer Tradition gibt. Das hat etwas von einem Betrug. Die
sozialistische Rhetorik funktioniert nach wie vor sehr geschickt. In
Wirklichkeit ist jedoch auch Jospin ganz auf der Linie von Tony Blair und
Gerhard Schröder. Nach glaubwürdigen Berichten aus dem engsten Kreis der
Sozialisten, ich zitiere Moscovici, den Minister für Europa-Fragen, wäre auch
Lionel Jospin durchaus bereit gewesen, das Blair-Schröder-Papier zu
unterschreiben und sich in den erlauchten Kreis einzubringen. Darin besteht aus
meiner Sicht gerade das Heuchlerische, dass man nicht Farbe bekennt.
Der Grund, warum Jospin nicht unterschrieben hat, liegt in der Stärke der
sozialen Bewegungen in Frankreich, die es den regierenden Sozialisten nicht möglich
macht, die Blairsche Modernisierung in gleicher Weise mitzutragen. Sie machen
ein Doppelspiel: Die Rhetorik bleibt, aber im Geiste ist die Sozialdemokratie
Frankreichs auf der Seite der Modernisierer. Faktisch hat die Jospin-Regierung
mehr Modernisierungen im Blairschen Sinne gemacht als die konservativen
Regierungen Frankreichs vorher. Insofern gibt es sehr viel stärkere Parallelen
zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland, als gemeinhin unterstellt
wird.
Und insofern gilt generell: Die sozialen Bewegungen in Europa müssen den
Konzepten der sich modernisierenden Sozialdemokratie entgegengehalten werden. Es
müssen neue Formen der Auseinandersetzung und des Kampfes entwickelt werden.
Auch hierzu ein aktuelles Beispiel: Das tragische Zugunglück bei der britischen
Eisenbahn macht deutlich, dass die britischen Eisenbahner sich auf das französische
Beispiel beziehen und sagen können: Guckt, so schlecht ist die staatliche
Regulierung dieses Sektors ja gar nicht; die Züge fahren pünktlich, Unfälle
dieser Tragweite gibt es nicht, und insofern wäre dies ein Ansatzpunkt für ein
Umdenken.
Vielleicht besteht die Chance in Europa darin, dass die verschiedenen Länder
mit ihren unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen für die anderen
zum Beispiel werden könnten. Man kann sich die Errungenschaften in den Nachbarländern
zur Waffe machen und sagen, wenn es in Frankreich z.B. die Rente schon mit 55
gibt, warum verweigert man sie dann den Deutschen mit 60? Warum sollten sich
umgekehrt die französischen Arbeitnehmer nicht die positiven Aspekte deutscher
oder griechischer sozialstaatlicher Errungenschaften heraussuchen und als
Beispiel vornehmen, anstatt sich immer an den schlechtesten Beispielen zu
orientieren und zu sagen, Lohnerhöhungen kommen bei uns nicht Frage, weil
Arbeiter woanders noch weniger verdienen. Man muss den Spieß umdrehen und
argumentieren, es sind immer die höchsten und am weitesten entwickelten
sozialen Errungenschaften, die als Orientierung herangezogen werden müssen. Wir
brauchen ein soziales Benchmarking anstelle eines sozialen Dumpings, und wir müssen
die höchste Messlatte anlegen, wenn wir wirklich ein soziales Europa erreichen
wollen.
|