Gewerkschaften contra Schröder?
Komplizierte Gemengelage

von Hermann Dierkes

04/02
 
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Massiv hatte der DGB zur Bundestagswahl 1998 unter dem Motto "Deine Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" für einen Politikwechsel geworben und wurde zu einem Entscheidungsfaktor. Das System Kohl musste nach 16 Jahren abtreten — korrupt, verbraucht, diskreditiert. Dann trat das ein, was bei Einschätzung aller Umstände niemand ernsthaft hatte anders erwarten können: "Rot-Grün" unter Schröder setzte nach einigen wenigen sozialpolitischen Beruhigungspillen den neoliberalen Kurs der Vorgängerregierung fort, ja radikalisierte ihn nach innen wie nach außen. Gewerkschaftliche Forderungen und Hoffnungen blieben auf der Strecke. Mehr noch: Die gewerkschaftliche Mitgliedschaft erfährt diese Regierung als Gegner und eben nicht als "Partner". Doch ernsthafter Widerstand ist bisher ausgeblieben.

Unerbittlich nähert sich der 22.September — das Datum der nächsten Bundestagswahlen. Was sollen die DGB-Gewerkschaften tun? Konfrontation, Einflussnahme? Wer will wie welche Ziele erreichen? Die Gemengelage ist kompliziert. Da gibt es ganze Organisationsstrukturen, wie im Bereich der IGBCE, die es fast mit jeder Regierung machen würden, die vielfach verlernt haben zu kämpfen, von oben bis unten. Es gibt andere, wo ständiger Rückzug und viele Niederlagen — auch der kämpferischen Basis etwa der IG Metall — zwar Unzufriedenheit, aber auch Resignation hervorgerufen haben. Und das Entscheidende: Wie steht es — selbst in der potentiell noch mobilisierbaren Basis — mit einem gewerkschaftlichen Alternativprogramm zum Neoliberalismus? Was wäre denn die Regierungsalternative links von Schröder, wenn man auf Konfrontation setzte? Klarheit Fehlanzeige!

Für große Bereiche — Hauptamtliche und einflussreiche Betriebsräte — stellen sich aber diese Fragen erst gar nicht. Sie sehen sich derzeit in einem politischen Argumentationsdilemma. Ihnen geht es nicht um die Ablösung des Schröder-Kurses, sondern um seine Abmilderung, um ihn über die Wahlen zu retten. Deshalb die schroffen Worte von Peters, Bsirske und anderen. Sie sind sogar zu begrenzten Mobilisierungen bereit ("Druck machen"), um gewisse Kurskorrekturen zu erreichen. Ihre Denke: "Schröder braucht uns, also wird er auf uns eingehen müssen". Was aber, wenn der Berliner Genosse der Bosse im Vertrauen auf ihre grundsätzliche Loyalität und die von ihnen selbst mitzuverantwortende Alternativlosigkeit stur weiter macht? Wollt ihr denn Stoiber?

Wer Schröders Ansage, er werde sich am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen, ernst genommen hat, wer sich — wie der DGB — gewerkschaftspolitisch darauf eingelassen hat, der muss sich jetzt dazu erklären. Der kann nicht dazu schweigen, wenn mangels vorzeigbarer Zahlen Versuche gestartet werden, wie unter Kohl die Statistik zu fälschen. Das politische und soziale Desaster kann nicht überzeugend auf "objektiv negative Umstände", auf Rezession und Weltwirtschaft abgeschoben werden. Es liegt außer den objektiven Umständen kapitalistischer Profitwirtschaft in der Verantwortung einer Regierung, die sich mit Händen und Füßen gegen verringerte gesetzliche Höchstarbeitszeiten und die Einschränkung von Überstunden, gegen die Umwandlung von unbezahlter gesellschaftlich notwendiger Arbeit in existenzsichernde Erwerbsarbeit, gegen ein wirksames Tariftreuegesetz, gegen kommunale Infrastrukturprogramme aus Bundesmitteln, gegen einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, gegen eine ökologische Verkehrswende, gegen eine massive Steigerung der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Süden und vieles weitere stemmt, was sinnvolle Arbeit und Beschäftigung erzeugen würde. Diese soziale Misere ist zum großen Teil Ergebnis einer Politik, die fest auf den gegenteiligen Kurs eingeschworen ist. Und sollte sie die Wahlen überstehen, dann gibt es überhaupt keinen Zweifel, wird sie auch weiterhin die Axt gegen die Grundlagen der sozialen Sicherung schwingen — angefangen bei der weiteren Privatisierung des Gesundheitswesens.

In den Gewerkschaften ist deshalb eine ernsthafte Diskussion über die eigenen Ziele fällig und über ihre Mittel, sie auch durchzusetzen. Ausgangspunkt muss die Wiederbelebung eines fundamentalen Leitsatzes in Selbstverständniserklärungen, Satzungen und Programmen sein: Gewerkschaften haben unabhängig zu sein von Staat und Regierung, sonst gibt es entweder eine Regierung Stoiber oder eine Regierung Schröder II mit der Politik von Stoiber. Beides können ernstzunehmende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nicht wollen.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel erschien in Sozialistische Zeitung, April 2002 und ist eine Spiegelung von: http://members.aol.com/sozrst/0204043.htm

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