Quelle: www.woz.ch 

Neoliberalismus
Das beliebteste Feindbild der Neunziger

von Markus B. Meier

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Wenige Begriffe beherrschen den politischen Diskurs so stark wie der Neoliberalismus, und doch existiert für ihn keine eindeutige Definition. Eine kleine Umfrage unter WoZ-MitarbeiterInnen und Spitzenfunktionären der Parteien SP und FDP hat gezeigt, dass niemand definieren konnte, was der Begriff eigentlich meint. Die Antworten zeigen aber, dass eine einheitliche Vorstellung darüber besteht, was Neoliberalismus meint: «die Ideologie des ‘Survival of the fittest’», «eine allumfassende Theorie, die all das hochleben lässt, was zu neuen Ausbeutungsverhältnissen führt», «übelster Kapitalismus mit pseudohumaner Maske», «Abbau von staatlichen Sozialwerken», «sozialer Ellbogenschrott», «der alte Irrglauben, es gehe allen besser, wenn jeder nur für sich schaut», solche und gleichbedeutende Aussagen machten alle Befragten. «Neoliberalismus ist das, was im Albisgüetli gepredigt wird, heute versteht man die Exzesse des Kapitalismus darunter, nur noch das Rezept, zu deregulieren», so definierte der FDP-Generalsekretär Johannes Matyassy Neoliberalismus. Auch für den Zentralsekretär und Pressesprecher der SP Schweiz, Peter Peyer, hat Neoliberalismus mit Liberalismus nichts gemein: «Er ist ein Deckmäntelchen für Sozialabbau.»

Neoliberalismus - ein Revival
Neoliberalismus steht heute für das, was man im letzten Jahrhundert Laisser-faire-Liberalismus oder Manchester-Liberalismus genannt hat. Das bedeutet, der Staat habe sich auf das Minimum zu beschränken (die rechtliche Ordnung aufrechtzuerhalten), während alles andere «freien Märkten» überlassen bleiben müsse. Wenn nur jeder für sich schaue, gehe es allen am besten, diese (verkürzte) Aussage des Moralphilosophen und Begründers der modernen ökonomischen Wissenschaft Adam Smith wurde zum Glaubensbekenntnis der politischen und ökonomischen Elite im Bürgertum des letzten Jahrhunderts. Diese Theorie des Laisser-faire geriet am Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in eine tief greifende Krise, von der sie sich bis in die siebziger Jahre nicht mehr erholen konnte. Der Krise lag einerseits das offensichtliche Versagen der Theorie zugrunde: Das Massenelend der arbeitenden Bevölkerung widerlegte augenfällig die These, dass ein sozialpolitisch weitgehend absenter Staat letztlich allen nütze. Ihren Beitrag zu dieser Krise lieferten aber auch die ökonomischen Analysen von Marx und Engels und später von Keynes, die - mit unterschiedlicher Analyse - überzeugend die Schwächen der alten ökonomischen Sichtweise aufzeigten. Die aufkommende ArbeiterInnenbewegung und die Russische Revolution führten ebenfalls dazu, dass sich auch im Bürgertum breite Kreise für staatliche Massnahmen für einen verbesserten sozialen Schutz der ArbeiterInnen, der Kinder, der Kranken und der Alten einzusetzen begannen. Man war auch nicht länger bereit, wirtschaftlichen Krisen im Glauben an selbstregulierende «Marktkräfte» tatenlos zuzusehen.
In der Zeit der grössten Krise der Laisser-faire-Ideologie wurde 1939 an einem Kongress in Genf die «neoliberale Lehre» begründet. Ihre wesentlichen Vertreter waren die Ökonomen Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Franz Böhm und Friedrich August von Hayek. Das wichtigste Anliegen dieses Neoliberalismus war, der Idee einer möglichst vollkommenen Konkurrenz zu neuem Ansehen zu verhelfen. Dies konnte nur gelingen, wenn sich ihr Liberalismus scharf vom alten Laisser-faire-Denken abgrenzte. Daher das Präfix «neo». Der entscheidende Unterschied zum alten Wirtschaftsliberalismus bezog sich auf die Rolle des Staates: Die Neoliberalen befürworteten einen starken Staat, denn, so argumentierten sie, nur ein solcher könne eine Wettbewerbsordnung, das heisst eine freie Marktwirtschaft, aufrechterhalten. Die grösste Gefahr sahen sie nicht in der Arbeiterbewegung, sondern in der Macht grosser Unternehmer. Ein «dritter Weg» zwischen Sozialismus beziehungsweise Merkantilismus und Marktfundamentalismus wollte der Neoliberalis mus anfänglich sein.

Der bedeutendste Vertreter der frühen Neoliberalen, der deutsche Ökonom Walter Eucken, legte die theoretischen Grundlagen für das, was man schliesslich soziale Marktwirtschaft nannte. Seine Schule hatte auch den Namen «Ordoliberale» oder «Freiburger Schule». In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich die Hauptaussagen dieses frühen Neoliberalismus deutlich vom heutigen. Eucken wollte in erster Linie die Macht grosser Firmen brechen, in monopolistischen Tendenzen sah er den Hauptgrund für die Not der ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert. Eine funktionierende Marktwirtschaft und eine echte liberale Ordnung benötigen nach Meinung der Ordoliberalen aber neben einem starken Staat auch ein soziales Netz, das allen ein würdiges Leben ermöglicht, und Massnahmen zum Schutz der ArbeiterInnen. Dazu schreibt Eucken: «Vorsorge für Sicherheit und ausgleichende Gerechtigkeit ist nicht dem mehr oder weniger guten Willen der Einzelnen, also praktisch dem Zufall zu überlassen, sondern ist Sache der Ordnungspolitik.»

Der Staat als Feind
Friedrich August von Hayek gehörte anfänglich auch zu dieser Gruppe, allerdings waren ihm soziale Anliegen nie besonders wichtig. Er entwickelte schliesslich eine Argumentation, die das Fundament für das schuf, was heute als Neoliberalismus bezeichnet wird und wieder zu einem reinen Marktfundamentalismus verkommen ist. Der Unterschied zum ursprünglichen Neoliberalismus wird sehr deutlich am Begriff der «sozialen Gerechtigkeit»: Während Eucken noch schrieb, dass das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit «nicht ernst genug» genommen werden könne, begegnete Hayek demselben Begriff voller Abscheu: Ihn zu gebrauchen, sollten sich «verantwortlich denkende Menschen schämen». Er sei «zerstörerisch für das Moralempfinden», weil er auf «schmutzigere Gefühle» ziele, nämlich auf «die Abneigung gegen Leute, denen es besser geht als einem selbst».
Hayeks Neoliberalismus unterschied sich in nichts mehr vom alten Laisser-faire-Dogma, nur verlieh er der Abneigung gegen jeden staatlichen ordnenden Einfluss eine neue intellektuelle Rechtfertigung. Innerhalb der ökonomischen Wissenschaften in die gleiche Richtung wirkte die so genannte Chicago-Schule mit ihrem wichtigsten Vertreter Milton Friedman. Diese TheoretikerInnen versuchten zu beweisen, dass alle Probleme ohne Staat besser gelöst werden könnten oder sogar erst durch den Einfluss des Staates verursacht würden:
  • Ein Monopol sei kein Problem mehr, weil die Gewinne des Monopolisten automatisch die Konkurrenten anspornen würden. Nur staatliche oder staatlich unterstützte Monopole oder Kartelle seien gefährlich.
  • Die Möglichkeit, dass eine zu geringe Nachfrage eine konjunkturelle Krise hervorrufen könnte (die Aussage von Keynes), wurde rundweg bestritten. Jede Krise könne nur das Ergebnis von Strukturschwächen sein, die eine zu starke Regulierung, ein zu grosses wirtschaftliches Gewicht des Staates oder eine vom Staat beeinflusste, zu aktive Zentralbank verschuldet hätten.

Schliesslich sprachen sie dem Staat die Fähigkeit ab, für sozialen Ausgleich zu sorgen. Mit dem Marktfundamentalismus vereinbar sei ohnehin nur ein Einsatz für gleiche Startchancen. Doch auch dagegen argumentierte Hayek: Die dafür nötige Stärkung des Staates sei auf jeden Fall das grössere Übel als die eigentlich wünschbare Chancengleichheit. Ausserdem würde in einer Demokratie der Staat ohnehin nur die Interessen von organisierten Sonderinteressen vertreten.

Der Erfolg dieser Marktfundamentalisten war - was die Rhetorik der Eliten betrifft - in den letzten Jahrzehnten durchschlagend. In der ökonomischen Wissenschaft räumte die Chicago-Schule mit Abstand die meisten
Nobelpreise ab, natürlich gehörten auch Hayek und Friedman zu den Preisträgern. Politisch begleitete diese Ideologie die konservative «Revolution» der achtziger Jahre, mit ihren Aushängeschildern Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Grossbritannien. Bei marktfundamentalistischen Experimenten während der siebziger Jahre im Chile Pinochets zeigte sich neben der theoretischen auch die praktische Demokratiefeindlichkeit dieses Ansatzes besonders deutlich. Mit dem Zusammenbruch des «realexistierenden Sozialismus» glaubten dessen VertreterInnen, einen definitiven Sieg errungen zu haben. Erst durch die Asienkrise ist diese Ideologie etwas ins Wanken geraten.

Keine übermenschlichen Mächte
Der problematischste Erfolg der Marktfundamentalisten besteht darin, den öffentlichen ökonomischen Diskurs trivialisiert zu haben. Begriffe wie «Markt», «Staat», «Deregulierung», «Privatisierung», «Globalisierung» oder «Wachstum» haben in ihrem Repertoire eine eigene Bedeutung, sie gehören zur Rechtfertigungsideologie bestehender Macht- und Unterdrückungsverhältnisse, indem sie quasi religiös aufgeladen werden. Sie erhalten die Bedeutung von übermenschlichen Mächten, denen das Individuum hoffnungslos ausgeliefert ist (zum Beispiel «Der Markt diktiert …», «Angesichts der Globalisierung ist staatliches Handeln unmöglich» usw.). In den Begriffen selbst ist das aber nicht angelegt, sie sind ohne konkreten Zusammenhang inhaltsleer. Wer sie auf dieser allgemeinen und abstrakten Ebene verwendet, akzeptiert diese Sinngebung und lässt sich vom Marktfundamentalismus den Diskussionsrahmen diktieren, das kommt in der Linken noch zu oft vor: Diese Begriffe haben für viele die Bedeutung von weniger materieller Sicherheit, mehr Konsumwahn, Umweltzerstörung, Abstumpfung und vom Ende menschlicher Solidarität. Dieser Schluss ist nur dann logisch, wenn die marktfundamentalistische Aufladung akzeptiert wird.
Das Problematische daran ist, einfach das Gegenteil von dem zu vertreten, wonach die Neoliberalen rufen: Möglichst viel Staat und kein Markt, viel Regulierung, kein Wachstum und keine Globalisierung. Das sind keine falschen, sondern inhaltsleere Forderungen, weil schon die dahinter stehenden neoliberal besetzten Begriffe inhaltsleer sind.
Das Ziel der Linken sollten demokratische, integrationsfähige Gesellschaften sein, die allen - weltweit - gleiche Entwicklungschancen bieten und für soziale Gerechtigkeit genauso sorgen wie für ökologische Nachhaltigkeit. Ob Märkte, Staat, Regulierung, Privatisierung, Globalisierung oder Wachstum dieses Ziel fördern, kann nur beurteilt werden, wenn klar ist, wie Märkte konkret ausgestaltet und reguliert sind, von welcher Staatsorganisation die Rede ist, was genau wie und unter welchen Rahmenbedingungen privatisiert wird, was globalisiert wird und unter welchen Regeln und schliesslich, was mit Wachstum gemessen wird und was nicht.
Die abstrakte Diskussion über mehr oder weniger Markt oder Staat, mehr oder weniger Regulierung bringt nichts, denn sie lenkt davon ab, die zwar komplizierteren, aber letztlich konkreten Mikro- und Makrozusammenhänge auf ihre Verträglichkeit mit dem eigentlichen Ziel zu untersuchen und zu beurteilen. Nur so kann dem Neoliberalismus neuester Prägung wirksam begegnet werden.

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