Quelle: www.jungle-world.com/ 

Lehrerstreik in Berlin
Schulfrei für den Standort

von günter langer
04/00
trdbook.gif (1270 Byte)
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel:
info@trend.partisan.net
  
ODER per Snail:
Anti-Quariat
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

»Böger raus, Zlatko rein!« Diese Parole Berliner SchülerInnen dürfte die Verhältnisse des Berliner, ja des deutschen Bildungswesens insgesamt, letzte Woche am prägnantesten auf den Punkt gebracht haben. Denn die Charaktermaske Klaus Böger, Berlins frisch gebackener SPD-Bildungssenator, steht wie kein anderer für die katastrophale Situation im deutschen Schulwesen, die Big-Brother-Kultfigur Zlatko (»Wer ist Shakespeare?«) für die Produkte, die diese Institution hervorbringt. Während Böger und Co. die Misere schönzureden versuchen und die Situation durch ihre Aktionen nur verschlimmern, sich also eigentlich überflüssig machen, hat Sladdi wenigstens noch Unterhaltungswert.

Manche LehrerInnen wissen zwar nicht, wer Zlatko ist, sie wissen aber, wie berechtigt die Forderung nach der Green Card für gut ausgebildete Fachkräfte ist. Schließlich sind sie selbst kaum noch in der Lage, ihren Schülern die Grundlagen zu vermitteln für die Befriedigung der gesellschaftlichen und produktionstechnischen Anforderungen des Postfordismus, der Cyber World, des virtuellen Kapitalismus. Der ach so beschworene deutsche Standort gerät in die Wissenslücke und die Bögers tun alles, um diese noch zu vergrößern. So gesehen sind sie die echten Verbündeten alternativer Technikfeinde, sie haben die Waffen im Global Theater, im Konkurrenzkampf des Neoliberalismus, längst gestreckt. Sie sind die wahren Antikapitalisten unserer Tage, wenn auch wider Willen.

Die Gewerkschaften verhalten sich dagegen wesentlich systemkonformer. Sie wollen dafür sorgen, dass die Menschen in ihrem Umfeld, also in Deutschland, ökonomisch standhalten, d.h. ihre Position auf dem Weltmarkt behaupten können. Das klingt beim Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin, Ulrich Thöne, so: »Hier stehen die Ausbildungs- und damit die Lebenschancen der jüngeren Generation auf dem Spiel! Hier wird die Zukunft unserer Stadt zusammengestrichen. Die Region Berlin braucht Wachstum und dazu braucht sie junge Menschen mit höheren Qualifikationen«.

Mit dieser Aussage dürfte die Mehrheit der BildungsarbeiterInnen einverstanden sein. Diese Erkenntnis allein würde sie aber sicherlich nicht zum Streik animieren. Eine eigene, direkte, sprich materielle Betroffenheit muss hinzutreten, das Diktat einer Arbeitszeitverlängerung, im derzeitigen Fall also Bögers »45 Minuten - was ist das schon«, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Ein - fast repräsentatives - Beispiel: Klaus, Lehrer an einem Oberstufenzentrum, war 1992 53 Jahre alt und musste 19 Unterrichtsstunden pro Woche erteilen. Sein heute 53jähriger Kollege Heinz muss im Jahre 2000 24 Stunden unterrichten. Da fünf Schulstunden offiziell als acht Arbeitsstunden (Konferenzen, Vor- und Nachbereitung, sowie Ferien usw. werden dabei berücksichtigt) gelten, arbeitet Heinz im neuen Millennium praktisch einen ganzen Tag wöchentlich mehr als sein Kollege Klaus zehn Jahre vorher. Für einen gleichaltrigen Fachbereichsleiter an der Oberstufe einer Gesamtschule hat sich die Situation sogar um acht Unterrichtsstunden (13,5 Arbeitsstunden) verschlechtert.

Wenn die Pädagogen nun streiken und demonstrieren, haben sie natürlich Recht - verwunderlich ist höchstens der Langmut, mit dem sie ihren Protest gegen das Ansinnen der globalisierenden Systembewahrer, die eigene Lebensqualität langfristig auf indisches Niveau zu bringen, bislang aufsparten. Die Ironie der Auseinandersetzung: Beide Kontrahenten befinden sich gleichzeitig auf beiden Seiten der überkommenen Barrikade des vergessen geglaubten Klassenkampfes. Genau wie Zlatko: Er ist draußen, aber dennoch im Herzen seiner Fans.