http://www.ainfos.ca/de/ainfos01222.html
   
Castor im Rückspiegel - ein Tagebuch

von AnnetteSchlemm
04/01
trdbook.gif (1270 Byte)
 
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel:
info@trend.partisan.net
ODER per Snail:
trend c/o Anti-Quariat
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

Castor-Alarm 2001 

Es war lange fällig: Ich kann nicht mehr nur zusehen, wenn sich Menschen akuten Gefahren entgegenstellen und mit Wasserwerfern weggesprüht werden  und wenn geprügelt wird gegen Castor-Blockierer, die gewaltfrei im  rechtlichen Sinne lediglich eine Ordnungswidrigkeit begehen. "Wir stellen  uns qür!!!" heisst es nach 4 Jahren wieder im Wendland. Dort soll der  Atommüll gelagert werden, der nicht nur vom Atomstrom aus den Steckdosen  der Wendländer kommt. Auch wir sind Atomstromland... Deshalb hatte ich  mir vorgenommen, beim jetzt geplanten Castor-Transport dabei zu sein, mich  auch qürzustellen. Ich hatte zwar grundsätzlich einige Vorstellungen, an  welchen Aktionen ich mich beteiligen wollte (gewaltfrei, friedlich, aber  konsequent) - und es ergab sich, dass ich ein sehr grosses Spektrum an  Widerstand im Wendland mit erleben und gestalten konnte. Deshalb möchte  ich diese Vielfalt dokumentieren. Ich möchte mich damit bei allen  WendländerInnen bedanken, die mir in dieser Woche auf Schritt und Tritt  halfen, mich unterstützten und die uns zeigten, dass wir uns nicht nur  für eine abstrakte Sache einsetzen, sondern dass wir gemeinsam für das  konkrete Überleben kämpfen.

Freitag, 23.März 2001

Heute wird es ernst. Der Castortransport ist für nächste Woche  festgelegt - wir müssen uns auf den Weg machen. Unsere Bezugsgruppe ist  recht klein, nur Kathrin, Katharina und ich haben uns fest zusammen  gefunden und planen einen Beteiligung an den Aktionen von X-1000-mal-qür  - einer prinzipiell gewaltfreien, sich selbst organisierenden Bewegung,  die 1997 durch eine konsequente Sitzblockade in Dannenberg Aufsehen  erregte. Im Unterschied zu 1997 ist von vornherein geplant, die Proteste  auszuweiten (nicht nur auf der Strasse von Dannenberg nach Gorleben,  sondern bereits an der Bahnstrecke von Lüneburg nach Dannenberg) und zu  dezentralisieren (mehrere Camps mit vielfältigen Organisations- und  Aktionsformen sind geplant). Wir drei haben nichts besonderes vor,  allerdings wollen wir den Namen unserer Vorbereitungsgruppe hier in Jena  auf einem Transparent verwenden. Deshalb treffen wir uns heute Abend bei  Kathrin zu Hause und malen noch ein Transpi mit der Aufschrift:

REGENERAKTIV statt RADIOAKTIV

Wir lassen es nicht allzu spät werden, denn morgen soll es zeitig  losgehen.

Auch die Polizei bereitet sich vor: Für die 15 000 Einsatzkräfte werden  1600 Wohncontainer bereitgestellt. Die Beamten beschweren sich über  schimmelnde Wände und schlechte Matratzen. Bereits dies führt zur  Forderung der Polizeigewerkschaft, maximal einen Castortransport pro Jahr  zuzulassen. Wenns ihnen schon so schlecht geht: auch die geplanten Camps  der Protestbewegung werden erst "kritisch beäugt" (Stand 22.3.) und das  Camp in Wendisch Evern sowie weitere wurden vom Landkreis Lüneburg  bereits "wegen unkalkulierbarer Gefährdungslage" verboten. Daraufhin  besetzen SchülerInnen Sporthallen in Dannenberg und Kirchen öffnen sich.  Ansässigen Antragstellern für Passierscheine, wie Ärzten, wird bereits  jetzt angekündigt, dass am Tag des Transports auch für sie kein  Bahnübergang passierbar sein wird. Noch fand nicht einmal die erste  öffentliche Demonstration statt - da werden bereits Grundrechte der  Bürger massiv eingeschränkt. Schultaschen (bzw. Plastebeutel) von  Kindern werden von der Polizei kontrolliert. Nicht einmal bei den  Konfliktmanagern der Polizei kann eine Anwohnerin erfahren, wo sie nun  friedlich demonstrieren darf und wo nicht. Der Verfassungsschutz  beobachtete die Anti-Atom-Initiativen (ist Atomenergie Verfassungsgut??)  und erwartet 10.000 bis 15.000 AtomkraftgegnerInnen. Die wirkliche Gefahr wird unterschätzt: Es gibt nicht einmal - wie in einer EU-Richtlinie gefordert - einen Sonderplan für eventülle Castor- Unfälle. Übrigens: 90% der Polizisten sollen gegen Castoren sein! Aber  Dienstpflicht ist Dienstpflicht... (P.S. wenn das ihre KollegInnen im  Osten auch so gesehen hätten, würde die Maür heute noch stehen!)

Samstag, 24.März 2001

Dies war die erste Nacht mit wenig Schlaf. Bereits um 5 Uhr holt uns  Reiner mit dem Auto ab. Er will sich an der Demonstration in Lüneburg  beteiligen und kann uns deshalb hinfahren und will uns dann auch zum Camp  nach Wendisch Evern bringen. Die Stimmung ist gut, ein Schläfchen, ein  Schwätzchen und nach ca. 5 Stunden sind wir in Lüneburg. Pünktlich zum  Treffpunktder Demonstration - auf dem Parkplatz des Uni-Campus. So langsam  füllt er sich, alle lachen sich an, den kalten Wind spüre ich kaum noch.  Einradfahrer, ein Gerippe mit Polizeiausrüstung und viele andere lustige  Ideen machen Stimmung. Nach einer Stunde beginnt der Sternmarsch zum  Clamartplatz, auf dem die Auftaktkundgebung der Widerstandswoche gegen den  Castor stattfindet. Wir kommen mit Müh und Not noch auf dem Platz, auf  dem sich inzwischen 10.000 oder 17.000 Menschen befinden. Songs von den  "Toten Hosen", eine rote Fahne vom martialischen Reiterstandbild, unser  Transpi irgendwo dazwischen. Ich treffe Herrmann mit dem Bücherstand,  jemand erkennt einen Bekannten aus Göttingen. Wir stehen eine Weile beim  Stand der unverdrossenen MLPD, bevor wir uns weiter umschaün. Sogar für  einen Kaffee in der Innenstadt von Lüneburg reicht die Zeit dann noch.  Die erste Rednerin der Kundgebung drückt tüchtig auf die Tränendrüse   - 15 Jahre sind seit Tschernobyl vergangen, in denen auch ich kapiert  habe, dass es keine "friedliche Kernenergie" geben kann. Das Wetter ist  ziemlich kühl-windig. Wir bleiben in Bewegung und spüren, dass die  Tausenden hier keine radikalisierten reisenden Überall-Demonstrierer  sind, wir finden uns mitten in der hiesigen Bevölkerung wieder.In guter  Stimmung laufen wir zurück zum Parkplatz. Im Abgehen hören wir noch  einen Lautsprecher mit der Information, dass die Camps nicht gestattet  sind, dass aber eine (genehmigte) Dauerdemonstration mit "Sleep In"  vorgesehen sei. Immer noch gut gelaunt setzen wir uns ins Auto und fahren  los in Richtung des in Wendisch Evern geplanten Camps. Dort finden wir nur  einige Fahrzeuge in einer Parkbucht und erfahren, dass wir tatsächlich  kein Zelt aufbauendürfen, sondern uns höchstens auf und unter Planen  hinsetzen können. Das ist ja nun wohl keine Lösung für die nächsten  Nächte. Wir werden auf die weiteren Camps an der Strecke zwischen  Lüneburgin Richtung Dannenberg verwiesen. Vielleicht können wir ja  woanders campen. Gut, dass uns Reiner mit dem Auto noch herumfahren kann,  bevor er wieder nach Jena zurück muss. Mich erwischt noch ein Reporter  von einer "Hannoverschen" und bekommt zu hören, dass ich es unverschämt  finde, friedlich und gewaltfrei protestieren Wollende so zu  schikanieren...

Am nächsten Infopunkt, in Dahlenburg, werden wir zum nächsten Camp bei  Köhlingen gelotst. Wir finden es auch - hier stehen schon einige  grössere Zelte für die Hamburger und Bremer, aus der Küche dampft es.  Allerdings ist dieses Camp sehr weit von der Strecke entfernt, es ist  unklar, ob es nicht auch noch verboten wird und wir haben keine Lust,  unser Zelt hier mit aufzubauen. In den nächstliegenden Häusern könnten  wir in einem alten Stall campieren. Der erste "Bevölkerungskontakt" hier  zeigt uns die Aufnahmebereitschaft der Wendländer. Der Bauer hat zwar  Bedenken wegen der Maul- und Klauenseuche, aber Jena liegt weit genug weg  von der Gefahrenzone. Trotzdem gibt er uns weitere Adressen und  Telefonnummern aus der Gegend. Wir entscheiden uns, erst einmal noch  weiter zu fahren. Überall das Gleiche: Camps verboten, aber die Aussage,  die Kirchen würden sich den "Atomasylanten" öffnen. Inzwischen haben wir  uns weit von Lüneburg entfernt und Dannenberg liegt nicht mehr weit. Also  liegt es nahe, gleich bis Dannenberg durchzufahren. Der erste scheinbare  Infopunkt der Widerständler erweist sich aus der Nähe als Infopunkt der  Polizei, wo wir dann doch nicht nach Unterkunft nachfragen. Die  Kirchentür ist noch geschlossen, die des Gemeindehauses steht weit offen  - es ist jedoch noch gähnend leer. Also ziehen wir weiter und landen  schliesslich auf der Infowiese, beim bunten Zirkuszelt - gegenüber der  Esso-Tankstelle, die sich als zentraler Anlaufpunkt erweist. Natürlich  gehen wir gleich erstmal zur "Schlafbörse", erfahren, dass eine besetzte  Turnhalle einlädt, es aber auch genügend Privatunterkünfte gibt. Wir  bekommen gleich eine Adresse in die Hand gedrückt, die uns 3 bis 5 Betten  verspricht. Dannenberg liegt auf jeden Fall günstig für alle Anti-Castor- Aktivitäten. Deshalb fahren wir los. Im Auto erkennen wir nicht gleich,  dass das Haus ca. 4 km vom Stadtzentrum entfernt ist. Nach kurzer  Beratung, ob wir nicht doch lieber zur Turnhalle wollen, bleiben wir  jedoch hier. Wir werden herzlich eingeladen in ein eigenes Zimmer mit 3  bequemen Matratzen. Warm und trocken. Drei Stunden hat die Obdachlosigkeit  gedaürt - nun sind wir besser versorgt als geplant. Reiner nimmt gleich  mein Zelt nach Jena zurück und wir können uns einstimmen. Wir richten  uns ein, machen uns mit der Gastgeberin und Hund und Katz im Haushalt  bekannt und bekommen einen heissen Tee zum Abschluss des Tages.

Die Konfliktmanager der Polizei tragen einen Button am Hemd der Uniform:  "Wir können auch anders".

Das Symbol der Bäuerlichen Notgemeinschaft (siehe Bild in http://www.thur.de/philo/castor.htm ) antwortet: "Wir können nicht anders!"

Weitere Losungen im Wendland:

"Die Politik versagt, die Menschen handeln!"
"Die Saat geht auf!" (Motto der bäuerlichen Stunkparada mit ca. 400Traktoren)
Der Staat zeigt Härte, die Menschen zeigen Charakter

P.S. Von 150 Konfliktmanagern der Polizei bleiben bis zum 24.3. nur 15  übrig. Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft kündigt an, die  Protestierenden/Blockierenden würden "hart angefasst". (Presse am 24.3.).

Der Verfassungsschutz bescheinigt der Anti-Atom-Bewegung eine "neue  Aufbruchstimmung". Die "Worte der Besinnung" des Seelsorgers in der  örtlichen Zeitung beinhalten: "In der nächsten Woche werde ich vor dem  Spiegel stehen und zu mir sagen: "Was machst du heute?"

Sonntag, 25.März 2001

Was machen wir heute? Wir sind nicht wie geplant in Wendisch-Evern. Aber  wir haben einladende Dannenbergerinnen kennengelernt und das Angebot  bekommen, mit ihnen zur Stunkparade, dem legendären Trecker-Treck der  Bäürlichen Notgemeinschaft, zu kommen. In der Treffpunkt-Wohnung  erfahren wir, dass der Treck erst später losfährt, weil es Probleme  macht, die Menge der eintreffenden Trecker zu koordinieren. Wir wollen  unterwegs auf einen vorbereiteten Wagen des Frauenhauses aufsteigen. Nach  einem kleinen Trommelkurs wandern wir zum übernächsten Dorf, Splietau,  und die Frauen machen trommelnd Stimmung. Es ist lange unklar, wann der  Treck kommt - er fährt viel später als geplant los. Es ist ziemlich  kalt, aber alle harren aus und immer mehr Menschen säumen die Strassen.  Heisser Tee wird herumgereicht. In der Kneipe richten sich die  Journalisten mit ihren Laptops ein. Schliesslich sind es nicht 250, wie  vor 4 Jahren, sondern 400 Trecker, die das Dorf erreichen. "Unser"  buntgeschmückter Frauenwagen ist ziemlich weit vorn. Eine Leiter wird  herausgeschoben und wir steigen auf. Danach können wir uns das schöne  Wendland von oben betrachten. Hunderte "X"e aus Holzbohlen,  Blumenrabatten, Plasteschleifen und in vielen, vielen anderen Formen  kennzeichnen den Widerstand. Während der Fahrt trommeln die Frauenweiter  und werden von der Strasse her begrüsst. Mir ist es eher unangenehm, von  oben herabzuwinken. Aber bald sind all die Leute da unten wie gute  Bekannte, wir gehören zusammen. Der Trecker hinter uns hupt den  Trommelrhythmus mit. Fast triumphal ist der Einzug am Ziel in Hitzacker...  Ersthier können wir die einfallsreich geschmückten anderen Trecker und  ihre Anhänger bewundern. Ein "Atomklo", Fischer als Strohpuppe, viele  Losungen und Aufschriften fallen ins Auge. "Fällt der Baür tot vom  Traktor, ist in der Nähe ein Reaktor", "Wo Recht zu Unrecht wird, wird  Widerstand zur Pflicht!"... 1000 Leute tummeln sich zwischen den Treckern.  Eigentlich ist es eine richtig schöne, sogar genehmigte, Demonstration.  Probleme gibt es erst, als die massiv anwesenden Polizeikräfte eine  Ausfahrtstrasse abriegeln und auch den Rückbring-Shuttlebus massiv  behindern. Wir klettern einfach auf den Hänger eines abfahrenden  Treckers. Da wir aus Sicherheitsgründen sitzen müssen, werden wir von  draussen nicht gesehen und eine weitere Gruppe von Menschen springt auf  den Hänger - und beinahe auf uns. Aber auch sie finden noch Platz.

Der Stunkparade waren massive gerichtliche Entscheidungen über Einschränkungen der Streckenführung vorangegangen. Auch die 50-Meter- Demo-Verbotszone (ab 3 Personen ist man eine "spontane Demonstration"!)  entlang der Transportstrecke wird vom Verwaltungsgericht wegen der  Befürchtung "einer Eskalation von Gewalttaten"...wegen der aufgeheizten  Stimmung" bestätigt. Ohne Rechtsgrundlage werden Küchenwagen für die  Camps gestoppt. Nur das Gerücht über eine Verfügung über ein  eventülles Campverbot im 5-km-Umkreis (die nie erlassen wird) gilt der  Polizei als Handlungsgrundlage! Sogar eine Fraktionssitzung der  bündnisgrünen Landtagsfraktion in Pisselberg wird verboten - einmalig in  der Geschichte der Bundesrepublik. Die Blockierer machen trotzdem "ihr  Ding". Die ersten 500 sind auf den Gleisen und versuchen den Bahndamm zu  unterhöhlen. Leider gibt s heut noch eine Schlagzeile: Ein Autofahrer aus  der rechten Szene fährt in die DemonstrantInnen und überfährt eine 54- jährige Frau.

Montag, 26.März 2001

Ich finde es total spannend, nicht - wie geplant - nur in Camps und recht  isoliert von der Bevölkerung zu agieren, sondern direkt zu erleben, wie  der Widerstand vor Ort lebt. Auch die DannenbergerInnen lernen uns direkt  kennen und erfahren die Unterstützung von ausserhalb persönlich. Die  Unterstützung besteht hier allerdings nur im "Dabeisein" - deshalb  entschliessen sich Kathrin und Katharina heute, doch noch nach Wendisch-  Evern zu fahren. "Jetzt erst recht" wollen sie das Konzept von X-1000-mal- qür unterstützen. Ich möchte lieber hier bleiben, und X-1000-mal-qür  dann später hier in Dannenberg verstärken, denn es ist zu erwarten, dass  bis dahin nicht mehr alle aus Wendisch-Evern dabei sein werden. Damit ist unsere Bezugsgruppe erst einmal auseinander gefallen. Aber hier  gehören sowieso alle irgendwie züinander. Ich habe gestern auf der  Stunkparade eine Frau kennengelernt, die auch zu Gast bei unserer  Gastgeberin ist und bin heute eine Weile mit ihr zusammen. Ihre  Spezialität ist das Ansprechen der Polizisten an den Sperren - jedoch  kann sie sich nicht in grössere Gefahrenbereiche begeben. Heute sind  Mahnwachen an den Bahnübergängen geplant. In 50 Meter Entfernung dürfen  wir ja stehen - aber heute wollen sich die BürgerInnen Dannenbergs  bewusst qürstellen. Immer wieder gelangen sie auch auf die Bahngleise.  Ich komme mit Ingrid gerade an, als die Polizeiketten die DemonstrantInnen  langsam zurückschieben. Ingrid spricht mit den Polizisten. Ich tü mich  mit Ruth und Timo zusammen und wir zeigen, dass wir mehr wollen, als  harmlos herumstehen. Ruth gelingt es zürst, durch die Polizeikette zu  kommen. Ihr Freund ist zu gross und auffällig und wird hartnäckig  abgeschirmt. Dadurch kann ich jedoch noch durchrutschen und plötzlich  stehe ich zum ersten Mal in meinem Leben auf "verbotenem Bereich". Bis zu  den Gleisen kommen wir nicht mehr. Die Polizeieinheiten werden verstärkt.  Die Wasserwerfer werden ausgerichtet. Wir warten - diesmal - nur die  zweite Aufforderung ab und lassen uns dann mit "einfacher körperlicher  Gewalt" wegschieben. Wir wollens den PolizistInnen nicht zu schwer machen  und es lohnt hier auch nicht, Märtyrer zu spielen... Ingrid ist immer  noch in Gespräche verstrickt. Der Polizist versucht ihr einzureden, er  würde Gewalt (Knüppel) nur einsetzen, wenn aus der Menge heraus Steine  oder Molotowcocktails geschmissen würden - und nicht auch sonst auf  Befehl. Er wünschte sich, die Demonstranten würden die gewaltbereiten  Demoteilnehmer selber festhalten und den Polizisten übergeben. Ich sehe  in der Nähe einen Inlineskater und frage ihn, ob entsprechend der  Zeitungsankündigung tatsächlich eine Inlineskaterdemo von Gorleben nach  Dannenberg stattfinden wird. Ich hatte gestern schon die Tochter unserer  Gastgeberin nach Inlineskatern gefragt und sie hat welche für mich.  Glücklicherweise kann mich Ingrid mit dem Auto die 4 km bis zum Wohnhaus  fahren, um die Skater zu holen. Nach einigen Problemen mit dem Haushund,  der uns nach draussen entwischt, fährt sie mich dann auch noch nach  Gorleben. Dort bin ich wiedermal auf die Hilfe der Einheimischen  angewiesen, um den Treffpunkt der Inliner zu finden. Sie scheinen genau  auf mich gewartet zu haben, denn gerade als ich eintreffe, skaten wir  gemeinsam los. 100 TeilnehmerInnen sollen es gewesen sein. Ich bin noch  nie 20 km am Stück gefahren und gleich gar nicht mit geborgten,  schwerfälligen Plaste-Inlineskatern. Glücklicherweise verläuft unsere  Route elbabwärts - während die uns entgegenfahrende Fahrraddemo etwas  bergauf fahren muss. Der Zeitplan kommt etwas durcheinander. Die  Demorouten führen durch Splietau, wo wir uns an der Sandsackaktion  (Sandsäcke gegen Atomstrahlen) beteiligen wollen. Als wir kommen, ist der  Ort schon weiträumig abgesperrt und wir müssen über einen Umweg nach  Dannenberg weiter fahren. Ohne mein regelmässiges Jogging würde ich  diese Tour unter trainierten Inline-Skatern wohl kaum durchhalten. In  Splietau muss die Polizei Wasserwerfer und Schlagstöcke androhen, bevor  die DemonstrantInnen sich vertreiben lassen. Davon höre ich erst abends,  denn Ingrid und die anderen Bekannten waren dort gewesen. Wir hören auch,  dass in Wendisch Evern die erste Blockade stattfand und Jochen Stay  festgenommen worden ist. Wäre ich besser dort dabei gewesen? Mich  fasziniert gerade die Breite des Widerstands und mir ist schon  aufgefallen, dass auch die DannenbergerInnen sich freün, jemanden aus dem  recht weit entfernten Jena unter sich zu haben. Auch das setzt Zeichen.

BI Lüchow-Dannenberg zur Sandsack-Aktion: "Unser Plan: Im Anschluss an die Kundgebung wollten wir in Richtung Verladekran gehen, um unterwegs einen symbolischen Schutzwall aus vielen  Tausend Sandsäcken aufzuschichten. Diese Säcke sind bedruckt mit Artikel  2, Abs.2. des Grundgesetzes: "Jeder hat das Recht auf Leben und  körperliche Unversehrtheit". Ein symbolischer Wall. Für die Polizei ein  lächerliches Hindernis - ein Nichts. Wenig später beiseite geschoben.  Wie unsere Grundrechte. Diese Aktion wurde uns verboten. Weil das Bild zu stark war und die Rolle der Polizei zu deutlich würde. Grundrechte werden mit Füssen getreten,  Demokratie soll weiträumig ausgesperrt werden."

Dienstag, 27.März 2001

Auf der Infowiese nehmen wir begeistert zur Kenntnis, dass in Wendisch  Evern inzwischen 1500 Leute eingetroffen sind und die Bahnstrecke  blockieren. Der Castor-Zug muss inzwischen Göttingen umfahren, weil hier  500 Menschen an und auf den Schienen unterwegs sind. Gegen Abend bin ich  noch einmal an einem Bahnübergang, als dutzende martialisch- schwarzgekleidete Uniformierte an uns vorbeirasen - auf die Infowiese an  der Esso-Tankstelle zu. Sekunden später entdecke ich ein Transparent mit  einer Aufschrift, an der ich erkenne, dass hier nicht nur Anti-Atom-Leute  zu Gange sind, sondern jene, die weltweit gegen Neoliberalismus und  Globalisierung protestieren. Klar, die werden als gefährlich betrachtet  und noch bevor die erste Bierdose fliegt, waren die Schwarzen in Trab  versetzt worden. Es kommt zu Gerangel, einige werfen sich dazwischen. Von  den Polizeikonfliktmanagern habe ich aber keinen gesehen. Es ist die  Spitze eines Demonstrationszuges, der mit einer Kundgebung auf dem Markt  von Dannenberg begonnen hatte, die jetzt die Esso-Tankstelle erreicht hat.  Eigentlich wird der Castorzug jetzt bald in Dannenberg erwartet. Ich habe  mein Gepäck nicht bei mir, schliesse mich aber gemeinsam mit Ingrid an.  Zwischendurch biegt eine Gruppe Menschen von der Hauptstrasse ab und wird  nach 300 Metern von Wasserwerfern zurückgetrieben. Ingrid und ich geraten  in die rennende Masse. Ich erlebe meinen ersten Wasserwerfereinsatz und  bereü es, meine Regenjacke gerade jetzt nicht dabei zu haben. Deshalb  entgehen mir ein paar wunderschöne Fotos buntbeleuchteter Wasserkaskaden  vor dunklem Himmel. Es geht weiter in Richtung Verladekran, den ich mir  tagsüber schon einmal habe zeigen lassen. Die Stelle, wo vor 4 Jahren die  x-1000-mal-qür-Leute gecampt und blockiert haben, ist hermetisch  abgeriegelt. Es kann ja keiner sagen, die Polizei sei nicht lernfähig.  Das Abriegeln kostet aber Kräfte. Eine Weile versucht die Polizei, diese  durch eine Hundestaffel zu verstärken, muss sie aber nach Protesten  zurückziehen. Also stehen wir den Polizistinnen und Polizisten wieder  direkt gegenüber. Die vorderen Reihen sind ziemlich gesprächsbereit. Von  hinten wird zugehört, Leute ausgewechselt... Den PolizistInnen hat man  gesagt, dass Säureattacken zu erwarten seien. Später erfahren wir, dass  der Anlass dazu war, dass "in der Umgebung von Dannenberg mehr Essigsäure  und Zahnbürsten als sonst verkauft worden wären". Die PolizistInnen  versuchen, die "friedlichen Demonstrierer" gegen die "bösen  Gewaltbereiten" auszuspielen. Letztlich werden in der abgesperrten  Sackgasse 500 m vor dem Verladekran alle zusammen gedrängt. Irgendwann  sind einige auf einer Wiese hinter dem Damm, der die Strasse begrenzt. Auf  dem Damm selbst ist die Aussicht am besten. Auch ich gelange auf die Wiese  hinterm Damm, ein halbfertiges Neubauhaus wird gespenstisch beleuchtet von  Polizeifahrzeugen und bald auch von Leuchtgeschossen. Eigentlich passiert  nichts weiter. Die Leuchtgeschosse aus den Reihen der Demonstranten zielen  in ca. 30 bis 45 Grad in den Himmel, werden 50 m von der Polizeikette  entfernt gestartet und nicht etwa den PolizistInnen ins Gesicht. Weiter  passiert nichts. Aber wir sind zu nahe am Verladekran, wo man niemanden  haben will. Deshalb bekomme ich hier meine erste Wasserwerferdusche.  Glücklicherweise nur eine kleine. Ich muss zugeben, sie haben dreimal  gewarnt, ehe es losging. Ich selbst bin dann bald wieder im genehmigten  Bereich, auf der Strasse hinter dem Damm. Auf dem Damm stehen, wie den  ganzen Tag schon, DemonstrantInnen und ZuschaürInnen. Von der Strasse aus  höre ich nichts mehr von Warnungen. Ich höre nur einen Lautsprecher der  Polizei, der einen Pfarrer aus den Reihen der Demonstranten zur  Polizeilinie bittet, wohl um Konflikte zu besänftigen. 5 Sekunden später  zischt der Wasserwerferstrahl von hinten auf die Dammkrone. Fegt die dort  Stehenden mit Gewalt runter - voll drauf auf die Darunterstehenden. Und  das Wasser sprüht alle auf der Strasse ein -Teilnehmer an einer  genehmigten Demonstration, auf einer noch nicht gesperrten Strasse. Nach  einem Pfarrer fragt dann niemand mehr... Aber einige Leute mehr werden  beim nächsten Mal etwas weniger friedvoll im Herzen sein.

Es geht wohl noch länger weiter hier, aber ich gehe mit der Tochter  meiner Gastgeberin und ihrer Freundin zurück. Noch ein paar Mal Aufregung  - die Kids zieht es immer dahin, wo etwas los ist. Sobald ein Pulk Grüner  irgendwo hin marschiert, marschieren die Kids hinterher. Bis knapp unter  die Wasserwerferlinie. Sie kriegen das gut hin, ohne nass zu werden. Die  Bürgerinitiative hatte zu dieser Kundgebung aufgerufen mit den Worten:  "Niemand muss mutiger sein, als er sich fühlt. Aber jeder muss sich  entscheiden, auf welcher Seite er steht." Ja, wir haben uns entschieden.  Ob Autonomer oder Oma mit ihren EnkelInnen... Danach gehe ich zur Esso-Wiese und warte auf das Eintreffen der x-1000-mal- qür-Leute, die nach der Durchfahrt des Castor-Zuges hier von Dannenberg  aus weitermachen wollen. Sie kommen abends an, durchfroren und erschöpft.  Viele gehen zur Turnhalle, manche rollen sich auf dem Platz zum Schlafen  zusammen. Ich weiss nicht, wo Katharina und Kathrin geblieben sind.  Katharina musste wohl sowieso eher nach Hause zurück, ob Kathrin noch da  ist, weiss ich nicht. Mein Herumfragen bringt nichts. Ich überlege, ob  ich nachts mit hier bleibe. Aber da der Castor-Zug wegen der  spektakulären Aktion der Robin-Wood-Leute einen Tag Verspätung hat,  bringt das nichts. Viele X-1000er wollen nicht lange warten und planen  neü Schienenbesetzungen. Dies wird morgen die Menge jener reduzieren, die  zum nächsten X-1000-Camp aufbrechen.Erst einmal wird es ruhig... Ich stelle mich mit einem Anti-Atom-Aufkleber an die Tankstelle, um zur Unterkunft zu trampen. Eine junge Frau hält, lässt noch zwei junge  Männer einsteigen und weiss dann überhaupt nicht mehr, in welche  Richtung sie eigentlich fahren will/muss. Am nächsten Parkplatz eines  Einkaufszentrums halten wir. Sie ruft ihre Verwandten an, die sie abholen  wollen. Ich bleibe bei ihr, damit sie nicht allein ist. Und prompt stehen  fünf Minuten später Polizisten vor dem Auto, die eine Verkehrskontrolle  durchführen wollen. Er sagt, dass sie jetzt bei allen Menschen "erst  einmal davon ausgehen, dass sie Gewaltbereite sein könnten...". Jetzt  wird mir klar: Das sind nicht mehr nur Schikanen, wie in den Tagen vorher,  sondern die haben wirklich Angst vor jeder Bürgerin und jedem Bürger,  dem sie hier begegnen! Der Verwandte fährt mich dann noch zu meiner  Unterkunft.

Sogar der Polizeidirektor weiss, dass Leute mit Demo-Erfahrung wissen,  dass mit "Latschdemos" nichts zu erreichen ist. Deswegen sind andere  Aktionen nötig: Greenpeace-Aktivisten besetzen heute vormittag eine  Brücke. Abends kommt der Castor-Zug ins Stocken: Bei Bavendorf muss der  erste Festgekettete herausgeschnitten werden und Robin-Wood-Leute haben  sich bei Suschendorf einbetoniert. Diese Aktion ist es, die den Castor  fast einen Tag aufhält!!! Er muss sogar 3 km zurück zum nächsten  Bahnhof (Dahlenburg) fahren. In der Presse erhalten "Chaoten", "Mob" und "Autonome" grosse Beachtung.

Mittwoch, 28. März 2001

Wir erfahren, dass eine der Robin-Wood-Heldinnen - die 16 jährige Marie -  eine Schulkameradin von mehreren Bekannten hier ist. Der Titel in der Bild- Zeitung: "Das dumme Castor-Mädchen" stösst auf Empörung - an der  Tankstelle muss die Bild-Zeitung hinter dem Tresen versteckt werden. Es wird Zeit, dass ich mich auch an einer konseqünteren Aktion beteilige. Es war ja von vornherein geplant, dass die x-1000-mal-qür-Aktionen jetzt  von hier aus weiter gehen. Ich stehe vor dem Problem, Anschluss an eine  Bezugsgruppe zu finden. Die Esso-Wiese bietet heute ein anderes Bild als  an den anderen Tagen. Nicht mehr nur lose Grüppchen, sondern feste Runden  sitzen um die Feürchen. Ich suche Kathrin oder Katharina, finde sie aber  nicht. Am X-1000-Mobil gibt es die Möglichkeit, Bezugsgruppen zu bilden  oder zu finden. Ich entdecke vorher aber schon Ruth und Timo und schliesse  mich ihrer Gruppe an. Es scheint eh ziemlich durcheinander zugehen, viele  TeilnehmerInnen der vorigen Tage müssen nach Hause, viele beteiligen sich  auch an anderen Aktionen hier vor Ort. Ich komme genau richtig, als  bekannt wird, dass wir uns jetzt aufmachen zu weiteren Treffpunkten. Die  Autobesatzungen werden eingeteilt und wir haben gerade noch Zeit, kurz  etwas zu essen. Deshalb können wir uns nur zwei Lieder von Klaus dem  Geiger anhören. Das ist die richtige Verabschiedung! Die gute Stimmung  hält auch noch eine Weile an, als bei der Autofahrt wieder klar wird,  dass die Polizei partout kaum jemanden dahinfahren lassen will, wo er hin  will. Weder Fremde noch Einheimische. Meine Berliner Mitfahrerinnen sind  jedoch clever. Wir gelangen problemlos zum ersten Infopunkt und bekommen  hier mitgeteilt, wohin es weiter geht. Wir sind zeitig genug, um auch dann  noch über recht passable Wege dort anzukommen. Kurz danach wird der Ort  des geplanten Camps, Laase, auch offiziell bekannt gegeben (die  Polizeihubschrauber sehen die Bewegungen dahin eh) und ab dieser Zeit wird  die Gegend weiträumig abgesperrt. Inzwischen ist auch klar, dass kein  Camp genehmigt wird. Während wenigstens eine ständige Mahnwache  beantragt wird, kommen die ersten überraschten Einwohner von Laase mit  heissem Tee für uns. Der Wagen mit den Klos ist auch aufgehalten worden -  kurz darauf spricht sich herum, wo wir im Dorf aufs Klohäuschen gehen  dürfen. Es ist genau so, wie es Jochen Stay aus Philipsburg berichtete:  "Es ergab sich folgende Grundregel. Egal, was die Polizei bei uns  beschlagnahmt, wir bekommen es in doppelter Menge aus der Bevölkerung  wieder. Wer hätte dies vorher gedacht?". Auch das Dorf Laase war nicht  von vornherein ein Widerstandsnest. Aber sie können doch 200 Leute auf  ihrer Dorfwiese nicht einsam vorsich hinbibbern lassen! Wir erfahren, dass  es genügend Scheunen und Stroh für die Nacht geben wird. Denn uns ist  bald klar, dass es wenig Sinn macht, jetzt schon eine Strassenblockade zu  machen. Im Ort findet mein Handy kein Netz, ich gehe 300 Meter aufs Feld.  Von dort aus rufe ich bei Ingrid an, um ihr mitzuteilen, dass ich diese  Nacht nicht "nach Hause" kommen werde. Und was antwortet Ingrid? "Wo bist  Du denn gerade? Wir sind in Laase an der Mahnwache..." ! Sie waren, wie  schon immer, hingefahren, wo etwas los war. Deshalb stehen sie jetzt 300 m  neben mir. Ich laufe zurück und habe das Glück, aus ihrem Auto noch mit  einer Decke und einem Schlafsack versorgt zu werden (die heute in meinem  Gepäck gefehlt hatten).

Nach zwei Stunden habe ich die letzten kalten Sonnenstrahlen in mir  gespeichert, es wird kühl und es ist günstig, dass ich mich zu einem  Postengang gemeldet habe. Wir wissen inzwischen, dass die Polizei das Dorf  weiträumig abriegelt. Wer an einer "falschen Stelle" angetroffen wird,  bekommt einen Platzverweis, und beim zweiten Platzverweis gibt s  Ingewahrsamnahme. Man muss genau wissen, wo die 50 Meter von der  Transportstrasse aus enden - mitten im Dorf. Einige sind wegen einem  falschen Schritt eingefangen worden. Aber aus der anderen Richtung wollen  noch Leute zu uns, zur Mahnwache - "Camp" darf man jetzt nicht mehr sagen.  Sie werden von der Polizei ab- und zurückgewiesen und wir wollen sie aus  einiger Entfernung zu uns heran winken. Nach einer Stunde sollen wir  abgelöst werden. Wir hatten erfahren, dass die erste Sperre von uns aus  nicht sehr weit entfernt sein soll. "Einfach gerade aus - dann seht ihr  sie schon". Also gehen wir einfach gerade aus. Wir gehen und gehen und  gehen... Die Stunde ist fast um. Als wir schon ans Umkehren denken,  begegnet uns das erste Auto. Die Fahrer erzählen uns, dass sie mit Müh  und Not auf einem Waldweg in diese Richtung gelangt sind und sind froh,  dass wir ihnen sagen können, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Deshalb  gehen wir noch weiter - vielleicht können wir noch anderen diese frohe  Botschaft bringen. Tatsächlich, noch ein weiteres Auto begegnet uns. Sie  berichten, dass die Polizei keine Autos mit Campingausrüstung mehr  durchlässt. Minuten später kommen uns dann die ersten Wanderer,  hochbepackt, entgegen und auch sie freün sich, von uns bestätigt zu  bekommen, dass sie in die richtige Richtung laufen. Wir sehen später ihr  Auto, 3 km vom Dorf entfernt, gleich hinterm Polizeiauto stehen. Die  Polizeiautos stehen an allen Abzweigen der Strasse. Es gibt keinen freien  Weg mehr, in den wir jemanden lotsen könnten. Auf dem Weg hierher hat uns  kein Polizeiauto belästigt. Wir haben aber hinter uns mehrfach  Polizeifahrzeuge die Wege qüren gesehen. Vielleicht ist auch uns der Weg  zum Dorf abgeschnitten. Wir gehen ein Stück auf der Strasse entlang und  wollen rückzu einen anderen, parallelen Waldweg benutzen. Nach 500 Metern  erreicht uns ein Polizeiauto, das uns von der Strasse her gefolgt war. Der  leipziger Polizist ist schon sehr genervt. Als wir keinen Grund sehen, uns  auszuweisen, haben wir nur Glück, dass er keine Frau im Wagen hat, sonst  hätte er uns durchsuchen lassen. So schickt er uns nur den Weg wieder  zurück. Wieder ohne rechtliche Begründung. Er spricht sogar eine Art  Platzverweis aus, ohne den "Platz" zu benennen. Insofern ist uns ausser  dem Quadratmeter, auf dem wir da gerade stehen, nichts verboten. Deshalb  gehen wir in Ruhe zur Strasse und zurück auf den Weg, von dem wir  ursprünglich gekommen waren. Eine Weile erwarte ich wieder die  Scheinwerfer im Rücken - aber nichts geschieht. Nur vor uns sehen wir  wieder Lichter von Polizeiwagen. Wir denken nur kurz darüber nach, im  inzwischen dunklen Wald zu verschwinden. Es wäre ja zu peinlich, durch  Wärmebildkameras aufgespürt zu werden. So jedoch haben wir eigentlich  alles Recht auf unserer Seite. Wir befinden uns nicht in der verbotenen 50- Meter-Zone, wir sind mitten auf freien Waldwegen und in Richtung eines  Dorfes, in dem eine genehmigte Mahnwache stattfindet! Das hatte zwar den  Leipziger auch nicht aufgehalten uns den Weg zu versperren - aber nach  einer kurzen Beratung war uns klar, dass wir nicht noch einmal umkehren  würden. Wenn sie uns schon nicht im Dorf haben wollen, sehen wir keinen  Grund, uns woanders ein Bett zu suchen. Dann schon lieber in Gewahrsam  übernachten! Inzwischen sind wir 3 Stunden unterwegs, es ist dunkel und  sehr windig. Ich habe eine grosse Blase an den Füssen. Nein, jetzt kann  ich gar nicht mehr umkehren! Das nächste Polizeiauto stoppt vor uns.  Interessanterweise bin ich jetzt total ruhig. Eine Sekunde lang steht die  Welt still. Der Beamte mustert uns. Fragt - mit dem Finger in Richtung  Dorf zeigend - : "In diese Richtung?" Als wir sprachlos nicken meint er  nur: "In Ordnung, da seid Ihr richtig." - - - Ruth und ich schauenuns an.  Das aufgestaute Adrenalin zischt durch die Adern. Jetzt bin ich zum ersten  Mal nicht mehr ruhig. Na gut. Die nächsten Polizeiautos, die uns im  Entgegenkommen blenden, können wir fast anfeixen. Wahrscheinlich wollen  sie jetzt auch keinen Ärger mehr. Wer von draussen kommt, soll  aufgehalten werden - wer schon so weit da ist, soll halt drin bleiben.  Glück gehabt. An der Mahnwache hatten sie uns schon mehrfach ausgerufen.  Wir suchen den Freund von Ruth und schauendabei in alle Scheunen, die  recht gemütlich zur Nachtruhe einladen. Glücklicherweise kennt sich Ruth  gut aus und weiss, welche Dorfstrassen ausserhalb der 50-m-Zone liegen.  Jetzt wäre es zu dumm, noch geschnappt zu werden. Wir finden Platz in  einem Schuppen. Ich bin ziemlich k.o. und hülle mich erst mal in den  Schlafsack. Nach einer Stunde kommen die SprecherInnen vom  SprecherInnenrat zurück und ich muss mich wieder entblättern und  fröstelnd zu den anderen stellen. Wir hatten am Nachmittag schon in  unserer Gruppe besprochen, wozu wir bereit sein würden, wie die Stimmung  und die Möglichkeiten sind. Inzwischen wird der Castor - mit ca.einem Tag  Verspätung - in Dannenberg von der Schiene auf die Strasse umgeladen und  er ist ab frühem Morgen hier auf der Strassenstrecke nach Gorleben zu  erwarten. Wir klären noch einmal, wozu wir bereit sind. Grundsätzlich  ist "x-1000-mal-qür" auf eine friedliche, gewaltfreie Blockade des  Transportweges (was rechtlich einer Ordnungswidrigkeit entspricht) aus.  Wir haben gesehen, welches Polizeiaufgebot diesmal verhindern will, dass  wir überhaupt auf die Strasse kommen und wir wissen, dass nicht alle, die  sich beteiligen wollen, bis zu uns durchdringen. Sogar Einheimische kommen  nicht heran. Ich lerne zum ersten Mal verschiedene Überlegungen kennen,  wie man trotzdem auf die Strecke kommen kann, in welcher Art welche  Gruppen wie die Polizeikette durchbrechen können und wie sich jede/r  Einzelne daran beteiligen kann. Einige von uns waren in den letzten Tagen  an den Schienenblockaden beteiligt. Einige noch nie. Einige sind bereits  total erschöpft, andere haben noch frischere Kräfte. All diese Vielfalt  soll nun zusammenlaufen in Aktionen, die alle mit tragen können, wo keine/ r weiter gehen muss, als sie/er kann und doch jede/r mehr erreicht als  wenn sie/er alleine wären. Ich fühle mich sehr aufgehoben hier. Ich  kenne kaum jemanden aus meiner Gruppe. Aber ich weiss, dass wir uns  aufeinander verlassen können. Wir wissen, dass wir nicht zum Schlafen  hierher gekommen sind. Aber wir können uns zur Ruhe begeben, der  Weckdienst ist organisiert. Ich schlafe wohl überhaupt nicht.  Erstaunlicherweise bleibe ich warm. Das Postenlaufen hat die innere Wärme  mobilisiert und mich rettet ausser dem Schlafsack von Ingrid eine  Rettungsfolie, die mir Ruth noch gegeben hat. Sobald sich die Folie im  Wind etwas verschiebt, wird es dort kalt, wo sie fehlt. Aber ich kann sie  fast immer ganz um mich wickeln. Ich lasse die letzten Tage noch einmal  durch meine Gedanken ziehen. Egal, was jetzt noch passiert - es war eine  wichtige Woche... Ja, die Nacht ist noch einmal ziemlich lang.

"Der Landkreis Dannenberg befand sich gestern in einem unerklärten  Ausnahmezustand. Die Polizei sperrte Strassen, kontrollierte Anwohner und  Journalisten, leuchtete Höfe aus und liess die Luft aus den Reifen auf  den Feldern abgestellter Traktoren." (Presse am 29.3.) Auch die Esso-Wiese wird heute unter Androhung von Wasserwerfern geräumt  - eine Rache der Polizei für die blamable Verspätung des Transports?

Donnerstag, 29.März 2001

Ich warte auf die ersten Vögel, aber sie bleiben stumm. Es wird hell und  alles steht auf. Nein, wir haben den Castor nicht verpasst, wie die Medien  später berichten werden. Wir hatten schon geplant, erst ganz kurz vorher  aktiv zu werden und uns nicht schon Stunden vorher abräumen zu lassen.  Aufgrund der Sammlung von Meinungen und Stimmungen war nachts noch  beschlossen worden, nicht auf Biegen und Brechen durch die Polizeiketten  zu brechen. Gerade mal nicht dasselbe wie immer, sondern flexibel: Diesmal  nicht rennen, sondern langsam aber bestimmt gehen. Soweit wie es  gewaltfrei geht. Wir erfahren, dass die Polizei jetzt kein Interesse mehr  an Ingewahrsamnahmen hat, denn mit Ankunft der Castoren im Lager Gorleben  werden alle wieder entlassen. Jetzt geht es ums Ganze. Sie haben  Knüppelbefehl und ihre Nerven liegen blank. Unsere Mahnwachen-Wiese wird  total umstellt. Immer mehr Polizisten fahren und laufen heran. Die ersten  von uns werden nervös, wollen sich den Polizisten in den Weg stellen. Sie  werden von anderen zurückgehalten und auf das Konzept von "x-1000-mal- qür" verwiesen. Ganze 5000 Polizisten hat man für diese Nacht und diesen  Morgen noch einmal zusätzlich aus der ganzen Bundesrepublik herangekarrt.  Viele davon "bewachen" uns. Es könnte sein, dass wir schon eingekesselt  sind. Wir holen die Gummijacken und Planen heraus. Aber auch Presse ist  da. Vielleicht schützt uns das. Solange wir keinen Vorwand liefern, muss  auch die Polizei stillhalten. Unter uns wird bestätigt, dass die letzten  Absprachen: - nicht gehetzt so weit wie möglich gehen - noch aktüll  sind. Die armen Polizisten sind nervöser - sie wissen, dass "x-1000-mal- qür" noch auf die Strasse will. Und wir gehen auch los. Ich weiss nicht,  wieviele wir sind. Zwischen 250 und 300. Nicht alle von "x-1000-mal-qür".  Das ist aber jetzt wirklich egal. Ich kann mich zwar nicht orientieren,  aber nach einigem Hin- und Her - immer die Polizei hinter und neben uns  herschleppend - gelangen wir auf die grosse Wiese vor der  Transportstrecke. Weit aufgefächert gehen wir auf die Strasse zu. Dem  grossen getragenen Holz-X galoppiert die Pferdestaffel der Polizei  entgegen. Wir sind ca. 50 m daneben, aber auch uns drängt die  Pferdestaffel zurück. Die grossen Augen der Tiere schauenentsetzt. Sie  wollen Menschen nichts tun und werden doch auf sie getrieben! Bald stehen  wir voreinander. Ich muss ehrlich sagen, dass ich vor diesen Pferden  weniger Angst habe, als vor knüppelbereiten Polizisten. Wir hatten die  Hände - um unsere Wehrlosigkeit zu demonstrieren - gehoben. Bald  umschmeicheln sie die Nüstern der verwirrten Pferde. Nur ein Reiter,  wahrscheinlich ein höherer Dienstgrad, und eine Reiterin mit langem  blonden Haar bleiben auf Konfrontationskurs. Die anderen ReiterInnen haben  mit sich und den Pferden zu tun. Eine verrät uns, dass die Pferde  schlecht trainiert sind und immer wieder durchzugehen drohen. Na, das  gäbe erst Pressebilder! Als die Pferde einmal etwas zur Seite abweichen,  drängen wir vor in Richtung Postenkette. Ich bin eine der Vordersten und  muss sogar wie abgemacht auf die Gruppe warten. Ein völlig ungewohntes  Gefühl: zu spüren, dass ich mehr könnte. Ein Polizist warnt uns: "Sie  kommen jetzt wieder mit den Pferden - geht zurück!" Nichts da - wir  bleiben. Jetzt stehen wir wieder mal direkt vor den Polizistinnen und  Polizisten. Wir singen "gegen die Atomkraft hier im Land... gegen  Polizeistaat und Gewalt..." und ich ärgere mich zum ersten Mal im Leben  über meine schwache und falsche Stimme. Hinter uns drängen immer mehr  Menschen auf die Wiese. 2000 sollen es noch geworden sein. Wir sind selber  überrascht, wo die noch herkommen - es war doch alles abgesperrt. Ja,  jetzt würde ich durchbrechen. Ich würde es tun, wenn wir nicht etwas  anderes beschlossen hätten. Und das nächstemal kann ich mich - aufgrund  dieser Erfahrung - auch in der Vorbesprechung mutiger äussern. Die  Situation ist für mich eine völlig andere als vor zwei Tagen am  Verladekran, als ich zwar in Menschenmassen, aber für mich allein  entscheiden musste, was ich jeden Moment tü...Kurz bevor die Castor- Transporter kommen, holen die PolizistInnen auf Befehl die Knüppel  heraus. Einer bittet uns: "Macht jetzt nichts mehr, wir müssen sonst  zuschlagen." Er hat Glück gehabt. Er braucht sich nicht vorwerfen, auf  wehrlose friedliche Menschen eingeschlagen zu haben. Wir hatten etwas  anderes beschlossen. Deshalb stehen wir in der vordersten Reihe, als die  Castoren vorbeirollen. Einfach so vorbeirollen... Sie werden begleitet von  vielen Tränen. Und die Fernsehkamera hält voll drauf. Was die Weinenden  zu sagen haben, werden sie später nicht mit senden. Als wir ins Dorf zurückkommen, erwartet uns in der Scheune wieder heisser  Kaffee und Tee. Unsere Gruppe wertet die letzten Stunden aus. Die Tränen  sind versiegt. Angesichts des Kräfteverhältnisses konnten wir nicht mehr  tun. Angesichts dieses Kräfteverhältnisses - das gesamte Wendland wurde  polizeilich besetzt - war der Widerstand insgesamt gewaltig. Die  Zerstreuung der Camps konnte dem sowieso dezentral angelegten  Widerstandskonzept nicht viel anhaben. Obwohl von 1500 "x-1000-mal-qür"- Leuten hier in Laase nur noch ca. ein Fünftel angekommen war und die  Gruppen mehrmals durcheinander gewirbelt worden waren, hat sich die  Bezugsgruppenstruktur grundsätzlich bewährt. Jenny betonte, dass sie  "ganz sie selbst bleiben konnte, aber in der Gruppe den nötigen Rückhalt  und Stärke fand". Die Polizei bildet sich ein, uns durch "Finten legen"  und den Überraschungseffekt ausgetrickst zu haben. Nein, es war unsere  Entscheidung, uns nicht massenhaft wegknüppeln zu lassen - denn dies  wäre es geworden, wenn wir auf die Strasse gedrängt wären. Falls es  wieder einmal so kommt, wird es Menschen geben, die auch dies auf sich  nehmen; nur um hämische Meldungen zu verhindern, dass "die wenigen  Proteste effektlos geblieben" wären.

Gerade hier in Laase bewährte sich wieder einmal die Verbundenheit mit der örtlichen Bevölkerung. In unserer Auswertung halten wir fest, dass wir  uns bereit erklären, den hiesigen Baürn durch einen Arbeitseinsatz die  eventüll durch uns zerstörten Bodenkulturen ersetzen zu wollen.Es geht  nun alles ganz schnell. Sogar mein Gepäck ist inzwischen schon im  Sammelauto und ich muss ihm in Dannenberg auf der Esso-Wiese  hinterherlaufen. Meine Gastgeberin holt mich mit dem Auto ab und bald kann  ich mich zum ersten Mal nach vielen Tagen in eine heisse Badewanne begeben  und die Sachen wechseln. Ausschlafen ist jetzt auch bald fällig...

"Die erfolgreichen Proteste gegen die Castor-Transporte sind thematisch  und regional eng begrenzt.Trotzdem sind sie ein ermutigendes Beispiel für  die Möglichkeiten sozialen und politischen Widerstands hierzulande." (R.  Balcerowiak in Junge Welt.  29.3.2001)