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"Ferner Osten - Naher Westen"


von der
Gruppe Abendrot; Hamburg

04/03
 
 
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 Die Solidarität der Linken mit Israel kann sich nicht von den Sympathien der USA und der BILD-Zeitung vereinnahmen lassen, die nicht Israel gelten, sondern eigenen, der Linken gegenüber feindlichen Interessen. Die Solidarität der Linken schließt auch einen Mann wie Moshe Dajan ein, wenn er ermordet werden soll, nicht aber seinen Rechtsradikalismus, seine Eroberungspolitik; so wie sie selbstverständlich mit dem arabischen Nationalismus sympathisiert, nicht aber mit Nassers Kommunistenverfolgung. Die Frage nach vernünftigen, stabilen, politischen Lösungen droht gegenwärtig von pro- und anti-israelischem? Freund-Feind-Denken erdrückt zu werden, dem auch die Linke erliegt, wo sie sich zwischen sowjetischer und israelischer Politik entscheiden zu müssen glaubt und davon doch nur auseinanderdividiert wird. Wir unterdrücken die Frage nicht: Was will Israel - leben oder siegen? Als Subjekt seiner eigenen Geschichte muß es diese Frage selber beantworten.

Ulrike Meinhof 1967

Ersetzen wir Moshe Dajan durch Ariel Scharon, fragen uns, was aus dem arabischen Nationalismus geworden ist und streichen die sowjetische Politik, haben wir eine 35 Jahre alte Zustandsbeschreibung zum Thema Die Linke und Israel, die an der politischen Entwicklungsfähigkeit der Linken zweifeln lässt. Dass die Aktualität des Zitats letztlich nicht ihrem subjektiven Unvermögen geschuldet ist, sondern auf die Notwendigkeit von objektiver Veränderung statt Interpretation (Marx: the point however is to change it) verweist, ist ein Umstand, der auch vielen anderen Diskussionen einen leicht abgeschmackten Charakter verleiht. An der Stellung der Linken zum Israel-Palästina Konflikt hängt sich emotional wie politisch weitaus mehr auf als an anderen Fragen, weil er historisch direkt auf die Shoa verweist, an der Grenze von erster und dritter Welt verläuft und aktuell unzählige Menschen das Leben kostet. Ob es ein erneuter Irak-Krieg, eine weitere Eskalation vor Ort oder eine weitere antisemitische Manifestation in Deutschland oder Europa sein wird: Die radikale Linke kommt an dem Konflikt und der Frage, was das Ganze für die Kategorien linker Kritik bedeutet, nicht vorbei.

Als Versuch einer differenzierteren Betrachtung dieser Gemengelage stieß der im August 2002 aufgetauchte Beitrag Naher Osten - Ferner Westen [1] eines autonomen Zusammenhangs aus Hamburg bei uns zunächst auf ein positives Echo. Wir teilen die Unzufriedenheit der Gruppe über die innerlinke Auseinandersetzung zum Nahostkonflikt und die Stoßrichtung, aus den identitären Frontlinien von pro-israelisch und pro-palästinensisch auszubrechen (NO/FW, 1). Wie schwierig das zur Zeit ist, demonstrierte eine in der Interim (Nr.557) erschienene Antwort auf den Beitrag, die mit der ebenso knackigen wie das Bemühen der Gruppe verfehlenden Überschrift Wer für die Intifada ist, ist gegen Israel versehen war. Es scheint, als ob die Linke aus der Not, es mit einem Konflikt zu tun zu haben, der eigentlich nur Anlass zur Resignation bietet, die Tugend macht, sich endlich wieder mit einer Partei in einem existentiellen Kampf identifizieren zu können - Statthalter für den in der Tat existentiell notwendigen revolutionären Kampf, den momentan niemand zu führen vermag.

So sehr wir das Bemühen der autonomen Gruppe teilen, so wenig sind wir mit den konkreten Ausführungen einverstanden, um deren Kritik es im Folgenden gehen soll. Was die FahnenträgerInnen beider Seiten - d.h. der bedingungslos sich als pro-Palästina bzw. pro-Israel gerierenden bundesdeutschen Linken - ignorieren, wird von den AutorInnen des Beitrags versucht, zusammenzubringen: Den Widerspruch zwischen der aus der Shoa und dem gegenwärtigen Antisemitismus entsprungenen Notwendigkeit eines Staates Israels einerseits - und der daraus folgenden Solidarität - und die Kritik der konkreten Besatzungs- und Besiedlungspolitik dieses Staates andererseits. Am deutlichsten tritt dieser Widerspruch beim Thema Zionismus zu Tage, weil der Zionismus als die nationale Ideologie des Staates Israels ebenso für dessen Existenz steht - ohne Zionismus kein Staat Israel - wie sich mit ihm die Besatzungs- und vor allem die Siedlungspolitik legitimiert. Statt sich jedoch diesen Widerspruch bewusst zu machen, greift der Text beide Aspekte unvermittelt auf, so dass streckenweise der Eindruck entsteht, mal hätte Person A, zuständig für Kritik des Zionismus als kolonialistischem Projekt, israelischer Besatzungspolitik etc., einen Absatz schreiben dürfen, und mal Person B, zuständig für die Bedeutung des Staates Israels vor dem Hintergrund des europäischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der Shoa und des aktuellen Antisemitismus - wobei letzterer im Text wenig Beachtung findet. Eine derartige Bewusstlosigkeit erschwert aber nicht nur die Diskussion, sondern macht es auch jenen antideutschen Fraktionen zu einfach, die die Texte zum Thema nur noch nach pro und contra Israel klassifizieren können, da sie lediglich die Absätze von Person A zusammenzufügen brauchen, um den Text einmal mehr als Manifestation des deutschen Antisemitismus zu sehen. 

Begriff des Antisemitismus 

Mit einer Kritik an eben jenen mit dem Etikett antideutsch versehenen Linken beginnt auch der Text Naher Osten - Ferner Westen. Ihnen wird eine paternalistische Haltung gegenüber der israelischen Linken und ein Mangel an Reflexion auf den eigenen Antisemitismus vorgeworfen. Der Vorwurf des eigenen Antisemitismus begründet sich aber nicht aus einer bestimmten Handlung oder Aussage der Kritisierten, sondern aus der prinzipiellen Annahme, dass Linke den Strukturen, die sie kritisieren, verhaftet sind und eine Verneinung eigener Eingebundenheit in Unterdrückungsverhältnisse nur zu deren Fortbestand beiträgt. (NOFW 2) So richtig es aber ist, die subjektive Teilhabe am falschen Ganzen zu reflektieren, so notwendig bleibt die Bestimmung, worin denn diese Teilhabe, d.h. worin der eigene Antisemitismus besteht. Die Kriterien, nach denen das zu beurteilen wäre, bleiben die AutorInnen aber schuldig. Antisemitisch soll einem aufgeführten Beispiel zufolge die Betrachtung Israels als Konstrukt imperialistischer Interessen und als Bollwerk des Kapitalismus im arabischen Raum sein, nicht per se antisemitisch sei es hingegen, den Boykott israelischer Waren zu fordern. Ein von dem jeweiligen und politischen Kontext losgelöstes Zitieren mache es erst möglich, aus einem Boykott israelischer Waren auf ein Kauft nicht bei Juden zu schlussfolgern. Nur, was ist denn der Kontext, in dem eine solche Forderung erhoben wird ? Der Kontext ist doch wohl, dass diese Forderung in einem Land erhoben wird, welches das Kauft nicht bei Juden nicht vor, sondern hinter sich hat und dessen Antisemitismus, sei es als offener oder verdeckter sekundärer Antisemitismus (Schuldabwehr), sei es teilweise als Philosemitismus oder aber in der vor allem in der Linken beliebten Variante des Antizionismus/ der Kritik an Israel die militärische Niederlage Deutschlands überlebt hat. Bevor man kritisiert, dass der sehr ernste Begriff des Antisemitismus bis zur Unkenntlichkeit zerredet wird, muss man den Begriff bestimmen, d.h. sich fragen, worin Antisemitismus denn besteht. Danach sucht man im Text aber ebenso vergeblich wie die Erwartung enttäuscht wird, dass aus der Reflexion auf den eigenen Antisemitismus die Einsicht entspringe, in welchem Kontext hierzulande Antisemitismus eine Rolle spielt. Der eigene Antisemitismus ist nämlich kaum einer, den die Linke für sich getrennt von der Gesellschaft wie ein familieninternes Problemkind hütet, sondern entspringt gerade der Gesellschaft. Von diesem Kontext - wer mag: Sprechort - Deutschland im Jahre 2002 ist aber erstaunlicherweise kaum die Rede. Das gilt für das Ausblenden der antisemitischen Realität hierzulande ebenso wie für das umstandslos positive Beziehen auf die israelische Linke, deren Forderungen (und bisweilen blutrünstig pathetische Beschreibungen der Unterdrückung der PalästinenserInnen) nicht zufällig hierzulande auf ein recht positives Echo weit über die Linke hinaus stoßen. Die Forderung nach einem Boykott israelischer Waren könnte nur dann frei von antisemitischer Konnotation sein, wenn man sie vom jeweiligen und politischen Kontext löst, wenn man also so tut, als ob Israel frei von äußerer Bedrohung und ohne eine Vorgeschichte wäre, in der das Kauft nicht bei Juden enthalten ist. Was aus der Perspektive der israelischen Linken eine problematische Forderung wäre, wäre hierzulande unmöglich, weil es unweigerlich Teil des antisemitischen Diskurses würde.

Der Begriff des Antisemitismus soll laut den AutorInnen zum Aufdecken von Gewalt, Herrschaftsstrukturen und Unterdrückungsverhältnissen verwendet werden, ohne dass das tatsächlich passierte. Was ein Triple- oder Multipleoppression-Begriff gegenüber sogenannten Hauptwiderspruchsansätzen gewinnt, verliert er sofort wieder, wenn er wie im Text als standardisiertes Einerlei: alles Widersprüche, Herrschaftsstrukturen etc. benutzt wird. Mit dem Begriff des Antisemitismus werden aber nicht zufällig keine Herrschaftsstrukturen und Unterdrückungsverhältnisse aufgedeckt. Ohne einen neuen Hauptwiderspruch aufmachen zu müssen, bleibt es notwendig, das Spezifische am Antisemitismus zu erkennen - was für die Unterscheidungen von Sexismus, Rassismus etc. natürlich auch gilt. Das formalistische Aufreihen des Antisemitismus neben die anderen Unterdrückungsverhältnisse ist nicht nur problematisch, weil ein solcher Ansatz, der einfach nur alle möglichen Herrschaftsverhältnisse unvermittelt nebeneinander stellt und unter einen abstrakten Begriff von Herrschaft subsumiert, sehr wenig über die gesellschaftliche Wirklichkeit dieser Ideologien und ihre Verschränkung auszusagen vermag. Er verkennt darüber hinaus das Spezifische eines jeden Herrschaftsverhältnisses. So sehr beispielsweise der Rassismus ein wahnhaftes irrationales Moment beinhaltet, so gilt doch für den Antisemitismus, dass das Objekt der Verfolgung immer zugleich als minderwertig und die Welt beherrschendes halluziniert wird - von der Wall Street bis nach Moskau oder heute tendenziell vom Zionist Occupied Government (ZOG: Bezeichnung US-amerikanischer Nazis für ihre Regierung) bis Israel. Während Herrschaft bedeutet, mit der Unterwerfung des zu Beherrschenden unter den Willen des Herrschers ans Ziel gekommen zu sein, ist die Befreiung von imaginierter Herrschaft maßlos (da sie real nicht existiert, kann sie real auch nicht enden) und entsprechend jede Unterwerfungsgeste der Betroffenen zwecklos. Da der Zweck des Antisemitismus weder in seiner Logik noch in seiner Geschichte in der Unterwerfung und Ausbeutung einer bestimmten Gruppe besteht, sondern die totale Vernichtung zum Ziel hat, wird allein schon die Bezeichnung Herrschaftsverhältnis fragwürdig[2].

Seine Attraktivität und Aktualität gewinnt der Antisemitismus aus seiner Fähigkeit, die notwendige Erscheinungsweise des Kapitals, die Aufspaltung in Zirkulation und Produktion, ideologisch in den Gegensatz einer parasitären Clique einerseits und einer ausgebeuteten, produktiven Masse andererseits zu transformieren. So liegen verkürzte Kapitalismuskritik und Antisemitismus strukturell eng beieinander, auch wenn zwischen ihnen ein wichtiger qualitativer Schritt liegt: die Identifizierung der parasitären Clique mit den Juden, praxisbezogen betrachtet der Unterschied zwischen einer Demo gegen die Herrschaft der Banken und Angriffen auf Synagogen.

Dass die AutorInnen des Textes NOFW eigentlich gar nicht wissen, wovon sie reden, bestätigt die Zusammenfassung im letzten Absatz, in dem es heißt: Wer aber nicht den Menschen sieht, sondern nur die ihm zugeschriebene Rolle, die er zu erfüllen hat, reproduziert so den Antisemitismus, den er angeblich zu bekämpfen sucht. (S. 6) Auf einer derart allgemeinen Ebene gefasst, wird der Antisemitismus zu einer Ideologie, die jede/r und damit niemand produziert: alle fein raus, weil alle drin.

Wem es ernst ist mit der Bekämpfung des Antisemitismus, muss sich auch fragen, wie er funktioniert und warum er sich so hartnäckig am Leben erhält, anstatt ihn nur in die leere Reihenfolge der -ismen einzureihen, gegen die man nun mal ist. 

Bezug auf die Shoa und deutsche Ideologie 

Während der Text eine Reflexion auf den Sprechort Deutschland aktuell vermissen lässt, also die Frage nach der deutschen Politik im Nahostkonflikt, nach dem Kontext, in den jede von links erhobene Forderung fällt, versucht er diese zumindest in Bezug auf die deutsche Vergangenheit zu leisten. Die AutorInnen wenden sich gegen jede Relativierung der Shoa, sind sich des Zusammenhangs bewusst, dass der Zionismus und Israel auch als Resultat des europäischen Antisemitismus und der Shoa zu betrachten sind, und versuchen sich in einer Antwort auf die Frage, welche Lehren denn aus der Shoa zu ziehen sind. Aber ausgerechnet bei den Lehren fällt ihnen der Mangel an Reflexion auf die heutigen deutschen Verhältnisse dergestalt auf die Füße, dass man den Eindruck hat, hier sprächen der Bundespräsident, der Außenminister und Mr. 18 Prozent gleichzeitig: Im Bewusstsein unserer Verantwortung zur deutschen Geschichte, heißt es dort, ziehen wir weder den Schluss, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Israel unmöglich wäre, noch dass eine unhinterfragte Parteiergreifung für Israel notwendig oder gerechtfertigt ist. (S. 3) Will sagen: Aus der Verantwortung zur deutschen Geschichte schließen deutsche Linke vor allem, sich keine falsche Beschränkung in der Kritik Israels auferlegen zu müssen.

Die Frage nach einer falschen Beschränkung in der Kritik bzw. einer unhinterfragten Parteiergreifung setzt die Einsicht in die Problematik einer unbefangenen Israelkritik voraus. Bleibt es aber im Dunkeln, vor welchem Hintergrund eine Beschränkung in der Kritik Israels zurückgewiesen wird, funktioniert eine solche Aussage wie der antisemitische Diskurs à la Möllemann, der immer davon ausgeht, es gäbe irgendeine mächtige Instanz, die den Deutschen verbieten würde, Israel zu kritisieren - weswegen Paul Spiegel sich während der Möllemann-Debatte ständig mit der naiv und gar nicht bös gemeinten Frage konfrontiert sah, ob Deutsche denn Israel kritisieren dürften.

Die zweite Lehre, die die AutorInnen im Bewusstsein ihrer Verantwortung zur deutschen Geschichte ziehen, wird mit einem Zitat von Felica Langer eingeleitet, in dem dazu aufgerufen wird, angesichts jeglichen Unrechts und Verbrechens nicht zu schweigen, sondern alle Formen von Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen und die Würde und Rechte der Menschen, wer auch immer sie sein mögen, zu verteidigen. Dem schließen die AutorInnen sich an und fügen noch hinzu, dass es gelte, sich mit jeglichen Herrschaftsverhältnissen in den verschiedensten Ausprägungen und komplexen Vernetzungen wie Nationalismus, Patriarchat, Sexismus, soziale Normierungen [...], wie Kapitalismus und Imperialismus, Neoliberalismus, kapitalistischer Globalisierung und weiteren (S.3) auseinander zusetzen. Nicht genug damit, dass man sich unmittelbar fragen muss, was die AutorInnen denn ohne Auschwitz mit diesen Herrschaftsverhältnissen angefangen hätten, ob man wirklich Auschwitz als Bezugspunkt braucht, um Kapital, Geschlecht etc. zu kritisieren und zu bekämpfen, endet der Gedanke nicht ganz zufällig - denn das ist die aktuelle deutsche Ideologie - mit der Kritik der israelischen Besatzungspolitik und last but not least mit der Kritik an den ideologischen Wurzeln dieser Besetzung (3), sprich: dem Zionismus. Noch deutlicher wird dieser Gedanke im vorletzten Abschnitt wiederholt, in dem es heißt: Die durch den Holocaust geprägte Geschichte Deutschlands macht besondere Verantwortung und Wachsamkeit gegenüber Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz erforderlich. Wir halten es aber gerade deshalb für notwendig, eigene Aktionsformen zu entwickeln, um den politischen Druck der undogmatischen linken Bewegungen in Israel und Palästina gegen die israelische Besatzung zu unterstützen.(5; unsere Hervorhebung)

Wer die Verantwortung für die deutsche Geschichte übernimmt und aus ihr eine besondere Verantwortung und einen Auftrag gegenüber der Welt ableitet, bombardiert Jugoslawien, um ein zweites Auschwitz zu verhindern (Fischer: Ich habe nicht nur nie wieder Krieg, sondern auch nie wieder Auschwitz gelernt) und kritisiert nicht das Unrecht, dem die Menschen im eigenen Land oder sonst wo auf der Welt ausgesetzt sind, sondern die israelische Besatzungspolitik (Westerwelle: Ich habe gelernt, nirgendwo Unrecht zu dulden und nehme mir daher auch das Recht heraus, die israelische Besatzungspolitik zu kritisieren). Verantwortung für die deutsche Geschichte kann es nur von denjenigen geben, die die Geschichte dieses Landes fortschreiben wollen und die es in den letzten Jahren geschafft haben, aus einem Menetekel deutscher Identität einen Auftrag für die Zukunft zu zimmern. Für Linke, die kein besseres Deutschland wollen, sondern für seine Abschaffung kämpfen, gilt auch keine Verantwortung für die Geschichte dieses Landes, sondern eine Empathie gegenüber den Opfern, die die Existenz und Geschichte dieses Landes forder(te)n. Und für eine politische Praxis im Sinne dieser Empathie mit den Opfern liegt es sicherlich näher, sich mit dem Land solidarisch zu erklären, in das die Überlebenden geflüchtet sind, als es in Einklang mit dem neudeutschen Selbstbewusstsein seiner Menschrechtsverletzungen zu zeihen. 

Zionismus - Recht und Unrecht, Opfer und Täter oder das Kreuz mit dem Staat 

Ist die Lehre aus Auschwitz, kein Unrecht zu dulden, und, wie im Abschnitt des Textes über den Zionismus erklärt, historisch betrachtet die zionistische Siedlungspolitik ein Unrecht(4) gewesen, so liegt der Schluss nahe, gegen den die AutorInnen sich an anderer Stelle vehement verwehren: dass es sich bei Israel um einen illegitimen Staat handelt. Deutlich treten in diesem Abschnitt wieder Person A und B auf den Plan: Wo A auf die Unrechtmäßigkeit der zionistischen Siedlungspolitik hinweist und als Fazit den Zionismus mit der Vertreibung der PalästinenserInnen ineinssetzt und für illegitim erklärt, hängt Person B jeweils einen Satz daran, der darauf hinweist, dass der Zionismus ein Resultat des europäischen Antisemitismus gewesen ist und der deutsche Antisemitismus...diesen durch die angestrebte Endlösung zu einer Frage des Überlebens (4) hat werden lassen.

Als ahnte B, dass As Fazit den Staat Israel infrage stellt, wird noch schnell versichert, dass dies dennoch den heutigen Staat Israel nicht in Frage stellen darf, weil es für alle in Israel und Palästina gelte, aus der Logik der Aufrechnung, des Opferzählens, und des Anmeldens von Ansprüchen aus historischen Ereignissen auszubrechen und Verständigung zu suchen. Nur welchen Sinn macht dann dieser Abschnitt, der versucht den aktuellen Konflikt vor dem Hintergrund von Zionismus und Shoa zu beleuchten, wenn es gilt, aus den historischen Bezügen auszubrechen?

Was hier unvermittelt nebeneinander steht, ist ein Widerspruch, der auch in der Perspektive der am Konflikt beteiligten Parteien hervortritt: Aus israelischer Perspektive ist die Gr
ündung und Existenz Israels eine Antwort auf die Geschichte einer Jahrtausende andauernden Verfolgung und die fast geglückte absolute Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nazis. Aus palästinensischer Sicht verbindet sich mit der Gründung und Existenz Israels Vertreibung und Unterdrückung. Nur, wie kriegt eine Linke, die sich der Legitimität und Notwendigkeit der Gründung Israels bewusst ist, aber auch das davon nicht zu trennende Leid der PalästinenserInnen sieht, beides unter einen Hut ?

Wahrscheinlich nur als einen Widerspruch, der darauf verweist, dass die Welt nach Auschwitz in einem wesentlichen Punkt die blieb, die sie vorher war: Eine Welt, in der die Zugehörigkeit zu einem staatsbürgerlichen Kollektiv die Voraussetzung menschlicher Existenz ist.

Deshalb ist Israel einerseits gerade als Staat wichtig, weil der Staat die letzte Instanz ist, über die sich politische Interessen Geltung verschaffen können und er die Form ist, die mit entsprechender Souveränität und Macht ausgestattet in der Lage ist, antisemitisch Verfolgte aufzunehmen und zu schützen[3].

Andererseits ist Israel als Staat wiederum ein Beispiel dafür, warum die Form Staat eine Organisationsform ist, in der Vertreibung, Gewalt und Unterdrückung logisch enthalten ist und somit für eine Linke zu überwinden bleibt. Jeder moderne Nationalstaat ist auf Gewalt und Vertreibung gegründet, weil das ihm zugrundeliegende Staatsvolk keines ist, das seit Jahrhunderten seiner nationalen Vertretung harrt, sondern im Konstitutionsprozess (und fortlaufend) immer erst hergestellt wird. Die abstrakte Gleichheit der StaatsbürgerInnen entspringt den Erfordernissen kapitalistischer Produktion, die den / die freie/n LohnarbeiterIn voraussetzt und stetig reproduziert. Die konkrete Ungleichheit der Nationen ist wiederum Ausdruck des partikularen Charakters des Kapitals, das seine Universalisierung (oder: Globalisierung) nur mittels konkurrierender Nationalökonomien durchsetzen kann. Ihre Anziehungskraft verdankt jede Nation dem Kalkül der ihr Unterworfenen, in der Berufung auf sie die eigene gesellschaftliche Reproduktion gesichert zu sehen. Die Zugehörigkeit zum StaatsbürgerInnenkollektiv entscheidet im geringsten Fall über die Partizipation am politischen Geschehen, im schlimmsten Fall kann sie eine Frage von Leben und Tod sein. So wurden selbst den deutschen Jüdinnen und Juden erst die staatsbürgerlichen Rechte aberkannt, bevor man sie ermordete.

Der Zionismus brachte die verkehrte Welt auf den Punkt: Aus dem Scheitern der universalistischen Perspektive (sowohl der bürgerlich emanzipatorischen wie der proletarisch internationalistischen) die Konsequenz zu ziehen, sich partikular zu organisieren und so doch noch zu einem Teil einer Welt zu werden, die die Jüdinnen und Juden ausschloss. Nicht nur die bürgerliche Emanzipation der Juden, d.h. die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft im abstrakten StaatbürgerInnenkollektiv, war mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhundert in Europa an ihre Grenze gelangt, auch der proletarische Internationalismus war nicht in der Lage, die Bedeutung der Antisemitenfrage zu erfassen und den Betroffenen eine Perspektive jenseits der nationalen Befreiung zu ermöglichen. In dem Maße, in dem der auf das Scheitern und die Zerschlagung revolutionärer Bewegungen in Westeuropa folgende Faschismus offenbarte, wie schnell sich die abstrakt gleichen BürgerInnen eines Staates in blut- und bodenverbundene Volksgenossen verwandeln konnten, dürften auch die VerfechterInnen einer bi-nationalen Lösung in Palästina wie Brit Shalom oder die KP Palästina an Überzeugungskraft verloren haben. Die durchaus widersprüchlichen Vorstellungen von bürgerlichem und sozialistischem Zionismus mündeten schließlich in den Aufbau einer Gesellschaft, die auf jüdischem Eigentum und jüdischer Arbeit gegründet war also als moderne Klassengesellschaft funktionierte - und der ansässigen Bevölkerung ihre bisherige Lebensgrundlage nahm, bzw. sie in eigentumslose ProletarierInnen verwandelte.

Vor diesem Hintergrund ist die Beurteilung zionistischer Siedlungspolitik als Unrecht bzw. eine Kritik am Zionismus, wie sie in NOFW eingefordert wird, nicht nur fragwürdig, weil eine moralische Kategorie eingefordert wird, wo das Recht des Stärkeren als Maßgabe der Wirklichkeit funktioniert und nicht diese Strukturiertheit kritisiert wird, in der jedes Völkchen sich gewaltsam zum Staate aufschwingt. Sie verkennt darüber hinaus den schlichten historischen Erfahrungsgehalt, den der Zionismus transportiert: Dass jede noch so republikanisch strukturierte Nation im Krisenfall auf ihren mythischen Zusammenhalt, die abstrakte Gleichheit der StaatsbürgerInnen auf die konkrete Ungleichheit der Rassen, regredieren kann, in der die Juden als das negative Gegenprinzip des völkischen Zusammenhangs fungieren.

Dass das eine, die Selbstorganisation jüdischer Menschen in einem Staat und einer Gesellschaft, bisher nicht ohne das andere, die Vertreibung und strukturelle Diskriminierung der dort ansässigen PalästinenserInnen, zu haben ist, ist - neben den psychologischen Aspekten das grundsätzliche Dilemma, dessen einseitige Auflösung zu den wahnwitzigen Blüten führt, die die derzeitige Diskussion in der Linken hervortreibt.

Bezieht man sich beispielsweise auf die Notwendigkeit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit für die Funktion Israels, Fluchtort antisemitisch Verfolgter zu sein, und vergisst gleichzeitig jede Kritik an Bevölkerungspolitik, so liegt der Gedanke nicht fern, den Sylke Tempel in der Konkret vom August 2002 formulierte, nämlich, dass die Unterstützung für die Zwei-Staaten-Lösung”” bei den PalästinenserInnen zusehends schwinde, da sie mittels ihres Bevölkerungswachstums (das höchste der Welt) und des Rechts auf Selbstbestimmung den jüdischen Staat beseitigen könnten. Zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit der jüdischen Identität Israels und dem Stammtischressentiment, nach dem die Araber sich wie die Karnickel vermehren würden, liegt dann nicht einmal ein Katzensprung.

Während die einen linke Kategorien vergessen, werden sie bei den anderen auf Israel übertragen. Hatte die ISF aus Freiburg 1988 noch eine Kritik am Antizionismus der Linken mit der Forderung nach einer anderen Palästina-Solidarität verknüpft (dokumentiert in iz3w, Nr. 150, Juni 1988) so spricht sie in ihrem Veranstaltungskalender im Jahre 2002 von Israel als der zu spät gekommenen Notwehr, womit jegliche Vertreibung, Unterdrückung und Ermordung von PalästinenserInnen gerechtfertigt wird, da gegenüber der Bedrohung, die der Nationalsozialismus darstellte, natürlich jedes Mittel legitim wäre. Haben die fundamentalen Staatskritiker, als die sich die ISFler immer verstanden, einmal ihre Liebe zum Staat entdeckt, ist es fast zwingend, dass die fundamentale Kritik in blinde Affirmation umschlägt und Israel zum "Vorschein des Kommunismus" verklärt wird.

Auf der gegenüberliegenden, antiimperialistischen Seite von Blüten zu sprechen, liegt schon deshalb nicht nahe, da hier auf einen umfangreichen antizionistischen Traditionsbestand zurückgegriffen wird, dessen Übergänge zum Antisemitismus insbesondere in Deutschland auf der Hand liegen. Wer, um nur ein besonders bösartiges Beispiel herauszugreifen, die notorischen deutschen Gleichsetzungen Israels mit dem NS in ihrer aggressiv Deutschland entlastenden Täter-Opfer-Umkehr nicht nur nicht kritisiert, sondern selbst vollzieht, hat sich selbst längst aus jeder im positiven Sinne ernstzunehmenden Debatte verabschiedet und mag mit den Blüms, Möllemanns und Haiders dieser Welt weiter den Schaum vorm Mund pflegen. Ein Umgang mit dem oben skizzierten Widerspruch ist hier nur noch insofern zu verzeichnen, als die Variante des Antisemitismus nach Auschwitz, gegen Israel Front zu machen in der Halluzination einer allmächtigen Verbotsinstanz, offensiv betätigt wird.
Sowohl die Bezeichnung Israels als Apartheidsstaat (Dossier jworld Nr.47/2002) oder die Antirassismuskonferenz in Durban 2001, von NS-Vergleichen wollen wir hier mal absehen) als auch die Betrachtung der pal
ästinensischen Gesellschaft als Reinkarnation der deutschen Volksgemeinschaft verdecken den Widerspruch, der allein Ausgangspunkt einer vernünftigen Diskussion um politische Positionierung und Praxis sein könnte. Beide Varianten der Verkürzung reagieren natürlich auf die Dynamik des Konfliktes selbst: Die zunehmende bloße Tötung israelischer ZivilistInnen durch palästinensische Selbstmord-Kommandos einerseits, die der These, den PalästinenserInnen ginge es inzwischen nur noch um die Vernichtung Israels, beständig Futter gibt, und andererseits die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den PalästinenserInnen, die nirgendwo so sehr zum Ausdruck kommt wie in der Person Ariel Sharon, der auf dem Höhepunkt der israelischen Friedensbewegung 1982 als Verteidigungsminister zurü
cktreten musste.

So sehr die Gründung eines palästinensischen Staates bei gleichzeitiger Garantie der Sicherheit Israels die für die Befriedigung des Konflikts festzuhaltende Perspektive bleibt, so sehr ist doch auch klar, dass damit der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wird. Nationalstaaten sind nämlich alles andere als eine Voraussetzung zur Überwindung des Nationalismus, wie es im vorletzten Abschnitt von NOFW heißt: Die Aufteilung der Menschheit in Völker und Nationen ist die stetige Quelle von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Ein jüdischer Staat, historische Notwendigkeit. Ein palästinensischer, nicht zu leugnendes legitimes Interesse derjenigen, die seit Jahrzehnten der Willkürherrschaft des israelischen Militärs ausgesetzt sind (ob die Herrschaft der PA so viel besser ist, sollte man den Betroffenen überlassen.)

Für die Linke bleibt im Kleinen, alles dafür zu tun, dass der Konflikt zu einem friedlichen Ende kommt, was real aber kaum von ihr, sondern von den Betroffenen und den Staaten, die über Macht und Einfluss verfügen, bewerkstelligt werden wird - oder nicht. Ihr bleibt weiterhin, die seit der zweiten Intifada in Europa sich vermehrende antisemitische Aggression ebenso wie den sich inzwischen auch in ihren Reihen einschleichenden antiarabischen Rassismus zu bekämpfen und sich der Verteidigung der zivilisierten Welt zu verweigern.

Im Großen sollte sie aber nicht aus den Augen verlieren, dass ihr eigentlicher Job darin besteht, eine Welt Wirklichkeit werden zu lassen, in der es weder eines israelischen noch eines palästinensischen, geschweige denn eines deutschen noch sonst irgendeines Staates bedarf.

Gruppe Abendrot (Hamburg)
M
ärz 2003
E-Mail:
morgenthau@gmx.li

 

Anmerkungen:

[1]Auch veröffentlicht in: Interim 556; ak 465

[2]Die Unterscheidung von rationaler, auf Ausbeutung und Unterwerfung gerichteter Herrschaft und auf Vernichtung zielender Herrschaft ist keine absolute. Auch im Rassismus steckt neben dem Unterwerfungswunsch das Vernichtungsbedürfnis, wie es im Antisemitismus auch eine rationale Unterwerfung in Gestalt von Arisierung und Zwangsarbeit gab. Die Einmaligkeit der industriellen Vernichtung (3) verweist aber gerade darauf, dass im Antisemitismus - auch im Unterschied zum Antijudaismus - die Vernichtung zum Selbstzweck avancierte (Vernichtung durch Arbeit) und am NS-Antisemitismus der Begriff zu bestimmen ist, auch wenn er sich nicht umstandslos auf alle antijüdischen Äußerungen übertragen lässt

[3]Der diese Bedeutung relativierende Hinweis darauf, dass jüdische Menschen kaum so gefährdet sind wie in Israel, ist schlecht spekulativ, insofern die relative Sicherheit, die Jüdinnen und Juden in anderen Ländern genießen, die Existenz Israel zur Voraussetzung hat.

 

Editorische Anmerkungen
Die Gruppe Abendrot (Hamburg) schickte uns ihren Artikel mit der Bitte um Veröffentlichung im April 2003. Sie schrieb dazu folgendes:

Liebe Leute,
im Anhang findet ihr eine Stellungnahme zu dem Text "Ferner Osten - Naher Westen", der bei euch publiziert wurde. Uns ist klar, dass die Veröffentlichung schon einige Monate zurückliegt und daher vielen LeserInnen nicht mehr richtig präsent sein wird. Wir halten aber die Auseinandersetzung zum Israel-Palästina-Konflikt nicht für erledigt und die Schwierigkeit, sich zu dieser zu verhalten, ist  einer der Gründe für unsere lange interne Diskussion. Wir würden uns freuen, wenn ihr diesen Text zur Kenntnis nehmt und diesen für veröffentlichungswürdig haltet. Falls dieses der Fall sein sollte, bitten wir um eine Bestätigung und würden uns im Falle von Kürzungen sehr um eine vorherige Absprache freuen. 

Mit lieben Grüßen

Gruppe Abendrot; Hamburg
mail:
morgenthau@gmx.li