Die Synagoge im Dorf lassen!
Deutsche Linke, Antisemitismus und Palästina-IsraeI-Konflikt

von
Sven Glückspilz, April 2002
04/02
 
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Wenn innerhalb der deutschen Linken. namentlich in der radikalen, ein Konflikt eskaliert, ist es üblich, verschiede Ebenen und Aspekte so ineinander zu verrühren, daß es unmöglich wird, sie getrennt zu analysieren. Das erlaubt allen Beteiligten, die Konfrontation aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie argumentativ nicht weiter kommen - durch Themen- bzw. Ebenenwechsel.

Im aktuellen Fall ist es wirklich schwer, die Ebenen zu trennen, obwohl es meiner Meinung nach wenigstens drei deutlich unterscheidbare gibt: Nämlich den Konflikt in Israel/ Palästina, die Frage des Antisemitismus innerhalb der Linken und dritttens die Umgangsformen innerhalb der Linken. Alle, die auf dem Eskalationstrip sind, werden diese Trennung ablehnen, weil damit dieses oderjen-o es verharmlost, ausgeblendet, nicht ausreichend berücksichtig usw. werde. Die Forderung nach sofortiger, umfassender, grundsätzlicher Positionierung mitsamt ihrer Aufgeregtheit und Neigung zur schnellen Freund-Femd-Identifizierung muß aber zur rückgewiesen werden. Es ist allemal schlimm für radikale Linke, nicht sogleich und in einem Satz Gut und Böse sortiert zu haben. Und gänzlich unerträglich scheint es zu werden, wenn Gut und Böse nicht eindeutig zu identifizieren sind, wie zuletzt im Jugoslawien-Konflikt. Dann geht es nach dem Motto: Wenn wir uns auf keinen äußeren Feind einigen könnnen, schlagen wir uns halt untereinander - Hauptsache, irgendwo ein Feind!

Was den Konflikt in Israel/Palästina angeht, so ist die leichteste Übung für Linke dabei die Formulierung der einzigen gangbaren Lösung, wobei es hier eine weitgehende Einigkeit bis ins bürgerliche Lager hinein zu geben scheint: Zwei Staaten in den Grenzen von 1967, Abbau der jüdischen Siedlungen in den derzeit besetzten Gebieten Jerusalems zumindest symbolische Annerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge und deren Entschädigung Dabei wäre es angemessen, die Kosten dieser Lösung von denen bezahlen zu lassen, die historisch verantwortlich sind für die Situation, und das sind die reichen Länder des Westens, allen voran Deutschland Das Problem taucht auf, wenn der Blick aus der Ferne zurückschweift zur aktuellen Situation und der Frage, wie sich deutsche Linke dazu verhalten sollen. Was geschieht in Israel/ Palästina? Erstens: Ist es kolonialistisch, eine Bevölkerungsgruppe gewaltsam zu vertreiben? Ja, das ist es. Ist das ein historisches Tabu, auf das es nur eine Antwort der Linken geben kann? Nein, gewiss nicht, denn die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den "Ostgebieten" nach dem zweiten Weltkrieg wird von der deutschen Linken akzeptiert, und zwar zu Recht, denn sie stand in einem politischen und historischen Kontext, der sie legitimierte. Und genauso wiegen Entstehung und das Existenzrecht Israels an sich schwerer als die Problematik der sich daraus ergebenden Vertreibungen. Zweitens: Wer hat angefangen? Offensichtlich beide Seiten. Es ist eine Frage nach Henne und Ei, die letztlich in die Mikropolitik der ersten jüdischen Neuansiedlungen vor langer Zeit führt und in die Psychologie von "alteingessesene gemütlich-konservative Bauersleute" versus " jungdynamische arbeitsame Neuankömmlinge" (wie sie in jedem brandenburgischen Dorf anzutreffen ist). Eine Parteinahme läßt sich daraus nicht entwickeln. Nun hatte, dritttens, Israel das zweifelhafte Glück, auf dem geostrategischen Ticket der USA reisen zu können. Es läßt sich hin- und herargumentieren. ob es angesichts der Bedrohung durch die arabischen Nachbarstaaten eine realpolitische Alternative dazu gab Dennoch ist die Folge - Wes' Brot ich eß, des' Lied ich sing - für Linke nur schwer oder gar nicht akzeptabel Es gibt nur leider keine starke Gegenposition in der arabischen Well, die für Linke attraktiv sein könnte Hier bleibt es also beim Unentschieden Pest oder Cholera, mithin keine eindeutige Solidarisierung.smöglichkcit für eine emanzipative Linke Das bedeutet keineswegs, jetzt plötzlich die US-Politik oder überhaupt -Geostrategie gut zu finden Es ist aber sinnvoller, hier den Esel und nicht den Sack zu schlagen, also: gegen die USA und nicht gegen Israel zu kämpfen, wenn die USA gemeint sind. In diesem Sinne sehen wir uns alle am 22./23.Mai in Berlin auf der Straße' Viertens, die Besatzungspolitik Israels. Es liegt auf der Hand, daß es sich um eine repressive, reaktionäre Politik handelt, die nicht durch ein simples "Notwehrrecht" legitimiert werden kann' (jeder Staat der Welt bezeichnet jede Art von eigener Repression als "Notwehr'' gegen "Terrorismus"). Ökonomische Interessen (Wasser-Monopol, ökonomische Dominanz über die umliegenden Staaten, Ausnutzung billiger Arbeitskräfte) treffen sich hier mit politischmilitärischen (Palästina soll ein möglichst schwacher, abhängiger, instabiler Staat werden). Jeder andere Staat mit einer bürgerlichen Regierung würde es genauso machen in dieser Lage. Die Linke muß sich klar dagegen positionieren. Fünftens, rassistische Praktiken. Nicht die Praktiken sind ganz neu, sondern das politische Gewicht, das sie und ihre Thematisierung bekommen. Es gibt den Rassismus auf beiden Seiten, und wer die Eskalation will, fördert ihn Der Unterschied ist, daß es in Israel eine große arabische Bevölkerungsgruppe gibt, die einem mächtigen Staatsapparat gegenübersteht und somit vor allem administrativem Rassismus ausgesetzt ist. der sich flächendeckend, erkenn- und benennbar, repressiv aber nicht tödlich äußert, während andersherum auf palästinensischer Seite der Rassismus gegen Juden (und ihre befestigten Siedlungen) vor allem ideologisch und persönlich-praktisch auftritt in Form von Hetzpropaganda und aggressiven Gewalttaten. Das ist schwer gegeneinander aufzurechnen Aber warum auch - für Linke sollte klar sein, daß sie Rassismus in jeder Form ablehnen. sei er antijüdisch oder antiarabisch.

Sechstens, der palästinensische Widerstand - vielleicht das brisanteste Thema und darum zuletzt, denn hier scheiden sich zunehmend die Geister der Linken. Es gab in den 70er Jahren starke säkulare Gruppen innerhalb und außerhalb der PLO, die sich als antiimperialistisch- emanzipativ. auch links, und explizit nicht als antisemitisch verstanden. Es sei mal dahingestellt, wie viel da dran war, immerhin nannten sich viele antikoloniale Befreiungsorganisationen sozialistisch, was letztlich aber nicht viel mehr bedeutete als Nationalismus plus Geld aus der Sowjetunion. Für die deutsche Linke war dies aber damals ein Anknüpfungspunkt für internationalistische Solidarität. In den 70ern begannen diese Gruppen-Flugzeuge zu entführen, um "die Weltöffentlichkeit" aufzurütteln und um Gehör zu finden. Dabei ging es wohlgemerkt lediglich um Entführungen, also ohne den beabsichtigten Tod von Zivilisten. Ein nicht unbedeutender Teil der deutschen Linken hat sich schon damals klar distanziert von dieser Aktionsform, weil sie eben dennoch "Unbeteiligte" angreift, und die Solidarität mit dieser Art "Widerstand" verweigert- trotz allem Verständnis für die verzweifelte Lage der palästinensischen Gruppen. Und die palästinensischen Gruppen haben. soweit ich weiß, diese Kritik gehört und ernst genommen, ebenso wie die PLO die deutschen Nazis der Wehrsportgruppe Hoffmann aus ihren Ausbildungslagern rausgeschmissen hat, nachdem deutsche Linke sie für diese Kooperation kritisiert haben. Ich schreibe das in dieser Ausführlichkeit, um zu beschreiben, daß es früher so etwas wie Anknüpfungspunkte und Diskussionsmöglichkeiten zwischen deutscher Linken und relevanten palästinensischen Gruppen gab Die Zeiten haben sich geändert. Die säkularen palästinensischen Gruppen sind gescheitert, und ihre Basis, in der es schon vorher viel mehr latente antijüdische oder auch antisemitische Ressentiments gab als bei den Kadern, hat sich im Laufe der 80er/90cr Jahre von ihnen abgewandt Diese Entwicklung war schon in den frühen 8öer Jahren belegt worden. Der Islamismus mit seinen "einfachen Lösungen" im völkischen. rassistischen- sexistischen und letztlich auch antisemitischen Sinne ist zur bestimmenden Kraft geworden, und die säkularen Organisationen sind ihm, um im Spiel zu bleiben, hinterhergelaufen. Heute ist es nicht nur in der palästinensischen Bevölkerung verbreitete Meinung, es sei ganz toll, israelische Zivilisten umzubringen, sondern es gibt auch keine erkennbaren Adressaten für linke Kritik, sondern höchsten realpolitische oder resignierende Stimmen á la "was sollen wir denn machen...?" Ich kann mir sehr gut erklären, wie die Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Kriegstraumatisierung, religiösem Wahn, Männlichkeitskult etc. einen Menschen zum Selbstmordattentäter werden läßt. Ich kann mir aber auch gut erklären, wie ein deutscher Jugendlicher aus Minderwertigkeitsgefühl, Bildungsmangel und Männlichkeitkult zum Nazi wird, ohne ihm deshalb auch nur einen Deut weniger die Fresse polieren zu wollen. Wer am 16.April in Mitte war bei der Palästina-Demo, hat einen Eindruck davon bekommen, was die dominanten Kräfte des palästinensischen Widerstandes zur Zeit sind. Die Präsenz von islamistischen Gruppen, von religiösen Parolen, von antijüdischen und antisemitischen Plakaten war so erschreckend groß, daß letztlich nur ein Häuflein von ein paar hundert versprengten Deutschen an der Demo teilgenommen hat, darunter viele Vereinzelte, persönlich involvierte, notorische Antiimperialisten, und nebenbei leider auch etliche bekannte Nazis. Undogmatische Linke standen kopfschüttelnd daneben, nicht nur wegen der beschriebenen dominanten Gruppen, sondern weil es andersherum fast keine Aussagen (Transparente. Parolen- erkennbare Gruppen) gab, die Linke einigermaßen bedenkenlos unterstützen könnten, abgesehen von der ganz allgemeinen Ablehnung von Krieg und Okkupation. Ich bin zwar überzeugt, daß ein Ende der israelischen Besatzung nach und nach (nicht sofort) auch der islamistischen Massaker-Politik den Wind aus den Segeln nehmen würde. Anders als säkulare Politik hat diese jedoch einen schrecklichen Vorteil. Jede Steigerung der Eskalation, jede Verschärfung der Verhältnisse bestätigt scheinbar ihre Analyse und macht sie immuner gegen Einwände. Sie kann letztlich nur selbst scheitern, indem sie repressiv zerschlagen wird oder indem ihr der Nachwuchs ausgeht - weil die Leute genug davon haben. Manche israelischen Linken hoffen, daß letzteres bald der Fall sein wird. Ich bin nur da nicht so sicher.

Schlußendlich sehe ich nur einen möglichen Ansatzpunkt für linke internationalistische Solidarität jenseits der ganz allgemeinen utopischen Formulierungen: die Suche nach Partnerinnen vor Ort, nach emanzipativen jüdischen und arabischen Gruppen und Menschen, und deren Unterstützung. Das ist nicht weltbewegendes und nichts lautes, und es bringt kein Medienecho und keine Großdemo's und kein Gefühl enormer Wichtigkeit, und vor allem hilft es nur in mikroskopischer W'eise bei der Lösung des Nahost-Konfliktes. Doch diese Bescheidenheit können wir uns angesichts der Erfolglosigkeit unserer sonstigen Politik im eigenen Land wohl durchaus erlauben. Deshalb: wenn schon realpolitisch, dann: Für die Zwei-Staaten-Lösung, solange es nichts Besseres gibt und um das Blutvergiessen zu beenden, und für die Unterstützung und Finanzierung beider Staaten durch die westlichen Nationen und Konzerne. Aber vor allem: keine Solidarisierung mit Staaten, welche Flagge auch immer drüber weht! Jedoch unbedingtes Existenzrecht für Israel aus historischer Einsicht und Verantwortung! Selbstbestimmungsrecht und emanzipative Prozesse in jeder Bevölkerung (Sprachgruppe, Ethnie wie auch immer sie sich kollektiv identifiziert) fördern! Keine Solidarität mit repressiven, militaristischen, terroristischen Aktionen, von welcher Konfliktpartei auch immer: Schluß mit der Besatzung. Schluß mit den "Selbstmord"-Massakern"

Eindeutiges Eintreten gegen rassistische und antisemitische Tendenzen im Israel/Palästina-Konflikt!

Das war erst der erste Teil. Nun zum zweiten, dem Antisemitismus innerhalb der deutschen l.inken. Dieser wird seit einiger Teil stark thematisiert von einigen Gruppen und Zeitschriften, deren Zugehörigkeit zur Linken durchaus uneinheitlich ist. Manche, wie die "Bahamas"-Fraktion, wissen selbst nicht so genau, ob sie noch Linke sein wollen - was allerdings auch Kokettiererei sein kann, denn nach wie vor versuchen sie fast ausschließlich innerhalb der deutschen Linken wirksam zu sein. So ähnlich war es übrigens vor rund 10 Jahren mit der "Klasse-gegen-Klasse"-I'raktion in Berlin, die ihre wütenden Distanzierungen von der Linken stets nur innerhalb der Linken verbreitete . Aber das gehört eigentlich zu teil drei.

Es gibt |a auch ernstzunehmende Kräfte innerhalb der Linken, die aktuellen Antisemitismus (also nicht nur:
historischen) zum Thema machen. Ich respektiere das, lese ihre Texte und stimme ihnen in einigem zu. Ich glaube allerdings, daß sie an vielen Steilen einen Tunnelblick entwickeln und beginnen, Eindrücke und Analysen zu sortieren unter der Vorannahme, etwas antisemitisches finden zu müssen. Ich bin auch der Meinung, das Deutsche sich mit "Zionismuskritik" zurückzuhalten haben, aber nicht weil diese Kritik keine Berechtigung haben könnte bzw. per se antisemitisch sein muß - sondern weil sie gerade in Deutschland in einem Kontext steht, in dem "Antizionismus" und Antisemitismus allzu schnell Brüderschaft trinken. Ich bin auch der Meinung, daß die Heftigkeit der innerlinken Auseinandersetzung -auf die ich später noch eingehe - von antisemitischen Tendenzen mitbeeinflußt ist. Es wäre absurd, zu glauben, wir deutschen Linken hätten zwar kapitalistische. sexistische und rassistische Eigenschaften zugegebenermaßen und unausweichlich verinnerlicht aufgrund unserer Sozialisierung, seien aber qua Bewußtsein frei von Antisemitismus. Ich bestreite aber, daß diese Tendenzen wichtiger Dreh- und Angelpunkt linker Identitätsfindung und Positionierung sind. Ein großer Teil der Eskalation ist m. E. in der Tat unabhängig vom Thema, denn - auch dazu im dritten Teil mehr - das Muster der derzeitigen Eskalation ist hinläglich bekannt aus vielen anderen innerlinken Auseinandersetzungenzu ganz anderen Themen. Zu dem erwähnten Tunnelblick gehört auch, zu behaupten, in deutschen Medien und deutscher Politik allgemein (nicht nur bei Linken) würden stets pro-palästinensisch und anti-israelisch berichtet und argumentiert. Was ja die pro-Palästina-Fraktion genau umgekehrt sieht. Ich sehe beide Positionen vertreten, jeweils unzureichend und undifferenziert. Obwohl ich zugeben muß, die inhaltlich überzeugendsten Äußerungen der letzten Zeit in der bürgerlich-liberalen Presse gefunden zu haben (mal abgesehen von denen jüdisch-israelischer Linker). Wo die Kritik am Antisemitismus in der Linken zutreffend ist, liegt klar zutage: die auffällige Bereitschaft. in die historischen Begriffskiste zu greifen, wenn es um die Situation im Nahen Osten geht, ist in der Tat beunruhigend. Eine kriegerische Aggression mit mehreren hundert. vielleicht auch tausend- Toten als "Vernichtungskrieg" oder "Völkermord" zu bezeichnen, ist absurd. Sharon mit Hitler zu vergleichen, von palästinensischem "Holocaust" zu reden, auch die häufig anzutreffende Argumentation "die Juden machen es genauso wie die Nazis" oder "sie haben nichts gelernt aus..." ist eine aberwitzige Relativierung der deutschen Verbrechen während der Nazi-Herrschaft. Sicher gibt es Leute, die bei jeder Gelegenheit "Völkermord" und "Faschismus" rufen und diese Begriffe damit letztlich entleeren und diffus machen. Aber wenn es um Israel gellt, schwillt dieses Rinnsal auch in der Linken zum Strom an, und dahinter sind unbewußte antisemitische Prägungen zu vermuten (irrationale Überhöhung der "jüdischen Gefahr"), verstärkt durch eine eigene, vielleicht vom Antisemitismus getrennt zu betrachtende Unterströmung der Wiedergutmachung-der-deutschen-Herkunft. Wie der sich verbreitende Antisemitismus in der palästinensischen Gesellschaft auch ein Echo des globalen Antisemitismus ist (zuletzt auf der Konferenz in Durban zeigte sich. daß damit auch international Punkte zu machen sind), so ist Antisemitismus in der deutschen Palästina-Solidarität auch ein Echo auf den von dort kommenden Ein Teufelskreis. Und genährt wird er zusätzlich von der nicht an sich anti-semitischen, aber grundsätzlich für Rassismus und Fremdenangst sehr offenen völkischen und (befreiungs-) nationalistischen Ideologie, die in Palästina alle relevanten Organisationen - nicht nur die religiösen - vertreten, und die von der deutschen antiimperialistischen Solidarität stets mit äußerst zaghafter solidarischer Kritik bedacht wurde, wenn überhaupt. Daß in der momentanen linken Debatte vor allem Schreihälse auf beiden Seiten dominieren, ändert nichts an der Erkenntnis, daß es Antisemitismus in der deutschen Linken gibt und das alle sich an ihre eigene Nase zu fassen haben, um ihn zu erkennen. Gleichwohl rufe ich die KritikerInnen des Antisemitismus auf, zu reflektieren, wo sie vielleicht gerade auf dem Trip sind und sich in etwas verrennen, was auf den zweiten Blick nicht so groß und mächtig ist wie auf den ersten. So wie der Vorwurf der "Verabschiedung von der Linken" und der "Heimkehr in den bürgerlichen Schoß der kriegstreibenden und kapitalistischen Mächte", der gegen diese Fraktion erhohen wird, nur auf einen sehr kleinen (wenn auch lauten, siehe "Bahamas") Teil zutrifft und ansonsten Polemik ist, ist auch die Denunzierung der Linken als per se antisemitisch verseucht ebenso abwegig wie die Ausweitung der Kontaktschuld (Hamas ist antisemitisch, also sind auch Gruppen, die die Palästina-Demo unterstützten, antisemitisch, also sind auch Gruppen, die diese Gruppen unterstützen...)

Aber. Was von der anderen Fraktion entgegenschallt, ist nicht besser, sondern schlimmer. Damit leite ich den dritten Teil ein. Bei aller Kritik, die ich an den Anti-Deutschen habe und die sich nur zum Teil auf deren Aussagen, zum Teil aber auch auf deren Politikformen bezieht, ist mir bisher nicht bekannt, daß sie körperliche Gewalt in die linke Debatte getragen haben Sie führen ganz überwiegend einen sehr akademischen und im doppelten Wortsinne unsportlichen politischen Kampf, der unangenehm sein kann, aber niemanden bisher direkt bedrohte. Hier gilt das Motto: Wer austeilt, muß auch einstecken können. Es gab aber in der Zwischenzeit mehr als einen gewaltsamen Angriff auf Angehörige dieser Fraktion. Nach dem Angriff auf die blödsinnige Bahamas-Veranstaltung im Orlando war im Radio von einem Mitglied der palästinensischen Gemeinde sinngemäß zu hören, dieser Angriff sei vonden Veranstaltern provoziert und gewünscht worden - durch die Veranstaltung an sich! Ich kann gut verstehen, daß Bahamas-Veranstaltungen provozieren und zu Störungen einladen. Störungen sind auch o.k., ich habe selbst überlegt, dort zu stören. Aber Angriffe, dazu noch bewaffnet, sind unentschuldbar. Und komme niemand und sage, das seien eben "aufgeputschte palästinensische Jugendliche" gewesen. Wer hat sie aufgeputscht, und wer hat dem politischen Rückhalt in der deutschen Linken gegeben?

Die Austragung von Diskussionen mit körperlicher Gewalt hat in der Linken (nicht nur der deutschen) traurige Tradition, und ebenso die Belegung der Gegenseite mit möglichst vernichtenden Schimpfwörtern. Was dem deutschen pickeligen Jungmann sein "Schwuler", ist dem aufrechten Linken sein "Faschist" Dieses Dominanz- und Abgrenzungsritual kann keine politischen Argumente für sich in Anspruch nehmen. Es stimmt zwar, daß die jeweiligen Konfliktlinien immer auch politisch existieren und oft die Grauzone markieren, an der die Linke endet und eine irgendwie geartete "nicht-linke" Fraktion beginnt. Im aktuellen Fall droht der antiimperialistischen Fraktion von rechts die nationalrevolutionäre Umarmung, der antideutschen die bürgerlich-kapitalistische - beide Arme gehören zur selben Bestie Doch das ist austauschbar, während die Konfliktform die gleiche bleibt: gegenseitige Anmache, Eskalation, eigene Identifikation mit dem Konflikt über Ausgrenzung und Feindsetzung der "anderen". Jeder Versuch der Deeskalation wird als Einmischung oder "Entpolitisierung" des Konflikts abgelehnt. Grenzen sollen nicht "verwässert" werden, im Gegenteil, es sei ja gut und notwendig, sich klar abzugrenzen und zu positionieren. Es sei eine "Reduzierung", "Verharmlosung" oder "Ausblendung", wenn beide Fraktionen allgemein in ihrer Auseinandersetzungsform kritisiert werden. Freund oder Feind, Thema austauschbar: Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Antikommunismus, Veganismus. Dieses traurige Spiel der Selbstmarginalisierung, Kommunikationsunfähigkeit und Erstarrung wird derzeit im Vorfeld des 1.Mai doppelt aufgeführt, mit dem Streit um die "wahre" revolutionäre Demo und mit dem "Antisemitismus"-Konflikt, den ich hier absichtlich in Abführungszeichen setze, weil ich ihn eben nur zum Teil als politischen Konflikt akzeptiere. Die Gewalt in diesem Spiel ging bisher jeweils nur von einer Seite aus, nämlich der "antiimperialistischen", und deshalb ist die Forderung hier und heute nicht harmonisierend an beide, sondern ausdrücklich an diese eine Seite gerichtet: Schluß damit!

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel erschien am 18.4.2002 in der Interim 548. OCR-Scan by Red. trend.