Jüdische Einwanderung in die Vereinigten Staaten
Berufliche Eingliederung und wirtschaftliche Leistung der deutsch-jüdischen Einwanderung in die Vereinigten Staaten (1935 - 1960)


von Edith und Julius Hirsch (New York)

04/03
 
 
trend
onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Das Erleben unserer Immigration wird vermutlich noch lange das Erstaunen künftiger Betrachter erwecken.

Die deutschen Juden, ein wertvoller Bestandteil deutscher Wirtschaft und deutscher Geistesarbeit, eine fleißige Mittelstandsgruppe, wurden, nach einem ungewöhnlich erfolgreichen Aufbau seit ihrer Emanzipation, einer Blütezeit von 1810 bis 1930, fast plötzlich ins Elend gestürzt.

Mit denen von ihnen aber, die nach Amerika kommen konnten, geschah etwas Außerordentliches.

Etwa 200 - 250 000 Menschen, durchschnittlich mit höherem Lebensalter als andere Einwanderergruppen es aufweisen, gewannen in wenig mehr als zwanzig Jahren eine neue Existenz; ein recht bedeutender Teil gelangte wieder zu Wohlstand; ihre Kinder erhielten die Chance freien Aufstiegs. Diese Einwanderungsgruppen brachten durch ihre wertvollsten Persönlichkeiten geistige und künstlerische Höchstleistungen hervor, deren Wirkungen teilweise weit in die Zukunft reichen, und die das Einwanderungsland nicht nur neidlos, sondern dankbar anerkennt.

Die Einwanderung nach USA, begann langsam, die Übersiedlung in mehr vertraute europäische Länder war noch möglich. Zudem war die USA seit 1930 in der schwersten wirtschaftlichen Krise, ihre Arbeitslosenzahl betrug noch 1939 neun Millionen.

Zuerst kamen die, die persönliche Beziehungen hierher hatten, Professoren mit Berufungen, Künstler und Geschäftsleute, die schon vorher Verbindungen hier hatten, Familien besonders aus Süddeutschland, die hier Verwandte vorfanden. Als schließlich die Verhältnisse in Deutschland immer unerträglicher wurden und dann der Krieg in Europa ausbrach, wuchs die Einwanderung. Viele, die nach 1938 ankamen, kamen von Zwischenwanderungs-Ländern. Eine große Zahl langte mit recht wenig Geld an, und viele waren völlig mittellos. 

Offizielle und inoffizielle Einwanderungs-Statistik

Aus den keineswegs übereinstimmenden Statistiken können wir wohl für die "erste große Welle" der Einwanderung, von 1933 bis 1944 mit ungefähr 100 - 150 000 jüdischen "Refugees" aus Deutschland und Österreich rechnen. Eine zweite Welle kam nach dem Zweiten Weltkrieg und Anfang der fünfziger Jahre, als die Refugee-Kolonien in Shanghai und anderen Zwischenwanderungsländern sich auflösen konnten oder mußten. Bis 1955 mag die Gesamtzahl auf oder über 200 000 gewachsen sein, wovon etwa 140 000 aus Deutschland stammten (Zu vergl. H.G. Reissner in "Dispersion und Resettlement", London 1955, p. 13. Dieselbe Zahl wird auch für 1959 bestätigt vom "American Council of Judaism", October 3, 1960).

Die neue Einwanderung unterschied sich in ganz wesentlichen Punkten von den früheren. Wenn vorher die gekommen waren, die in der alten Heimat keinen Boden gefunden hatten oder denen eine berufliche Ausbildung nach ihrer eigenen Wahl verwehrt worden war, also hauptsächlich ungelernte Arbeiter, so kamen jetzt Menschen mit guter Schulung und Berufsausbildung, von denen viele erfolgreich, oft sogar besonders erfolgreich gewesen waren, und die ohne die Verfolgung die ihnen liebgewordene Tätigkeit nicht aufgegeben hätten. Während in früheren Einwanderungen alleinstehende junge Männer das größte Kontingent gewesen waren, kam jetzt Familieneinwanderung. Die Frauen waren sogar ein wenig in der Mehrheit. Weiter war die Alterslage ganz ungewöhnlich hoch. Im Jahre 1945, also kurz nach dem Haupteinstrom (1938 - 1941) war die Gruppe der Erwachsenen unter unseren Einwandern wie folgt zusammengesetzt:

Jahre alt Prozent
16 - 30 16.2
31 - 40 20.3
41 - 50 27.0
51 - 60 21.5
61 und mehr 15.0
Summe 100

Die hiesigen privaten Erhebungen und Beobachtungen stimmen mit den deutschen Statistiken dahin überein, daß die Neuankömmlinge weitgehend finanziell und kulturell zu den mittleren und höher situierten Schichten gehört hatten, und daß sie eine ungewöhnlich gute formale und berufliche Ausbildung mitbrachten.

Besonders ungewöhnlich aber war die Berufsschichtung: Über die Hälfte aller Berufstätigen in Deutschland waren 1933 selbständige oder mithelfende Familienangehörige gewesen. Zwei Fünftel hatten sich in irgendeiner Form im Handel und Verkehr betätigt und eine große Anzahl in den freien Berufen. Entsprechend war die Zahl der Handarbeiter überhaupt, aber besonders der ungelernten Arbeiter und der in der Landwirtschaft Tätigen und Hausangestellten sehr klein. Es war eine "white collar" und städtische Einwanderung mit spezialisierten Fachkenntnissen. 

War die Refugee-Einwanderung ein Erfolg für diejenigen, die kamen? War sie vor allem auch ein wirtschaftlicher und kultureller Gewinn für das große Land, das sie so freundlich aufnahm?

Wir können beide Fragen aus vollster Überzeugung bejahen.

Von den Einwanderern aus gesehen:

Obschon die Mehrzahl sprechen muß, wie einst unser Stammvater Jacob: "Arm war ich als ich über den Jordan (hier den Atlantik) zog", so haben doch praktisch alle, die überhaupt arbeitsfähig waren, hier ihr Auskommen gefunden. Gewiß, es geht der Gesamtheit nicht so gut, wie in der alten Heimat, aber die wirtschaftliche Lage dieser Gemeinschaft von vielleicht 80 - 90 000 Erwerbstätigen ist erstaunlich gut und zeigt einen sehr deutlichen, stetigen "Zug" nach oben. Besonders eindeutig ist das bei der relativ großen Gruppe der Akademiker und der freien Berufe. Es ist ähnlich in großen Teilen des eigentlichen Wirtschaftsektors, in dem der Anfang für viele ungemein schwer war.

Von dem Einwanderungsland aus gesehen:

Wie hoch man den wirtschaftlichen Wertzuwachs einschätzen mag, weit bedeutsamer und weit in die Zukunft reichend erscheint der geistig-kulturelle Gewinn. Das ist das Gastgeschenk unserer Emigration. Es in seiner Fülle hier darzustellen, ist unmöglich; wir können nur andeuten.

An erster Stelle steht der Beitrag zur Umwandlung und Neugestaltung unserer Kenntnis der Struktur unserer Welt. Amerika betrachtet Albert Einstein als seinen vielleicht größten wissenschaftlichen Geist. Außer ihm aber kamen viele andere Mathematiker, Physiker, Chemiker und Biologen, deren Bedeutung nicht durch den einen Einstein verkleinert werden soll. Schon begegnen uns unter den jungen Wissenschaftlern Namen, die uns auf demselben Feld von Deutschland her vertraut sind; die Kinder setzen aus Neigung die Tradition fort.

Der Beitrag zur Psychologie ist mannigfach, und hier muß insbesondere auf die "Gestalt-Psychologie" hingewiesen werden. Mit Recht oder mit Unrecht weiß die Allgemeinheit am meisten von den Arbeiten der Schüler und Antagonisten Siegmund Freuds.

Die Bedeutung der Nationalökonomen sehen wir stärker als im rein Theoretischen in der Einführung neuer Systeme volkswirtschaftlicher Messungen praktischer Natur.

Die Befruchtung der Architektur dieses Landes durch eingewanderte Architekten, die Bedeutung ihres Schülerkreises ist weit sichtbar in unserem Städtebild.

Über ihre Verbindungen mit den Universitäten und durch Veröffentlichung ist der Anteil unserer Geistesarbeiter an den literarischen, sprachwissenschaftlichen, anthropologischen und kunstwissenschaftlichen Ideenentwicklungen stetig gewachsen.

In der kulturellen Sphäre war aber vielleicht am weitgehendsten der Anteil, den die Einwanderung an der Neugestaltung des Musiklebens hatte, die sich in den letzten zwanzig Jahren vollzogen hat. Wir denken an die Schaffung von Symphonieorchestern in größeren und mittleren Städten; an das neuerweckte Interesse für Kammermusik und die Bildung von Kammermusikgruppen; an das junge Fach der Musikwissenschaft.

Mit einem Hinweis auf die vielfältige Teilnahme deutsch- jüdischer Künstler aller Art an der Filmindustrie wollen wir diese ganz unvollkommene Zusammenstellung schließen.

Trotz der überragenden Bedeutung, die wir der geistig-kulturellen Distribution zuteilen, unterschätzen wir nicht den wirtschaftlichen Beitrag, den wir mit den Fähigkeiten unserer Besten und mit dem großen Arbeitswillen der Gesamtheit unserem Einwanderungslande brachten. Viele neue Arbeitsplätze, viel zusätzlicher Export und damit neue Produktionsmöglichkeiten sind durch die Refugees geschaffen worden. Eine unabhängige internationale Organisation wie die "UNESCO" (Unterorganisation der UN) bescheinigt uns, daß die Refugees nicht nur eine große Anzahl Patente und anderer Neuerungen, sondern ein größeres Maß von hier kaum oder gar nicht vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten mitgebracht haben. 

Die berufliche Schichtung

Ein allererster Versuch, die Berufsschichtung zahlenmäßig zu erfassen, ergibt etwa die folgenden Größenordnungen für die ca. 90 000 Erwerbstätigen der deutsch-jüdischen Einwanderung:

In Freien Berufen, Wissenschaftler, Künstler, Intellektuelle aller Sparten ca. 30 000
Im eigentlichen Wirtschaftssektor, Selbständige und Halbselbständige, (Vertreter, Kommissionäre) leitende Angestellte 18 - 20 000
Angestellte, Arbeiter 40 000
Landwirtschaft 1.500

Summe

ca. 90 000

 Geistige Berufe

Unter diese Gruppe rechnen wir alle Akademiker und Geistesarbeiter, deren Tätigkeit nicht den Einsatz von Kapital in erheblicher Weise erfordert. Also alle Professoren, Lehrer und an wissenschaftlichen Instituten Beschäftigte; Ärzte, Anwälte, Accountants, Ingenieure und Naturwissenschaftler, Journalisten, schaffende und ausübende Künstler.

Die akademischen Lehrer hatten es ursprünglich keineswegs leicht, Zugang zu den Universitäten zu finden. Infolge Wirtschaftskrise und später der Einziehungen der Kriegsjahre war der Bedarf nach akademischen Lehrern klein. Die Einkommen, wenn ein Platz gefunden werden konnte, waren niedrig. Die Situation hat sich gewandelt mit dem ungeheuren Zustrom von Studierenden zu allen höheren Lehranstalten, der gleich nach Kriegsende einsetzte. Jetzt sind frühere deutsche Professoren und Oberlehrer im ganzen Lande an Colleges und Universitäten tätig, Ihre Zahl wird dauernd verstärkt durch die junge Generation, die in weit höherem Maße als die Hiergeborenen sich der akademischen Laufbahn widmet - ein Überrest vielleicht der hohen sozialen Bewertung der Universitätskarriere und der reinen Wissenschaft, die ihre Eltern mitbrachten. Unterdessen hat sich die wirtschaftliche Lage der akademischen Lehrer verbessert, durch höhere Gehälter, zusätzliche "Forschungsaufgaben" und durch Schaffung von Pensionskassen.

Dagegen finden wir nur wenige Refugees als Lehrer in den Elementary und High Schools. Von der jungen Generation sind im wesentlichen nur die Mädchen daran interessiert, und auch sie nur in begrenztem Maße.

Für Rabbiner war der Weg relativ frei. Hier war zunächst ein Mangelberuf. Nachwuchs wurde um so mehr gebraucht, als in den letzten zwanzig Jahren sich eine große Zahl neuer Gemeinden, zumal in den Vorstädten, gebildet hatte.

Daß es der Mehrzahl der Ärzte, die hier einwanderten, nach zum Teil schwieriger Vorbereitungszeit gut geht, ist ohne Zweifel. Maurice E. Davie in seinem Buch "Refugees in America" bezeichnet schon 1947 ihren Erfolg als "phänomenal". Es scheint, daß bis jetzt etwa 6 400 Refugee-Ärzte und Ärztinnen aus allen europäischen Ländern die Praxis hier aufgenommen haben, was etwa 4% aller zugelassenen Ärzte entspricht. Schon im Jahre 1953 gaben amtliche Zusammenstellungen ihr durchschnittliches Jahreseinkommen mit $ 15,000 und damit als das höchste aller Berufe an, für die solche Durchschnittszahlen damals veröffentlicht wurden.

Die Juristen hatten unter den Akademikern vielleicht den schwersten Weg; ihre Kenntnisse waren hier unverwertbar. Für die Älteren, die in absehbarer Zeit für ihre Familie sorgen mußten, war es schon rein finanziell einfach nicht möglich, ein jahrelanges Studium auf sich zu nehmen. Von mindestens 2 000 eingewanderten Juristen scheinen es kaum 15% zur Wiederaufnahme der Anwaltstätigkeit gebracht zu haben. Die anderen sattelten um.

Für diejenigen, die in Deutschland Betriebswirtschaftslehre studiert hatten oder Wirtschaftsprüfer gewesen waren, war der Weg zum "Accountant" gegeben, um so mehr als gerade dieser Beruf in dauernder starker Ausweitung ist. Der Schattierungen sind viele, vom Certified Public Accountant, der nach vielen Jahren Studium und schlecht bezahlter Lehrzeit seinen eigenen Betrieb mit vielen Angestellten hat, bis zum bescheidenen Steuerberater. Die Nationalökonomen dagegen finden wir weit stärker in Regierungsämtern, an Universitäten und Instituten und als Wirtschaftsberater.

Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschaftler und Chemiker fanden den Weg frei, sobald die Wirtschaft aus der Depression herauskam. Es sind diese Berufe, zu denen gerade unsere junge Generation drängt. War es vor fünfzig Jahren das medizinische und juristische Studium, das lockte, vor fünfundzwanzig Jahren das nationalökonomische, so ist es jetzt das naturwissenschaftlich-technische. Nur ist das Ziel, jedenfalls zunächst, nicht die selbständige Existenz. 

Der eigentliche Wirtschaftssektor

Bei aller Bedeutung der Freien Berufe, am wichtigsten für die Einwanderung, schon der Zahl nach, bleibt doch, was aus vielleicht 60 000 Refugees geworden ist, die wir in dem eigentlichen Wirtschaftssektor finden, sei es als Selbständige oder als Angestellte und Arbeiter. Fast alle brachten Kenntnisse mit, aber sehr oft nicht unmittelbar verwertbare, nicht unbedingt technische Fachkenntnisse. Um eigene Unternehmen aufzubauen, fehlte es zunächst an allem - von der Kenntnis des Marktes, selbst der Sprache, bis zum Kapital. Und doch hat sich heute nach zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren ein respektabler neuer Wohlstand gebildet, sind viele neue, beachtliche Betriebe entstanden.

So groß der Wunsch, sich wieder einen selbständigen Betrieb aufzubauen, gewesen sein mag, nicht jede Neugründung war völlig freiwillig. Bei der relativ hohen Alterslage der Einwanderung war es für viele einfach der einzige Weg, zu Beschäftigung und Einkommen zu kommen, oder die beste Möglichkeit, die Arbeitskraft der gesamten Familie zu verwerten. 

Die jüngeren Einwanderer in der Wirtschaft

Die sogenannten Selbständigen blieben aber doch der kleinere Teil. Die jüngeren unter den Neuankömmlingen konnten leichter Stellung finden; besonders aber für die Jugend, die hier noch einen Teil ihrer Schul- oder College-Ausbildung erhielt, waren die Arbeitsmöglichkeiten bald dieselben wie für ihre hier geborenen Altersgenossen. Anstellung möglichst in einer größeren Firma wurde das Ziel.

Man kann nicht stark genug unterstreichen, von welcher entscheidenden Bedeutung für das wirtschaftliche Emporkommen unserer Gruppe es war, daß jeder, dem es irgendwie möglich war, wenigstens den Söhnen eine College-Erziehung gab, wenn nicht anders, dann im Abendstudium. Dies hat den Aufstieg der jungen Generation zur Folge gehabt, auch da, wo es den Eltern nicht möglich war, sich durchzusetzen. Darüber hinaus nehmen wir an, daß es wohl keine Gruppe gibt, in der der Prozentsatz derer mit Master‘s Degree und Ph.D. so groß ist, wie gerade bei unserer jungen Generation; ein wichtiger Punkt in einem Land, wo Examina so viel bedeuten.

Großhandel, einschließlich Export und Import

Export- und Importhandel lagen vor dem Jahre 1940 hier kläglich danieder. Amerikas Export betrug im Jahre 1940 etwa $4 Milliarden, im Jahre 1957 ungefähr $21 Milliarden. Selbständige Exporteur-Firmen gab es im Jahre 1939 nur 586; sie beschäftigten etwa 9 400 Angestellte aller Art. 1954 waren es schon 2 361 Firmen mit etwa 26 000 Angestellten. Bei dem weitgehenden Mangel an Kenntnissen des amerikanischen Kaufmannes (und erst recht des Angestellten) auf diesem Gebiet, das infolge von Währungsschwierigkeiten so ungemein kompliziert geworden war, kann man annehmen, daß die Mehrzahl der neu hinzugekommenen Betriebe von Refugees gegründet, auch daß ein beträchtlicher Prozentsatz der über 16 000 neu hinzugekommenen Angestellten Refugees sind.

Der Großhandel im Inlande ("Wholesaler"; "Jobber") ist zwar von einigen Sachverständigen seit Jahrzehnten als "niedergehend" gemeldet worden. Glücklicherweise, zumal auch für unsere Refugees, von denen sehr viele im Großhandel mit Lebensmitteln, Textilien, Leder, Metallen (Schrott)‚ und im Handel mit landwirtschaftlichen Produkten reiche Erfahrung gesammelt hatten, ist das genaue Gegenteil richtig. Zwischen 1939 und 1958 hat sich die Zahl dieser Betriebe um fast 90 000 vermehrt, ihr Umsatz ist wirklich "phänomenal" gestiegen, nämlich auf beinahe das Sechsfache in Dollars, also um etwa das zwei- und einhalbfache, wenn man die Geldentwertung berücksichtigt. Das gab Tausenden von Refugees die Möglichkeit sehr nützlicher, auch gut bezahlter Tätigkeit. Viele von ihnen wurden Kommissionäre, Agenten, dann Selbständige und Mitglieder der verschiedenen Produktenbörsen, Erfreulich ist auch der starke Anstieg der Gehälter.

Wie erging es den Einwanderern im Einzelhandel?

Der "Laden" war für einen großen Teil aller europäischen Juden das natürliche Arbeitsgebiet gewesen. Warum sollten sie nicht ihre Hoffnungen auch hier darauf bauen, zumal da es zur Zeit ihrer Einwanderung trotz aller großen Waren- und Versandhäuser noch 1 ½ Millionen Detailhandelsfirmen mit insgesamt über 8 Millionen Angestellten gab? Tatsächlich aber befindet sich diese alte jüdische Domäne zum mindesten seit Kriegsende in einer entscheidenden Wandlung. Im Gegensatz zu anderen Branchen verlangsamte sich die Vermehrung der Firmen, seit 1953 hörte sie ganz auf. Besonders im Lebensmittelhandel, dem größten Feld, ging der Zug zum Großbetrieb, dem "Supermarket", der eine große Kapitalinvestierung verlangt und kleinere Läden verdrängte. Bei Bekleidung und Schuhen, in den "Drugstores", drangen die Kettenläden immer mehr vor.

Trotzdem sind eine Anzahl Einzelhandelsgeschäfte von unseren Einwanderern aufgemacht oder übernommen worden, vielfach mit ausgesprochenem Erfolg. Der Nachdruck liegt auf dem Spezialgeschäft. Vom eleganten Laden auf New Yorks Fifth Avenue und ihren Nebenstraßen zum bescheidenen Delikatessenladen; vom Etagengeschäft, dessen Kundschaft begrenzt ist, aber besonderen Kundendienst bietet, über Radio-, Television- oder Airconditioner-Läden, die auch Reparaturen und Installationen ausführen, bis zum "Self-Service-Store", ist alles vertreten. Es ist eine Freude zu sehen, wie gut sich oft ursprünglich winzige Geschäfte abseits der großen Geschäftsstraßen auf lokaler Basis entwickelt haben. Mißerfolge sind allerdings auch nicht ausgeblieben, auch da, wo wirkliche Sachkenntnis und etwas Kapital vorhanden war.

Einwanderer in der Industrie

Der Anteil, den unsere Einwanderung jetzt, nach zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren an industriellen Unternehmungen, kleinerer, mittlerer und größerer Art hat, ist vielfältig, aber unmöglich der Größenordnung nach zu bestimmen. Es ist keineswegs nur bei den Betrieben geblieben, die bald nach der Ankunft unter großen Mühen aufgebaut wurden. Die Möglichkeiten, sich an aussichtsreichen, zumal noch im Aufbau begriffenen Unternehmungen zu beteiligen, wuchs besonders nach dem Kriege.

Die Zahl der mittleren Industrien, die gerade in den letzten zwanzig Jahren emporwuchsen, und bei denen Beteiligungen sich als möglich erwiesen, wird oft unterschätzt, weil man nur die Riesenunternehmungen sieht. So hat z.B. die Elektroindustrie, die oft mit ganz kleinen Betrieben begann, unserer jüngeren Generation sehr interessante Möglichkeiten eröffnet.

Für die Beschäftigung einer großen Zahl von älteren Refugee-Arbeitnehmern bleiben aber doch die altgewohnten Branchen von der größten Bedeutung, am meisten vielleicht die BekIeidungs- und Modeindustrie. Nicht vergessen seien hier auch einige sehr erfolgreiche "Designers" ‚ die sich selbständig machen konnten, sowie die Pelzverarbeitung und -konfektion, die zum Teil die Tätigkeit hier unter ihren alten, bekannten Namen mit großem Erfolg fortgesetzt hat.

Der Modeindustrie verwandt ist die Produktion von Handtaschen und kleinen Ledererzeugnissen, für die sich besonders Offenbacher und Wiener Industrielle interessierten. Und das bringt uns zu all dem, was man vielleicht am besten unter "Novelties" zusammenfassen kann, der Produktion von Waren mit relativ niedrigem Einheitspreis, die immer neu und anziehend sein müssen. Hier war ein weites Feld für Ideen und Initiative auch bei nur bescheidener Kapitalinvestierung.

In der Schuhindustrie brachten einige der Einwanderer besondere Kenntnisse mit; hier sind große Betriebe geschaffen worden. Als anderes Beispiel für einen Großbetrieb nennen wir die Ausweitung von Brauereianlagen.

Banken, "Brokers" und ihre Helfer

Außer Inhabern oder Leitern größerer Finanzkonzerne kam eine Anzahl Privatbankiers und Börsenhändler hierher, die sich auf alte Verbindungen stützen konnten. Einige sind in gewissen Teilen des Bank- und zumal des Brokerwesens bedeutsam geworden. Neugründungen von Banken durch Refugees scheinen allerdings nicht vorgenommen worden zu sein. Einige von ihnen haben durch Ankauf wesentlicher Beteiligungen zu kleineren und mittleren Versicherungsgesellschaften Erfolge erzielt. Andere haben "finance companies" begründet, d.h. Firmen die Export- und Importgeschäfte finanzieren, sowie kurz- und mittelfristige Diskontierungen und Rediskontierungen vornehmen.

Als nach Ende des Krieges die Börsenumsätze stark stiegen und der Bedarf für "customers‘ men", auch "account executives" genannt (zu übersetzen als: "Kundenwerber und -betreuer") sich stark ausweitete, war die Gelegenheit für alle gegeben, die früher mit Bank oder Börse zu tun und einen weiten Bekanntenkreis hatten.

Landwirtschaft

Ältere Organisationen, besonders die "Jewish Agricultural Society", eine Gründung des Baron de Hirsch-Fund, hatten schon lange angestrebt, die Beteiligung von Juden an der amerikanischen Landwirtschaft zu erhöhen; vor dem Jahre 1933 waren etwa 20 000 jüdische Familien in der Landwirtschaft tätig. Bis zum Jahre 1944 waren zu diesen 456 Refugee-Familien dazugekommen.

Eine ganze Anzahl von diesen wurde Hühner-Farmer oder, genauer gesagt, Eierproduzenten. Eine Kolonie von solchen Familien siedelte sich z.B. in Vineland, N.J., an. Der Kapitalaufwand war klein, Anleihen, die übrigens bald zurückbezahlt wurden, waren durch die eben genannte Gesellschaft erhältlich. Zudem konnte mit relativ geringen Lebenshaltungskosten gerechnet werden. In den ersten Jahren ging auch alles gut. Im letzten Jahrzehnt aber verschlechterten sich die Verhältnisse. Die Eierpreise unterlagen nicht nur großen Preisschwankungen, sondern die Tendenz war niedergehend, während die Kosten nicht entsprechend fielen. In manchen Jahren verschwanden die Gewinne ganz. Glücklicherweise stieg aber wenigstens der Wert des Grundbesitzes. Eine ganze Anzahl der Betriebsinhaber hat aufgegeben oder ist dabei, es zu tun.

Weit besser sieht es mit den "Dairy Farmen" aus, die z.B. im mittleren Hudsontal und in den Catskills jüdischen Einwanderern gehören. Zum Teil vertraut mit Landwirtschaft und Viehhandel, pachteten sie zunächst Farmen und betrieben Viehhandel nebenbei. Im Sommer kam dazu ein bescheidener Pensionsbetrieb. Der Krieg mit seiner Fleischknappheit half ihnen auf manche Weise. Diese Farmen sind jetzt vollständig mechanisiert, und es scheint ihnen im ganzen gut zu gehen. Aus den ursprünglichen Pachtungen ist Eigentum geworden, und weitere Farmen sind von den ursprünglichen Pächtern dazugekauft worden. Hier sind die Söhne in dem Betrieb geblieben und haben ihn zum Teil übernommen.

Refugees als Angestellte und Arbeiter

Bei aller günstigen Entwicklung für viele jüdische Intellektuelle und Unternehmer aller Art rechnen wir damit, daß heute von ca. 90 000 Erwerbstätigen in unserer Gruppe vielleicht ein Drittel bis zwei Fünftel Arbeitnehmer im eigentlichen Sinne sind. Die große Mehrzahl bevorzugt, was man hier "white collar"-Arbeiter nennt. Aber ein größerer Teil ist in "blue-collar"-Arbeit als einst in Deutschland.

Soweit Refugees in Branchen arbeiten, die einen besonderen Auftrieb haben, kann man annehmen, daß ihr Einkommen den allgemeinen Lohndurchschnitt wesentlich überschreitet.

Leider ist in zwei großen Wirtschaftszweigen, in denen zumal ein größerer Teil unserer älteren, auch weiblichen Angestellten arbeitet, der Aufschwung nicht so günstig wie in den meisten anderen; das ist der Einzelhandel und die Konfektion.

Im Durchschnitt ist das Einkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger zwischen 1940 und 1959 um das Dreieinhalbfache, das Realeinkommen unter Berücksichtigung der Entwertung der Kaufkraft um etwa 75% gestiegen.

Was liegt im Schoße der Zukunft?

Manche früheren Einwanderergruppen haben die ursprüngliche Sprache und Lebensweise sehr lange bewahrt. Das ist von unserer Gruppe wohl nicht zu erwarten. Gewiß schätzen viele Familien das Kulturgut, das sie aus der alten Heimat mitbrachten, sehr hoch. Auch unsere in deutscher Sprache erscheinende Presse, vor allem der "Aufbau", leisten große und wertvolle Arbeit. Auf unsere junge Generation jedoch, auf die schließlich dies ankommt, haben Schule, Kriegsdienst und Beruf eingewirkt, vielleicht noch tiefer als die früheren Erlebnisse der Hitler-Verfolgung selbst. Was lebendig bleiben dürfte, ist die dankbare Erinnerung an die Umstände und die wohlwollenden Menschen, sowohl Juden wie zahlreiche Christen, die wirksam und gütig unserem Dasein und unseren Bemühungen eine Grundlage und unserer Gruppe ein neues weites Feld für praktische Arbeit und geistige Betätigung eröffnet haben.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz erschien erstmalig in "Council Correspondence" No. 5 (Frühjahr 1961), S. 11 - 21 und ist eine Spiegelung von 
http://home.t-online.de/home/RIJONUE/emigrant.htm