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Nr. 04-04
Notausgabe
3. April 2004

9. Jahrgang online

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Nostalgie oder diskretes Geheimnis?
Vom Gebrauchswert des Klassenbegriffs in Theorie und Praxis.

Ein Gespräch

Ein Gespräch, ja - aber eins, das so nie statt gefunden hat. Per e-mail debattierten Regina Brunnett (RB), Antke Engel (AE) und Stefanie Graefe (SG) einige Wochen lang über Sinn und Unsinn des theoretischen Konzeptes "Klasse". Ausgehend von theoriepolitischen Fragen, die seit Ende der 80er Jahre gestellt werden (Stichwort: Identität, Subjekt, Macht) und angesichts der neoliberalen Realität der Gegenwart. Keine Selbstverständlichkeit übrigens: Das Thema "Klasse", formuliert als grundsätzliche Frage, ist den meisten einschlägigen Publikationen zu locker geschätzten 98% von Männern besetzt. In verdichteter, gekürzter und neu geordneter Form lässt sich dieser "Netz-Talk" hier nachlesen.

SG: Die Rede von der "Verschränkung von Macht-/Herrschaftsverhältnissen" ist ebenso wie das Dreifach-Schlagwort "race, class, gender" seit den 90er Jahren nicht nur in feministischen Diskursen ein wiederkehrendes basic - und aus meiner Sicht ein historisch notwendiger Einsatz gegen einen (linken) reduktionistischen Machtbegriff, der vom "Hauptwiderspruch" zwischen Arbeit und Kapital alle weiteren Machtverhältnisse als sekundäre ableitet oder überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Oftmals war mit dieser Form des "Hauptwiderspruch-Denkens" auch eine Setzung von "(Arbeiter-)Klasse" als homogenes revolutionäres Subjekt verknüpft, dessen Idealtypus der weiße, männliche Industriearbeiter war. Eine Sichtweise, die neue Ausschlüsse produzierte, etwa in der Unsichtbarmachung von Reproduktions-Ökonomie oder durch die Ausblendung der rassistischen Segregation des Arbeitsmarktes etc. Mein Eindruck ist aber, dass "Klasse" spätestens seit den 90ern in den meisten emanzipatorischen theoriepolitischen Debatten praktisch gar nicht mehr auftaucht - nicht zuletzt auch in der Abwendung von dem oben skizzierten Klassendiskurs und ungeachtet der Rede von "race, class, gender". Gerade das aber könnte wiederum einer Hegemonialisierung von "Mittelklasseperspektiven" auch in theoriepolitischen Auseinandersetzungen der Linken Vorschub geleistet haben.

RB: Meines Erachtens ist zwar das "revolutionäre Arbeiter-Subjekt" zu Recht seit den 70ern/80ern weitgehend verabschiedet worden. Politisch u.a. fragwürdig wegen der Konstruktion eines Hauptwiderspruchs und seines immanenten Ausschlusses von Geschlechterverhältnissen, wurde die kollektive und politisierende Subjektivierung durch "Klasse" auch als gesellschaftsanalytische Kategorie zunehmend in Frage gestellt. Aber selbst rechtsliberale Theoretiker wie Ulrich Beck haben niemals bestritten, dass die objektive Strukturierung durch Klassenverhältnisse nach wie vor bestehen bleibt. "Klassenverhältnisse ohne Klassen" ist dieser Prozess umschrieben worden. Es ist fatal, dass mit der Dezentrierung des Arbeitersubjekts die strukturelle Herrschaftsförmigkeit der Subjektivierung durch "Klasse" und damit auch spezifische soziale Erfahrungen aus dem Blick geraten sind. Werden überhaupt Unterklasse-Erfahrungen artikuliert, dominieren Defizitkonstruktionen ("etwas nicht können oder haben"). Es braucht ein politisch und analytisch fundiertes Klassenverständnis, um die strukturelle Gewaltförmigkeit durch "Klasse" verständlich zu machen. Die "symbolische Auslöschung" von Klasse hingegen trägt gerade dazu bei, Klassenverhältnisse zu reproduzieren. Sie zeigt ihre Wirkung vor allem denjenigen, die im sozialen Gefüge unten positioniert sind, aber auch in jenen Teilen der Mittelklasse, die angesichts neoliberaler Umstrukturierungen vom sozialen Abstieg bedroht sind.

AE: Ich bin eher skeptisch, dass der Begriff der "Klasse" weiterhin geeignet ist, die Herrschaftsförmigkeit kapitalistischer Verhältnisse zu artikulieren. Denn dieser lenkt (wie auch die Kategorien "Geschlecht" und "Rasse") die Aufmerksamkeit auf den Effekt eines Unterdrückungsverhältnisses statt auf den Prozess der Herausbildung einer Klasse. Weil der Klassenbegriff ein kollektives politisches Subjekt benennt, das sich durch eine vermeintliche Gemeinsamkeit der Erfahrung auszeichnet, können weder (das ist ein geradezu klassisches feministisches Argument) die Differenzen innerhalb dieser sozialen Gruppe, noch kann der Prozess selber in den Blick genommen und zum Ort politischen Eingreifens erklärt werden. Natürlich interessiert mich die Frage, wie sozial überdeterminierte, widersprüchliche Subjekte zu politischen Praktiken finden, die womöglich die Bedingungen ihrer eigenen Existenz radikal in Frage stellen. Interessant sind diese Praktiken jedoch im Hinblick darauf, ob sie Enthierarchisierungen und Denormalisierungen gesellschaftlicher und globaler Machtverhältnisse bewirken.

SG: Das Besondere von "Klassen" liegt doch darin, dass diese aus einer drastisch ungleichen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums resultieren - und nicht, wie etwa "Geschlecht" oder "Rasse" aus naturalisierenden oder kulturalisierenden Zuschreibungen. Kompliziert wird es dadurch, dass in jeder "Subjektposition" diese verschiedenen Dimensionen ineinander greifen. Dennoch: Eine noch so kluge Kritik "diskursiver Klassenkonstruktionen" verfehlt diese zwangsläufig, wenn sie nicht zugleich diesen grundlegenden Antagonismus angreift. Davon abgesehen verstehe ich "Klasse" vor allem als politischen Kampfbegriff, von dem man sich nicht allzu leichtfertig verabschieden sollte. Es ist weder zwingende Konsequenz, dass er unweigerlich Phantasien über angebliche revolutionäre Subjekte produziert, noch, dass er eine Identität von sozialer Position und "Bewusstsein" bzw. "Erfahrung" behauptet; vielmehr erlaubt eine Perspektive auf "Klasse" als gesellschaftlich von "oben" und "unten" umkämpftes Terrain (und eben nicht ausschließlich als "Effekt" oder "Struktur"), die Möglichkeit, eine radikale Veränderung der Verhältnisse zu denken.

AE: Wenn schon mit dem Klassenbegriff operiert wird, dann erscheint es mir erheblich zu eng, Klassenverhältnisse einzig aus der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums abzuleiten. Die sagt nämlich nichts darüber aus, wie der Reichtum erwirtschaftet worden ist, wer darüber verfügt, wer ausgebeutet wird, wer profitiert. Die Frage, ob und wie die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums zu einem politischen Problem wird (und ob sie als Ungerechtigkeit oder als Ausbeutung, als individuell zu überwindendes Übel oder als Wille Gottes interpretiert wird), ist niemals unabhängig von den zur Verfügung stehenden Vorstellungsweisen, Diskursen, Selbst- und Weltverständissen. Klassenverhältnisse sind zugleich materiell und ideologisch.

RB: Soziale Klasse ist nicht primär eine Kategorie des Symbolischen, die "Identität" als Effekt hervorbringt! Der Zugang zu Universitäten ist z.B. für "Arbeiterkinder" ohnehin erschwert, was die mickrige Quote von ca. 12 % belegt. Aber der Zugang zu Bildung, Berufsausbildung und Universitäten wird noch weiter selektiert werden. Noch in den 1950ern in Deutschland (und in armen Ländern noch heute) bedeutet Unterklassenzugehörigkeit: keine Bildungschancen, geringere Lebenserwartung, höhere Kindersterblichkeit, mehr physische Krankheiten, weniger Geld, schlechtere Wohnungen etc. pp. Das ist noch nicht so lange her. Und Klassenerfahrungen sind in die Positionierung von Einzelnen selbst dann noch eingeschrieben, wenn diese über höhere Bildung und/oder Einkommen verfügen: Gefühle von Zerrissenheit, Ambivalenzen und/oder Schuldgefühle z.B. bei Studierenden unterer sozialer Klassen sind erforscht und belegt. Dies lässt sich mit der Hegemonie der bürgerlichen Mittelklasse an den Universitäten erklären, die durch Verabsolutierung und Schließung eines spezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Kategoriensystems funktioniert und sich so reproduziert. Weil auf diese Weise "Klasse" immer schon Einsatz im Kampf um ökonomische, ideologische und kulturelle Hegemonie ist (auch gerade da, wo am wenigsten von "Klasse" die Rede ist), bestehe ich darauf, dass es notwendig ist, den Klassenbegriff gerade auch in seiner "Kampf-Dimension" zu repolitisieren.

SG: Vor dem Hintergrund der weltweiten neoliberalen Transformation von Regierungsstrategien und Produktionsverhältnissen erscheint es mir besonders notwendig, den Gebrauchswert von "Klasse" als analytische und politische Kategorie zu überprüfen. Und das impliziert zwangsläufig die Frage, ob es möglich ist, von "Klasse" zu sprechen, ohne eine "Klassenidentität" zu unterstellen, die die Heterogenität von Subjektpositionen ausblendet.

AE: Angesichts neoliberaler Transformationsprozesse, die soziale Kategorien durch individualisierende Fragmentierungen aufbrechen, indem sie ideologisch die "individuelle Überschreitbarkeit" struktureller Unterdrückung versprechen, erscheint mir ein Festhalten an diesen Kategorien geradezu nostalgisch. Deshalb geht es meiner Ansicht nach eher darum, den Prozess der Differenzierung genauer zu benennen; also zu erklären, was unter aktuellen Bedingungen kapitalistische Ausbeutung charakterisiert, d.h. das Abschöpfen von Mehrwert zum Nutzen anderer als der ProduzentInnen; was die Spezifik des ökonomischen Herschaftsverhältnisses ausmacht. Wenn aber das Besondere neoliberaler Transformationen darin liegt, Subjekte zu produzieren, die sich durch ihre Individualität und nicht durch ihre Gemeinsamkeit identifizieren, die nicht selten zugleich "Ausgebeutete" und "Ausbeuter" sind, von der Kapitalakkumulation profitieren und durch Zinssysteme geschröpft werden und in diverse weitere Herrschaftsachsen profitierend oder unterworfen eingebunden sind - dann verliert ein antagonistischer Klassenbegriff seine Aussagekraft.

SG: Neoliberale Transformation heißt aber, dass Macht-/Herrschaftsverhältnisse, die nach "Klasse", d.h. als ökonomisch-materielle Ausschlüsse und von-unten-nach-oben-Verteilungen funktionieren, an Bedeutung zunehmen, was nicht bedeutet, dass es Fragmentierungen von Positionen, wie etwa "zugleich éAusgebeuteteæ und éAusbeuteræ" zu sein, nicht mehr gibt. Gleichwohl bedeutet postfordistisches workfare-Regime, dass Arbeit(splatz ja oder nein, wie abgesichert, wie bezahlt, wie anerkannt), Vermögen (d.h. die tendenzielle Unabhängigkeit von aktuellen sozialpolitischen Entscheidungen) und eben auch von Besitz oder Nicht-Besitz an "Produktionsmitteln" im weitesten Sinne (also auch z.B. die Möglichkeit, durch eine bestimmte soziale Position Diskurse zu produzieren) noch stärker als gesellschaftliche Platzanweiser funktionieren als noch zur Zeit eines halbwegs funktionierenden fordistischen Wohlfahrtsstaates. Dennoch: Auch wenn die neoliberale Anrufung der "Ich-AG" tatsächlich die ideologische Funktion hat, die Verschärfung sozialer Spaltungen zu verdecken, würde ich darauf bestehen, dass die Anrufung selbst auch immer wieder fehlschlägt - in Buenos Aires ebenso wie in Seattle, Genua oder...

AE: Es geht doch darum, bestimmte ökonomische Prozesse zu analysieren und anzufechten - und nicht um die Charakterisierung von Klassenpositionen. Wenn diese Prozesse als "ökonomisch-materielle Auschlüsse und von-unten-nach-oben-Verteilungen" zu beschreiben sind, scheint mir gleichwohl klar, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens unterschiedlich in diese Prozesse eingebunden sind und keine soziale Subjektposition festlegt, wie wer zu diesen Prozessen im Verhältnis steht. Die Frage des Besitzes oder Nicht-Besitzes an Produktionsmitteln ist kein aussagekräftiges Kriterium, denn so manche BesitzerIn von Produktionsmitteln erwirtschaftet damit mitnichten mehr als die Butter aufs Brot, während so mancher Kapitalbesitzer keine Produktionsmittel braucht, um gesellschaftlichen Reichtum in seine Taschen umzuverteilen.

SG: Es geht nicht um die Ich-AGlerin, die einen eigenen Computer hat, sondern um die Möglichkeit, aus der Arbeit von anderen Mehrwert zu schöpfen. Dass das nicht allen gleich gut gelingt, sondern so manche kleine oder auch größere Klitsche dabei übern Deister geht, liegt in der "Natur" des Kapitalismus, ändert aber an der Struktur des Ausbeutungsverhältnisses nichts. Den "Kapitalbesitzer", der in keinerlei zumindest indirektem Zusammenhang steht zu Produktionsmitteln, gibt es, trotz der Furcht vor dem angeblich frei schwebenden "Finanzkapital" nur als (problematische) Fiktion.

RB: Ich halte in Bezug auf den Zusammenhang von neoliberaler Transformation und "Klassen" einen weiteren Aspekt für zentral. Soziale Gegensätze werden verschärft und Ausschlüsse von Bildung und Gesundheit bzw. Gesundheitsversorgung zunehmen. Defizitkonstruktionen und individuelle Zuschreibungen suggerieren individuelle Handlungsspielräume, wo strukturelle Gewaltförmigkeit vorherrscht. Die Sozialepidemiologie befasst sich seit Jahrzehnten damit, warum es in allen westlichen Industrieländern heute noch so ist, dass untere Klassen einen schlechteren Gesundheitszustand haben. Im Rahmen neoliberaler Ideologie ist die Erklärung schnell zur Hand: Die unteren Klassen müssen individuell zur besseren Gesundheitsvorsorge motiviert werden. Die "Klassenfrage" spielt in den aktuellen neoliberalen Umstrukturierungen so eine zentrale Rolle, weil diese wohlfahrtsstaatliche Errungenschaften "kahl schlagen" und deshalb mit Wucht die ökonomischen Verhältnisse und damit Klassenpositionierungen wieder mächtig werden lassen. Dass die Proteste gegen den Abbau sozialer Sicherungssysteme so gering ausfallen, verweist auf die Wirksamkeit der neoliberalen Individualisierungsideologie. Gerade deshalb halte ich die Re-Politisierung und Neuformulierung der Kategorie "soziale Klasse" als eine Matrix sozialer Herrschaftsverhältnisse für so wichtig.

AE: Die Frage ist doch aber nicht, ob all diejenigen, die z.B. unter der Armutsgrenze leben, eine gesellschaftliche Klasse bilden oder bilden könnten, würden sie nur das richtige Bewusstsein ausbilden. Die Frage ist doch eher, wie Menschen von unterschiedlichen ökonomischen Positionen aus einen gemeinsamen politischen Kampf führen können, obwohl sie keine gemeinsamen Erfahrungen haben, und potenziell in Ausbeutungs- oder Unterdrückungsverhältnisse miteinander verwickelt sind. Diese Heterogenität der sozialen Subjektpositionen und Praxen scheint mir der interessanteste Aspekt an der Antiglobalisierungsbewegung zu sein.

SG: Ich stieß kürzlich im Editorial der diskus auf einen Satz, der genau diesen Punkt programmatisch in Zusammenhang zur "Klassenfrage" stellt, und mich würde interessieren, was ihr von diesem Satz haltet: "die materielle stellung - die altmodisch gewordene klassenlage - ist der theoretische und praktische ausgangspunkt für eine emanzipative position; wir, das sind all die menschen in der weltweiten wertvergesellschaftung, denen ein gutes leben verwehrt bleibt." (1)

RB: Ich frage mich beim Lesen des diskus-Zitates vor allem, ob die darin artikulierte Position nicht eine imaginäre ist: Speist sich das wir, das dort beschworen wird, nicht aus der Enttäuschung, vom "guten Leben" ausgeschlossen zu sein, wo es vorher zumindest noch das Versprechen gab, dorthin zu gelangen? Mit anderen Worten: Spricht daraus nicht auch die Enttäuschung einer Mittelklasse, die merkt, dass sie vom "sozialen Abstieg" bedroht, zumindest aber "im Aufstieg" behindert ist? Ich halte eine solche politische Perspektive für problematisch. Es gibt vermutlich wenig konkrete Gemeinsamkeiten zwischen jemanden, der mit 30 stirbt, weil er/sie keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung hat und jemandem, der gobal von dem "Verwehren eines guten Lebens" in der "weltweiten wertvergesellschaftung" spricht. Das heißt, für eine Politisierung von Klassenlage ist es als allermindeste Voraussetzung notwendig, über Klassenpositionen zu sprechen, sie zu analysieren und differenzierte politische Positionen zu dem zu erarbeiten, was im Moment weltweit und lokal an neoliberaler Umstrukturierung passiert. Anstatt die unteren Klassen mystifizierend zu veredeln oder sich selbst umstandslos als deprivilegiert einzuordnen. Und dazu gehört last not least: die eigene Klassenposition zu reflektieren. Das bedeutet, dass die Entwicklung eines Bewusstseins, das Differenzen und hierarchische Relationen zum Ausgangspunkt nimmt, statt sie einzuebnen, der Ausgangspunkt für eine Politisierung von Klassenpositionen ist. Das bedeutet auch: "Wir" befinden uns möglicherweise in Bezug auf Klasse an entgegengesetzten Polen. Was heißt das konkret, was folgt daraus? Wenn "wir" (als an Politisierung von Klasse Interessierte) diese Reflexion verweigern und die imaginäre Position mit realen Positionierungen verwechseln, reproduziert sich lediglich die Hegemonie der Mittelklasse. Ein solcher politischer Kampf wäre destruktiv, von der Ausdehnung, der Analyse und der politischen Reichweite her viel zu begrenzt (wenn auch möglicherweise erfolgreicher). Erst auf der Basis der Reflexion "unserer" Klassenpositionen können und müssen Forderungen, Wünsche und Interessen nach einem "guten Leben" differenziert und reflektiert werden. Und dann kann ein (temporäres oder partikulares) "wir" für politische Kämpfe gebildet werden.

AE: Gehen wir davon aus, dass die Mittelklasse eine Klasse ist und die Antagonismen nicht binär sind, so greife ich gerne im nächsten Schritt das Plädoyer einer Ausdifferenzierung der Klassenpositionen auf. Ein Plädoyer, das mir in der Tat sehr viel sympathischer ist, als mythische Anrufungen eines "guten Lebens", die schon allzu oft zur imperialen Durchsetzung der Werte der "moral majority" herhalten mussten. Fragen wir also: Welche Mittelklasse? Die migrantische Mittelklasse ohne politische Rechte? Die Homo-Mittelklasse, die soziale Dienste kauft oder Produkte herstellt, die der heteronormative Sozialstaat oder Markt nicht zur Verfügung stellt? Oder fragen wir: Welche Unterklasse? Die illegalisierte Sex-ArbeiterIn, die auf dem deutschen Polizeirevier gedemütigt wird, bevor sie im Abschiebeknast landet? Die Kleinstadt-Lesbe, die aus ihrem Job als Bäckereifachverkäuferin gemobbt wurde und jetzt von Sozialhilfe lebt, weil bei ihr ja kein "anständiger Bürger" mehr kaufen möchte? Für mich ist es unumgänglich, diese widerspenstige Heterogenität sozialer Subjektivitäten und Positionen zu berücksichtigen.

Dass Klassenerfahrungen sich einschreiben, auch wenn längst ein Statuswechsel erfolgte, ist genau das, was ich als "Effekt eines Unterdrückungs- (bzw. Ausbeutungs-) Verhältnisses" bezeichnen würde. Sinnvoll erscheint es mir, dies als immer zugleich symbolische und materielle Erfahrungseinschreibungen zu analysieren. Somit ist aus meiner Perspektive der prinzipielle Unterschied zwischen den sozialen Kategorien Ethnie, Klasse und Geschlecht nicht ersichtlich: Alle begründen bestimmte Erfahrungen, die sich in die Positionierung einzelner einschreiben, auch über aktuell bestehende Unterordnungen oder Entwertungen hinaus. Auch "Geschlecht" und "Rasse" oder "Ethnie" werden längst nicht mehr als "Identitätspositionen" verhandelt, sondern als soziale Faktoren, die in die Konstituierung komplexer, in sich "spannungsreicher" Subjektivitäten einfließen. In diesem Sinne würde ich für all diese sozialen Kategorien den Begriff der "Identität" schlicht ablehnen. Wohl aber kann ich mich mit dem Begriff der "Klassenposition" (eher als dem der "Klasse") anfreunden, wenn darunter eben keine Identitäts- oder Subjektivitätsposition verstanden wird. Dennoch denke ich, dass Politik eher davon lebt, gemeinsame Kampfziele zu bestimmen als davon, Solidarisierungen zu entwerfen, die den Kampf aus einer ähnlichen sozialen Position heraus begründen.

SG: Aus meiner Sicht liegt in der in dem diskus-Zitat aufgemachten Beziehung zwischen der vermeintlich altmodischen "Klassenlage" und dem kämpfenden "wir", dem (eben in je signifikant unterschiedlicher Weise) ein "gutes Leben" (was immer das ist) verwehrt wird, eine Spannung, die genau so problematisch wie unvermeidlich ist. Gerade aber um aus diesem "wir" nicht wiederum ein identitäres und/oder elitäres Kollektivsubjekt werden zu lassen, dessen vielfältige (und eben auch Klassen-)Spaltungen programmatisch und systematisch dethematisiert werden, kommt es darauf an, "Klasse" nicht nur besprechbar, sondern vor allem auch politisierbar zu machen. Und das heißt, wir müssen auch in Zukunft weiter darum ringen, was "Klasse" bezeichnen und nicht bezeichnen kann - auch und gerade "unter uns". Ganz in diesem Sinne danke ich euch herzlich für eure "Einsätze" in dieser Debatte.

Anmerkung: 1) Das Zitat ist entnommen aus: diskus, Heft 1/2003 www.copyriot.com/diskus . Allen drei Diskutantinnen wissen, dass es sich um ein aus dem Argumentationszusammenhang gerissenen Textbaustein handelt, der hier als Diskussionsanreiz eingesetzt wurde.

 


Editorische Anmerkungen

Regina Brunnett lebt in Hamburg, forscht und schreibt zu symbolischer und materieller Gesundheitspolitik, Neoliberalismus und poststrukturalistischen Theorien.
Stefanie Graefe lebt in Hamburg. Auch Antke Engel lebt in Hamburg und ist seit Jahren in diversen feministischen und queeren Projekten aktiv. Sie hat in Potsdam in Philosophie promoviert und ist momentan Vertretungsprofessorin für Queer Theory an der Uni Hamburg. Ihre Dissertation ist unter dem Titel "Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation" (Frankfurt/M. 2002) bei Campus erschienen.

Der Artikel erschien in Fantomas , Magazin für linke Debatte und Praxis / Nr. 4 / Winter 2003 und ist eine Spiegelung von
http://www.akweb.de/fantomas/fant_s/fant004/10.htm

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