10 Thesen zum Zuwanderungsgesetz
(März 2002)
von
F. Düvell
04/02
 
trend
onlinezeitung
Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Die Migrationsdebatte in der Europäischen Union und in der  Bundesrepublik repräsentiert in mehrfacher Hinsicht einen Paradigmenwechsel. Dessen politische Inszenierung kann darüber nicht hinwegtäuschen und erklärt in der Tat auch das harte Ringen um den  Kurswechsel.

Selbstverständlich geht die neue Politik aus dem Alten hervor, dennoch ist sie nicht einfach das Alte, sondern, wie unten gezeigt werden soll, ein Politikwechsel. Damit wird die Politik des Neoliberalismus zur Grundlage des Entwurfs für eine neue  Migrationspolitik. Die Gesellschaft als Ganzes wird nach den Kriterien eines Betriebs reorganisiert, Migration und Bevölkerung  betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten angepasst. Das Resultat sind  "hire and fire", and "just-in-time" Migrationsideologien.  Konsequenterweise wird daher von der Deutschland AG, England plc oder dem Konzern Bremen gesprochen. Dass dies unter dem Deckmantel "grüner"  Politik geschieht, kann nach der Welle neuer Kriege nun auch nicht mehr überraschen.

I.
Nach der Flüchtlingskrise und der Krise der Asylpolitik, nach dem  Arbeits- und Fachkräftemangel, sowie nach den ausufernden Konsequenzen der laissez-faire Politik in Bezug auf irreguläre Migration zielt sie auf die Wiedergewinnung der Kontrolle über die Auswirkungen der
Migrationsprozesse auf Europa. Der Begriff der "Steuerung" im deutschen  Zuwanderungsgesetz oder des Management in der Sprache der EU bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck.

II.
Die aktuelle Migrationsdebatte versucht zudem, die Lehren aus der Migration und Arbeitswanderung der Nachkriegszeit zu ziehen. Sie definiert als Problem, dass die Zuwanderung damals weitgehend unreguliert erfolgte, daß es keine Qualitätskontrolle gab, dass die ArbeitsmigrantInnen sich massenhaft unkontrolliert niederließen und zudem ihre Familien nachholten - dies war explizit nicht gewollt - und dass sie über das Ende des Wirtschaftsbooms, also der Nachfrage blieben. Insofern sind die Konzepte von heute nicht die Wiederaufnahme der Politik von damals,sondern tatsächlich neu.

III.
Ebenso stellt sie mehr dar als eine Ausweitung der bislang gültigen Anwerbestopausnahmeverordnungen, einer sperrigen und inkonsistenten Praxis, mittels derer ausländische Saison- und WerkvertragsarbeitnehmerInnen angeworben worden waren. Das
Zuwanderungsgesetz zielt auf eine kohärente Steuerung aller Formen von Migration, auch das ist eine Neuerung.

IV.
Ebenfalls neu ist die Reimplementierung ökonomischer Kriterien in  die Migrationspolitik, die nun zu einem, wenn nicht gar dem Leitmotiv der Politikgestaltung werden. Daraus resultieren eine Reihe von Konflikten zwischen dem wirtschaftsliberalen Lager, den Apologeten der Politik der Globalisierung und den Vertretern der Wirtschaft, sowie den Anhängern völkisch-nationaler und wirtschafts- sowie arbeitnehmerprotektionistischer Konzeptionen. Letzteren, insbesondere
einer Reihe von GewerkschaftsvertreterInnen, scheint diese Nähe aber  zunehmend unangenehm zu werden.

V.
Die systematische Anwendung von Nützlichkeitskriterien ist insofern neu, als die Nützlichkeit beispielsweise der ersten Einwanderungsperiode bis 1973 zwar als gegeben vorausgesetzt worden war, nicht aber, wie das neue Gesetz vorsieht, systematisch per Punktesystem verifiziert werden soll.

VI.
Selbstverständlich ist die Zuwanderungsdebatte auch zu sehen im Kontext der Diskussion um die hohen metropolitanen Lohn- und Lohnnebenkosten, sowie der Staatsquote, also den ständig anwachsenden Sozialhaushalten. Einerseits werden mit der Migration die geltenden lohn- und sozialpolitischen Standards unterlaufen und in einem weiteren Schritt wohl auch angegriffen. Andererseits wird die intensivierte Verfolgung und Abschiebung der Unerwünschten nicht zuletzt mit haushaltspolitischen Argumenten begründet.

VII.
Die migrationspolitischen Intentionen für die Gegenwart und für die  Zukunft sind verschieden. Aktuell geht es in der Tat darum, und das haben alle Seiten mehr als deutlich gemacht, nicht ein Mehr an Migration anzustreben, sondern dessen Qualität zu Kontrollieren. In Zukunft, auch
dies wurde deutlich, geht es allerdings sehr wohl um mehr Migration nach  bevölkerungspolitischen- und Qualitätsmerkmalen. In beidem greift die Politik sowohl an der zynischen Konzeption von Humankapital an, als auch an den nationalsozialistischen Vorstellungen von einem gesunden, wertvollen und produktiven "Volksköpers". Diese Kontinuität hat Agamben (2002) trefflich analysiert.

VIII.
Aus der neuen Migrationspolitik und dem neuen Migrationsregime, denen eine Neubewertung von Migration und Mobilität zugrundeliegt, ergibt sich auch eine Neubewertung des Konzepts "Grenze". Die herkömmliche Außengrenze traditioneller Nationalstaaten hat sich als zunehmend porös erwiesen, die gestiegene globale Mobilität und das rasant gestiegene Reiseaufkommen - es hat sich in den vergangenen 10 Jahren verzehnfacht - machen eine Reihe von Aufgaben der Grenze alten Typs hinfällig. Daraus resultieren andere Konzepte von Grenze, die innere Grenze. Die Paradoxie des nebeneinanders von einer auf Migration drängenden Haltung, insbesondere durch die Unternehmer, sowie verschiedener Parteien und Organe der EU einerseits, sowie die epidemischen Siege xenophober Parteien in Frankreich, Österreich, Italien, Dänemark und jüngst in den Niederlanden lassen erkennen, dass die Migrationsabwehr mehr und mehr ins Innere verlegt wird. Die Reisebeschränkungen für Flüchtlinge, aber auch  für politische AktivistInnen, sowie die flächendeckende Einführung von Technologien zur Kontrolle von Mobilität sprechen eine deutliche Sprache.

IX.
Die deutsche Zuwanderungsdebatte ist Teil einer europäischen Konzeption. Mit dem Vertrag von Amsterdam haben sich alle EU-Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame und in den Grundzügen
einheitliche Politik geeinigt. Damit sind die Voraussetzungen für ein  kohärentes Vorgehen in einem Großraum Europa und seiner Peripherie hergestellt worden. Migrationspolitik ist nicht mehr Sache nationaler Überlegungen sondern transnationaler Institutionen. Da damit auch nationale Interessen in den Hintergrund treten, werden sie durch arbeitsmarktpolitische und kleinräumliche, regionale Kriterien ersetzt (was gut für Baden-Württemberg ist, muß also nicht gut für Bremen sein).

X.
Der Paradigmenwechsel in der europäische Migrationspolitik ist Ausdruck und Teil des Entwurfs einer globalen Politik für ein neues Migrationsregime. Analog zur Steuerung und Regulierung der weltweiten Geld- und Warenströme, sowie der Durchsetzung weltweit einheitlich günstiger Investitions- und Handelsbedingungen (GATT, WTO) setzt diese Politik auf die Steuerung und Regulierung der Bewegung von Menschen, in der Sprache der Neoliberalen nichts anderes als Humankapital. Im Entwurf liegt bereits ein General Agreement on the Movement of People (GAMP) vor, das aus der Feder der Direktoren der International Organisation for  Migration (IOM) und des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs (HWWA) stammt. Die Konsequenzen dieses Kurswechsels sich noch gar nicht abzusehen. Deutlich geworden ist allerdings, das die ersten Opfer Asylsuchende und Flüchtlinge sein werden. Auch die Bürgerrechte, insbesondere jenen von
AusländerInnen werden der neuen Kontrollpolitik geopfert, der 11.9. kam da gerade recht. Mittelfristig wird diese Migrationspolitik aber auch unter dem Gesichtspunkt eines Angriff auf die soziale, politische und Klassenzusammensetzung zu betrachten sein. Das diese Planungen so nicht aufgehen, sondern stattdessen die Konfrontationslinien verschieben werden, steht auf einem anderen Blatt.  
 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel erschien ist eine Spiegelung von:
http://www.materialien.org/migration/texte/10thesenduev.html