Robert Kurz,
Pol-Pot und der Papst

Notiz über postmarxistische Lorianismen


von
Wolfgang Fritz Haug
04/02
 
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 (17.04.2002) Retoure auf 'Robert Kurz ist der Prophet
eines pol-potianischen Jenseits aller Vermittlung.'

1. Vorgeplänkel

‘Robert Kurz’, schrieb ich in den Prolegomena zu einer Kritik der Neuen Ökonomie, ‘ist das Zweite Gesicht der Neuen Ökonomie’. Seine Endzeitprophetie -- er hatte soeben verkündet, das Internet würde dem Kapitalismus endgültig den Garaus bereiten -- sei ‘intellektueller Selbst- und Fremdbetrug’. Damit nicht genug. ‘Robert Kurz ist der Prophet eines pol-potianischen Jenseits aller Vermittlung.’ (Arg. 238, 637). -- Ich gebe zu, das ist starker Tobak. Die Retourkutsche kam postwendend in Gestalt meiner Ernennung zum ‘emeritierten Papst bundesdeutscher Marxbeschäftigung’. Nun werden Päpste so wenig emeritiert wie dereinst die Generalsekretäre. Sie sterben im Amt. Auch ist einer entweder ‘der’ Papst oder keiner.

Doch gemach, die eigentliche Retoure kommt erst. Dazu bedarf es eines Anlaufs: Laut Kurz kam es zum Pol-Potismus, ‘indem sich der Staat in Gestalt eines Parteiapparats Geld bzw. Markt gegenüber absolut setzte’ (400). Ob ein Bauern-Kriegskommunismus gegen die Stadt und ihre Vermittlungsinstitutionen und Intellektuellen das Gleiche ist wie etwa der sowjetische ‘Staat in Gestalt eines Parteiapparats’, sei dahingestellt. Für einen, der nicht der Mann vieler Umstände ist, macht das keinen Unterschied. Ausrottungsfeldzug gegen die eigene Stadtbevölkerung oder freie Wahlen plus Rechtsstaat im Kapitalismus? ‘In beiden Fällen sind die Menschen in potenzierter Form das, was sie auch im kapitalistisch-demokratischen Normalfall sind: bloße Objekte, bloßes Material eines über sie hereinbrechenden Verhängnisses.’ (Ebd.) So viel über Pol Pot und die kapitalistische Demokratie. Jetzt ist die Retourkutsche gerüstet und kann das Verhängnis über den Kurz-Kritiker hereinbrechen. Wofür dieser emeritierte Papst steht, ist ‘nicht nur stets ein Arbeitsmarxismus, sondern damit auch ein Staatsmarxismus geblieben’, enthält ‘also gerade das Moment selber, das in Gestalt des Pol-Pot-Regimes eine besonders üble Erscheinungsform angenommen hat’ (400f).

Setzen wir uns in diese Retourkutsche und fahren ein bisschen spazieren in der Welt des Robert Kurz. Der kleine Ausflug gilt dem von Kurz herausgegebenen Marx-Reader. In einem „bürgerlichen“, sprich kapitalistischen Verlag erschienen, fest gebunden in rotes Leinen, sogar mit Lesebändchen -- das ist schon verblüffend, bedenkt man die große Absage in den ersten zehn Jahren der postkommunistischen Situation. Doch schon 1999, als in England die sympathisierende Marxbiographie von Francis Wheen Furore (und Umsatz) machte, brachte Bertelsmann dieses Werk auf deutsch. Anscheinend geht so etwas wieder. Der traumatische Stupor weicht allmählich. Der auf hochtechnologischer Grundlage neoliberal globalisierte Kapitalismus ruft neue Kritik hervor. Keine Macht reklamiert mehr Marxens kritische Theorie desselben. Kein Wunder, dass wieder mehr und mehr nach ihr gefragt wird. Schauen wir uns an, wie der Marx-Reader von Kurz diese hoffnungsvolle Nachfrage befriedigt.

2. Marx, postmarxistisch zubereitet

Ein Auswahlband, meint Kurz im Vorwort,
könnte doch nützlich sein, vielleicht nicht zuletzt für eine junge Generation in Ost und West, die mit keiner Marx-Lektüre und keiner Marx-Diskussion mehr aufgewachsen ist, sich aber endlich einmal selber mit dem authentischen marxschen Denken auseinandersetzen will.
So weit so gut. Der Pferdefuß zeigt sich alsbald. Dem ‘authentischen marxschen Denken’ traut Kurz nämlich keinesfalls übern Weg. Statt dessen bietet er einiges an Rhetorik auf, um jenen ‘mit keiner Marx-Lektüre und keiner Marx-Diskussion’ Aufgewachsenen ordentlich Bescheid zu stocken, wie sie den Marx und seine Wirkungsgeschichte verstehen sollen. In erster Linie sollen sie geimpft werden gegen das, was er die ‘Vorstellungswelt des Arbeits-, Staats- und Nationalmarxismus’ (403) nennt. Die Arbeiterbewegung, ja auch der Klassenkampf waren, so Kurz, Agenten des Kapitalismus, nicht weniger als Marx selbst, der bei aller Kritik immer auch bewusstloser Anhänger des Kapitalismus geblieben sein soll (wie übrigens Ernst Bloch, der extra vorgenommen wird). Der Kapitalismus aber ist das Verhängnis schlechthin, ein anderes Armageddon, Reich des Bösen, dessen ‘bloße Objekte, bloßes Material’ wir sind. George W. Bush hat mehr als einen ‘dunklen Bruder’ ...

Mit Sinn für die literarisch-rhetorischen Qualitäten des marxschen Textes bildet Kurz die Zwischenüberschriften seiner Textauswahl. Eine heißt etwa, durchaus exemplarisch: ‘Die Leichen von Maschinen, die Seelenwanderung des Werts und die Naturgaben der Arbeitskraft’. Doch indem Kurz die von Marx seinem Text beigemischten heineschen Lockstoffe herauslöst und für seinen Zweck einsetzt, bleiben die begrifflichen Grundlegungsakte von Marx auf der Strecke. Wenn der Text es nicht von sich aus hergibt, helfen Vorspann und Überschriften nach, etwa um Marx gegen die ‘sogenannten Menschenrechte’ und den ‘sogenannten Rechtsstaat’ in Stellung zu bringen. Was Marx gegen den kaiserlich-preußischen Obrigkeitsstaat sagt, wird aus dem historischen Kontext gerissen, um den Schein zu erzeugen, es richte sich gegen einen parlamentarisch-demokratischen Staat vom Typ des Bundesrepublik.

Die Marxismen haben in ihrer Geschichte gewiss viel Problematisches hervorgebracht, vor allem, wo sie zur Ideologie einer Staatsmacht geworden sind. Sie nach dem Scheitern des europäischen Staatssozialismus einer historischen Kritik zu unterziehen, gibt es allen Anlass. Sowie aber das Unerledigte der marxschen Kapitalismuskritik von einer neuen Generation praktisch aufgenommen wird, entsteht neuer Marxismus. Seine Qualität hängt nicht nur von den sozialen Bewegungen ab, die ihn tragen, sondern auch von deren Intellektuellen sowie ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, kritisch in das geschichtliche Erbe einzutreten. Von dieser Bereitschaft kann nun bei Kurz nicht die Rede sein. Ihm geht es um die postmarxistische ‘Aufhebung’ von Marx. Das Ergebnis dieser Aufhebung zeigt aber, dass Postmarxismus keineswegs zurückstehen muss hinter der schlimmsten Marxismusvariante -- was nicht so sehr ins Gewicht fällt, solange er (zum Glück) nicht an der Macht ist.

Um Marx postmarxistisch verwertbar und für die Überwindung des potenziell „marxistischen“ Marx zurechtzumachen, enthistorisiert ihn Kurz und spaltet ihn in einen eigentlichen und einen uneigentlichen Marx. Beide Operationen entstammen dem ältesten Arsenal der Ideologie. Wo Ambivalenz herrscht, weil die Verhältnisse widersprüchlich sind, spaltet schon das Märchen die Hexe von der Mutter ab, wie das Patriarchat die Heilige von der Hure. Und zu allen Zeiten wurden die Autoritäten einer Ideologie in die Zeitlosigkeit eines Kanons versetzt. Kurz kombiniert beide Verfahren. Er tilgt die situative Gebundenheit, das Antworten auf bestimmte Probleme und den lebenslangen Lernprozess aus dem Universum marxscher Äußerungen. Das hat der ideologisierte Marxismus-Leninismus mit seinen Klassikern nicht anders gemacht. Kurz bewegt sich wie dieser am Gegenpol historisch-kritischen Umgangs mit den Texten. Ja, er überbietet ihn darin noch. Er verfährt nach dem Vorbild der Blütenlesen zum Gebrauch von Laien, die Laien bleiben sollen. Als wäre es ein homogenes und synchrones Werk montiert er Stücke aus von Marx unveröffentlicht gelassenen Jugendmanuskripten hinter Passagen aus dem veröffentlichten Werk, dem ersten Buch des Kapital. Da bekommt dann der geniale Twen unter Umständen das letzte Wort gegenüber dem im Britischen Museum ergrauten Forscher. Marx wird dadurch zu einem zweiten Buddha, von dem es ja heißt, er sei als Greis geboren und als Kind gestorben. Es muss nicht besonders betont werden, dass bei diesem Handwerk die Dienste der MEGA verschmäht werden. Der erste Band des Kapital wird nach MEW 23, also in der von Engels redigierten 4. Ausgabe zitiert, im Zweifelsfall mitsamt den sinnverdrehenden Druckfehlern, die sich inzwischen eingeschlichen hatten. Wie von den textkritischen Feinheiten verschont Kurz seine jugendlichen Adressaten auch von den Fußnoten, die den Doppelsinn von Kritik der politischen Ökonomie konkretisieren. Noch nicht einmal MEW-Band- und Seitennachweise für die aneinandergereihten Textausschnitte werden angegeben. Es ist, als sollte den Benutzern der Weg ins marxsche Werk abgeschnitten werden, um sie ganz der Kurz-Fassung auszuliefern.

Wenn es bei Brecht heißt, ‘die Widersprüche sind unsere Hoffnungen’, so macht Kurz diese Hoffnungen gründlich zunichte. Wo Marx die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus herausarbeitet, schlägt Kurz ihn auseinander in einen ‘radikal wertkritischen’, der die destruktiven, und einen unbewusst prokapitalistischen, der die produktiven Seiten des Kapitalismus ausspricht. Er macht ihn zu dem, was Marx vom kleinbürgerlichen Intellektuellen gesagt hat: zu einem ‘zusammengesetzten Widerspruch’. Noch in dieser Marxabspaltung bedient sich Kurz bei seinem Opfer. Marx unterscheidet bei Adam Smith zwei Arten, über den Kapitalismus zu sprechen, eine theoretische, die den Wirkungszusammenhang der Phänomene analysiert, und eine empiristische, die die Phänomene näher am Alltagsverstand beschreibt. Erstere nennt Marx esoterisch, letztere exoterisch. Die Ausdrücke entstammen der mysterienkultischen Sprache von Sekten, die Eingeweihte von Uneingeweihten unterscheiden. Diese Redeweise, der bei Marx eine Kritikstrategie und eine theoretische Dekonstruktion zugrundeliegt, überträgt Kurz auf diesen. Er verwandelt die marxsche Kapitalismuskritik in ein Geheimnis. Den ‘exoterischen’ Marx verwirft er als kapitalistischen Modernisierungstheoretiker, den ‘esoterischen’ ernennt er zum Vorfahren seiner selbst, des Urhebers der ‘radikalen Wertkritik’, und damit zum Heiligen der ‘Kollaps-Sekte’ (Negt). Man merkt den Schulungsleiter; einiges erinnert an die Rhetorik des Vertreters. Die Geschicklichkeit, mit der Kurz den Markt in Segmente spaltet, die er voneinander abschneidet, ist ein Unglück, wie es die Geschicklichkeit eines Warlords ist, der sich sein Gebiet herausschneidet. Sein Erfolg bestünde darin, eine geführte Masse großmäuliger Subalterner heranzuziehen, die von seinen Fertigurteilen zehren und dadurch vom differenzierteren, ebenso unabschließbaren wie vielstimmigen Diskussionszusammenhang sowohl praxisorientierter als auch wissenschaftlicher Theoriekultur, die weder Papst noch Pol Pot erträgt, ferngehalten werden.

3. Negation der Arbeit

Kein Begriff sperrt sich so sehr gegen die kurzsche Vereinnahmung wie der marxsche Arbeitsbegriff. ‘Als Bildnerin von Gebrauchswerten’ ist die Arbeit für Marx ‘eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.’ (MEW 23, 53) Kurz projiziert seine eigene Schwierigkeit vorsorglich auf seine Kritiker. Nicht er hat Schwierigkeit mit dem marxschen Arbeitsbegriff, sondern sie mit der kurzschen Kritik desselben. ‘Es mag sein’, sagt er, ‘dass für die letzten Mohikaner des Arbeitsmarxismus die radikale Negation der Arbeit die unerträglichste aller Neuinterpretationen der marxschen Theorie darstellt.’ (137) Sehen wir zu, was auf der Strecke bleibt, ‘wenn der vertraute größere Teil der marxschen Textmasse zu diesem Begriff rücksichtslos weggeschnitten wird, um jene negatorischen Passagen freizulegen, die auf einen ganz anderen Marx verweisen’ (137f). Die ‘Bedeutung der Arbeit für die Menschwerdung des Affen’ (Engels) wird ebenso mit Hohn abgebügelt wie die ‘attraktive Arbeit’ der Selbstverwirklichung, deren Verdeckung durch die ‘abstoßende Arbeit’ der Selbstentfremdung Marx Adam Smith vorgeworfen hat. ‘Unter der Hand’, behauptet Kurz geheimnisvoll, verwandle ‘sich die Arbeit in vielen marxschen Texten in etwas an sich Negatives’ (135). Gleiches und gleich Unsinniges könnte von den Maschinen gesagt werden, deren Funktion als Kapital Marx ja nicht weniger kritisch beleuchtet.

In der Umgangssprache wird Arbeit oft als Synonym für Lohnarbeit gebraucht, obwohl jedem bei ein wenig Überlegung sinnenklar ist, dass nicht alle Arbeit Lohnarbeit ist. Mit mehr Grund wird unter ‘Arbeiter’ spontan ‘Lohnarbeiter’ verstanden, weil die Reduktion eines Individuums aufs arbeitende Individuum spontan im Klassensinn verstanden wird. In den marxschen Jugendschriften wird ‘Arbeit’ ‘oft noch synonym mit entfremdete Arbeit gebraucht, fungiert demnach als uneigentlicher Formbegriff’ (Frigga Haug, HKWM 1, 404). „Aufhebung der Entfremdung“ erscheint beim jungen Marx daher gelegentlich als Abschaffung der Arbeit, wie die Emanzipation der Individuen von der lebenslangen Fesselung an eine arbeitsteilig ausgeübte Funktion als Aufhebung der Arbeitsteilung artikuliert wird. Im Zuge der Entwicklung der Wertformanalyse trennt Marx später analytisch zwischen Form- und Stoffseite. Dadurch vermag er ‘gleiche menschliche oder abstrakte Arbeit’ als Wertsubstanz und Regulator der Tauschgesellschaft von der konkret-nützlichen Seite der Arbeit zu unterscheiden.

Was macht Kurz daraus? Erstens privilegiert er (nicht als erster) den jungen Marx vor dem gestandenen Wissenschaftler. Zweitens wirft er den ‘abstrakten Charakter des Arbeitsbegriffs’ im Allgemeinen mit der abstrakten Arbeit als ‘Verausgabung menschlicher Energie’ (135) zusammen. Er merkt nicht, dass er auf eine Äquivokation hereinfällt, dass also die marxsche Rede von Arbeit als ‘von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen’ zwar eine Abstraktion im Sinne jeder Verallgemeinerung darstellt, dass aber ‘abstrakt’ hier etwas völlig anderes als im werttheoretischen Begriff ‘abstrakte Arbeit’ bedeutet. Obendrein verwechselt er auch noch ‘abstrakte Arbeit’ mit etwas empirisch Erfahrbarem, als wäre nicht jede Arbeit zunächst konkret im Sinne von etwas Bestimmtes schaffend, wobei sie als warenproduzierende Arbeit den Doppelcharakter hat, nach ihrer bloßen Verausgabungsseite als Wertquelle zu fungieren. Abstrakte Arbeit gibt es nicht als solche. Auch monoton-repetitive Arbeit am fordistischen Fließband, wie inhaltsleer sie einem vorkommen mochte, war noch immer zunächst konkret-nützliche Arbeit. Nicht so bei Kurz: ‘Es geht nur um das selbstzweckhafte Immergleiche, dass sich menschliche Energie in Geld verwandelt und dass aus Geld mehr Geld wird’ (136). Die konkret-nützliche Seite, ohne die Lohnarbeit auch für den Kapitalisten keinen Sinn hätte, lässt Kurz untern Tisch fallen. Ebendort verschwindet der analytische Schnitt, den Marx zwischen Herrschaftsfunktionen des Kapitals und von der kapitalistischen Form unabhängige Formen der Koordination legt.

Das ist Kritik für schwache Geister, wie Nietzsche sagen würde. Bliebe am Kritisierten ein gutes Haar, könnten die armen Schäflein durch so viel Widersprüchlichkeit verwirrt werden. Davor bewahrt sie der auf die Herde bedachte Hirte. Er regiert durch Widerspruchseliminierung. Nur so kann er auch über die Fetische der Phraseologie des Zeitgeistes regieren, als wäre das vielberedete ‘Ende der Arbeit’ die Wirklichkeit selbst. Da mutieren heute die Lohnarbeiter schlechthin ‘zu Unternehmern ihrer Arbeitskraft’ (138), und ‘das Leiden [...] am Infantilismus der meisten ihrer Produkte steht den „Computersklaven“ ins Gesicht geschrieben’ (139). Bei Kurzens Marx sollen sie nun alle ‘nicht nur etwas über die Sinnlosigkeit und Gemeingefährlichkeit ihres arbeitswütigen Tuns und Treibens erfahren, sondern auch über dessen definitives Ende’ (139f).

4. Botschaften vom ‘definitiven Ende’

Als ‘Botschaft von Marx’ wird zuletzt ausgegeben, jenes ‘definitive Ende’ herbeizuführen. Aus dem marxschen Zielbegriff der ‘Assoziation der Produzenten’ macht Kurz folglich die ‘Assoziation der Individuen’ (402). Sind die Produzenten Individuen, so die Individuen nicht notwendig Produzenten. Damit ist Marx postindustriell entkernt. Überhaupt tritt das Ziel, eine solidarische Gesellschaft zu verwirklichen, zurück hinter der abstrakt-totalen Negation, ‘schlicht mit dem verwirklichten Irrsinn der herrschenden Produktionsweise Schluss zu machen, die alle Produktivkräfte in Destruktivkräfte verwandelt hat’ (395). Dem ‘Totalitarismus des Marktes’ (394) wird eine negativ-totalitäre Eschatologie entgegengesetzt. Dass Marcuse gesagt hat, die Gesellschaft tendiere dazu, ‘eindimensional’ zu werden, reicht ohne Blick ins kontrastierende Gewimmel der Wirklichkeit, um die Behauptung darauf zu gründen, ‘dass wir in Wahrheit heute mitten in einer verwirklichten Negativutopie leben, denn nichts anderes ist der zum Weltsystem ausgewachsene Kapitalismus’ (394). Dabei könne die Orientierung der praktischen Veränderung ‘nicht mehr in das Ressort einer die Kritik begründenden Theorie fallen, sondern nur die Tat einer praktischen sozialen Aneignungs- und Aufhebungsbewegung sein’ (395). Für eine plurale Linke gibt es hier nur Verachtung. Kritische Theorie ‘kann nur als Begründung dafür dienen, dass sich die Individuen bewusst zu einer (!) negatorischen Organisation zusammenschließen, um die kapitalistische Antivernunft zu sprengen’ (395).

Kurz liefert den unkritischen Marx hinter der Fassade des Anspruchs, endlich die wirkliche Kritik zu präsentieren. Er ist der personifizierte Selbstwiderspruch, in der äußerlichsten Weise übers Innerste Bescheid geben zu wollen. Er bestärkt spontane Denkweisen, sagt ihnen, was sie gerne hören, statt sie zu bearbeiten. Auch denjenigen seiner Behauptungen, die weder originell noch falsch sind -- und solche gibt es viele --, geht es dabei wie dem Satz ‘zwei mal zwei ist vier’, wenn dieser damit bewiesen werden soll, das ‘zwei und drei sieben’ sei. Dann, so ruft Brecht dazwischen, ist auch zwei mal zwei nicht vier. Kurz gehört zu denen, deren Zustimmung zu einer These dieser gefährlicher werden kann als ihre Kritik.

Er verstärkt eine Gegenströmung im Zeitgeist, deren Negativismus verbirgt, wie sehr sie Geist vom bekämpften Geist der Gegenwart ist, sozusagen die eingeborene Radikalnegation, die wie ein Schatten die Herrschaft begleitet, um sie durch die Art ihres Angriffs in Wahrheit unangreifbar zu machen. Diese Position muss Geschichte zugleich verdrängen und ihre jeweiligen Resultate sanktionieren. Im Blick auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Tragödie des Sozialismus im 20. Jahrhundert verwandelt Kurz nachträglich Zufall in Notwendigkeit, das Kontingente erklärt er für ‘logisch-notwendig’, um der Tabula rasa, dem Schlussstrich unter allen Marxismus, den Anschein der Stringenz zu geben.

So reiht Kurz sich ein unter die Heiligen der letzten Tage, die in unserer verwirrten Zeit wieder einmal Morgenluft wittern. Unter der Apokalypse tun sie es nicht. Die konkrete Arbeit des Begriffs ist für sie so undenkbar wie der Begriff der konkreten Arbeit und der mühsame Weg gesellschaftlicher Reformen, geschweige denn einer ‘revolutionären Realpolitik’ oder eines ‘revolutionären Reformismus’ im Sinne Rosa Luxemburgs.

Jedes Kind weiß, notierte Marx, dass eine Nation, die zu arbeiten aufhörte, verrecken würde. Und eine Gesellschaft findet ihren Frieden mit sich und der natürlichen Umwelt nicht, solange sie nicht gelernt hat, ‘sich um die Sonne der Arbeit zu drehen’. Blödsinn! wendet Kurz ein. ‘Hört endlich mit der Arbeit auf!’ Nach Achille Loria, einem der frühen Marx-Töter, dem Engels im Vorwort zum dritten Band des Kapitals ein Denkmal gesetzt hat, verstand Antonio Gramsci unter Lorianismus die intellektuelle Produktionsweise höheren Blödsinns. Robert Kurz ist eines der Pseudonyme der heutigen Loria.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel ist eine Spiegelung von http://www.linksnet.de/artikel.php?id=566