Moskau
Boom der Orthodoxen

Von Judith Huber
04/05

trend onlinezeitung

Viele nach Israel emigrierte Juden und Jüdinnen kehren nach Russland zurück. Der russische Antisemitismus hält sie nicht davon ab.

Das Möbel-Shoppingcenter an der grossen Ausfallstrasse zum Moskauer Flughafen Scheremetjewo hat Ähnlichkeit mit einem Ufo. Der zentrale Teil ist flach wie eine Untertasse, in der Nacht blinken hunderte von Lichtern und Leuchtschriften in der Dunkelheit. «Grand» heisst das Prachtstück postmoderner russischer Architektur. Hier hat Aleksander Jelin Arbeit als künstlerischer Leiter gefunden. Der 45-jährige russische Jude ist 1990 nach Israel emigriert. Anfang 2000 ist er nach Moskau zurückgekehrt. «In Russland gibt es viel mehr Möglichkeiten als in Israel», sagt Jelin. «Ich bin hierher zurückgekommen und habe schnell Karriere gemacht. Klar ist es in Moskau anstrengend und schwierig. Doch alle meine Bekannten, die in den letzten Jahren nach Russland zurückgekehrt sind, haben innerhalb eines Jahres ihren Lebensstandard, den sie in Israel hatten, um ein Vielfaches verbessert.» Er fügt an: «Wer hätte das Anfang der neunziger Jahre gedacht! Damals war es schrecklich in Moskau. Man musste dauernd Schlange stehen, die Leute waren böse und aggressiv. Israel dagegen sah wie ein normales, sympathisches Land aus.» Rund eine Million russischer Juden und Jüdinnen sind Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre nach Israel ausgewandert. Sie flohen vor dem wirtschaftlichen und sozialen Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der alltäglichen Unsicherheit und dem grassierenden Antisemitismus. Nun kehrt ein Teil von ihnen wieder zurück. Allein 2002 und 2003 haben mehr als 60 000 russische Juden und Jüdinnen Israel den Rücken gekehrt und sind nach Russland zurückgegangen. Die russische Wirtschaft boomt, die israelische hingegen bewegt sich im Krebsgang. Dazu kommt die allgemeine Stabilisierung der politischen Situation - verglichen mit der Unsicherheit in den Jahren der Perestroika und der Regierung Boris Jelzin ist dies in den Augen der Bevölkerung ein grosser Fortschritt. Der oberste Rabbi Russlands, Berl Lasar, nennt einen weiteren Grund für die Rückkehr russischer Juden. «Sie fühlen sich in Israel nicht integriert», sagte er letzten April in einem Interview mit der Zeitung «Jewish Press». «Ich verstehe, dass Israel in einer wirtschaftlichen Krise steckt und nicht für alle Arbeit hat. Aber den russischen Einwanderern war versprochen worden, dass Israel sich um sie kümmern wird. Das ist nicht geschehen. Und die letzten Einwanderer aus Russland werden von der israelischen Gesellschaft nicht als volle Israelis akzeptiert, wie das mit früheren russischen Einwanderern der Fall gewesen ist.»

Verlagerte Aggression

Sogar der russische Antisemitismus scheint erträglicher geworden zu sein. Da ändern auch Skandale wie der Ende Januar veröffentlichte antisemitische Brief wenig, in dem «patriotisch» gesinnte Intellektuelle und Parlamentsabgeordnete, darunter auch Mitglieder der Kommunistischen Partei, zur Auflösung jüdischer Organisationen aufriefen. «Einen gewissen Prozentsatz Antisemiten wird es in Russland immer geben. Aber verglichen mit den letzten Jahren der Perestroika, ist die Situation heute viel besser», sagt der 43-jährige Andrej, ein Kunde in einem Buchladen einer Moskauer Synagoge. «Damals schien es, als ob alle Juden Russland verlassen würden. Sie waren nervös und erwarteten Pogrome.» Andrej attestiert der russischen Regierung, dass sie sich politisch korrekt verhält. Er ist sich aber bewusst, wie viel Gewalt und Rassismus gegenüber anders Aussehenden und Fremden es in der russischen Gesellschaft gibt. Doch diese Aggression richte sich heute hauptsächlich gegen Menschen aus dem Kaukasus, sagt Andrej. Aleksander Jelin hat eine ähnliche Erfahrung gemacht. Es habe eine Verlagerung der Aggression gegeben, sagt er. Allerdings sei es nicht möglich, den Antisemitismus in Russland völlig auszurotten.

Das jüdische Leben in Russland erlebt seit ein paar Jahren eine Renaissance, besonders das religiöse. Synagogen werden restauriert und wieder in Betrieb genommen, jüdische Gemeinschaftszentren gehen auf, es gibt Schachklubs, Bibliotheken, Buchläden, Kinos, koschere Läden, Verlage, Zeitungen, Theater und Frauenorganisationen. Diese Entwicklung hat unter anderem mit den RückkehrerInnen aus Israel zu tun, die mit einer genaueren Vorstellung über jüdische Identität und jüdisches Leben nach Russland kommen, als dies die völlig assimilierten Juden und Jüdinnen haben, die in Russland geblieben sind.

Ein Motor dieser Entwicklung ist die ultraorthodoxe Chabad-Bewegung mit Sitz in New York und über 2200 Zweigstellen in der ganzen Welt. Sie gilt als weltweit grösste orthodoxe Bewegung und wird auch von vielen nichtorthodoxen Juden unterstützt. Chabad ist eine chassidische Bewegung. Ihre Theologie basiert auf der jüdischen Mystik der Kabbala, ihre AnhängerInnen richten sich streng nach den Gesetzen der Thora und glauben an das Kommen des Messias. Dieses, so ihre Überzeugung, kann mit der strengen Beachtung der religiösen Regeln begünstigt werden. Gegründet wurde die Bewegung, die auch Lubawitscher Chassidismus genannt wird, im späten 18. Jahrhundert von Rabbi Schneur Zalman in der weissrussischen Stadt Lubawitsch. Im 20. Jahrhundert machte der siebte Lubawitscher Rebbe, Menachem Mendel Schneerson, aus der ehemals kleinen, vom Holocaust fast vernichteten Gemeinschaft eine weltweite Bewegung mit heute über 200 000 Mitgliedern. Schneerson wurde 1902 in der Ukraine geboren, lebte in Berlin und Paris und flüchtete 1941 vor den Nazis nach New York, wo er die Führung der Bewegung übernahm. Auch nach seinem Tod 1994 wird er weiter verehrt, seine Lehre wird über Internet, Videos und Bücher verbreitet. Ein Ziel von Chabad ist, alle Juden dieser Welt zu erreichen. Rund um die Welt arbeiten Gesandte, so genannte Schlichim. Sie gründen Synagogen, Schulen und Begegnungszentren. Mit Kampagnen versuchen sie, jedem einzelnen Juden die jüdischen Gesetze näher zu bringen und ihn zur strengen Beachtung der Gesetze der Thora anzuhalten. Systematisch durchkämmen Schüler der Chabad-Bewegung die Städte, um Juden ausfindig zu machen und sie zum Beten zu bringen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schickte Schneerson hunderte von «Schlichim» in die ehemals sozialistischen Staaten. Mit grossem Erfolg. Ende Oktober konnte der Direktor der Föderation der Jüdischen Gemeinden Russlands, Abraham Berkowitz, an der nationalen Konferenz befriedigt feststellen: In Russland gebe es «eine der sich am schnellsten entwickelnden jüdischen Gemeinschaften der Welt». Die Föderation der Jüdischen Gemeinden Russlands ist die grösste jüdische Organisation des Landes und wird von der Chabad-Bewegung dominiert. Auch der höchste Rabbiner Russlands, Berl Lasar, gehört zu den Lubawitscher Chabad.

Ein umtriebiger Rabbi

Einen wichtigen Teil zur jüdischen Renaissance in Russland trägt auch Rabbi Itzhak Kogan bei. Er steht der Chabad-Synagoge in der Bolschaja Bronnaja im Zentrum Moskaus vor. Der 59-Jährige mit dem schwarzen Hut und dem langen weissen Bart stammt aus einer orthodoxen Familie, die zu Sowjetzeiten den jüdischen Untergrund in Leningrad angeführt hatte. Sein Grossvater wurde hingerichtet, weil er beim Backen von Mazze erwischt worden war. Rabbi Kogan kämpfte vierzehn Jahre darum, nach Israel ausreisen zu dürfen. 1989 erreichte er sein Ziel. Doch nur ein Jahr später schickte ihn sein geistlicher Vorgesetzter, Rabbi Schneerson, nach Russland zurück - mit dem Auftrag, das orthodoxe jüdische Leben dort wieder aufzubauen. Kogan ging widerwillig, machte sich aber mit grossem Eifer an die Arbeit. Er erreichte innert kürzester Zeit, dass die Stadt Moskau ihm und der jüdischen Gemeinde die alte chassidische Synagoge in der Malaja Bronnaja übergab. Die Synagoge war 1883 errichtet worden und wurde 1937 geschlossen und zu einem Versammlungsraum für Gewerkschaften umfunktioniert. Der damalige Rabbi wurde wegen «antisowjetischer Aktivitäten» erschossen. In dem alten Gebäude fand der neue Hausherr ein altes Gebetsbuch des letzten Rabbis. Und im Gebetsraum entdeckte er den Eingang eines unterirdischen Tunnels - ein Fluchtweg für den Fall eines Pogroms, angelegt Ende des 19. Jahrhunderts. 1991 konnte Rabbi Kogan die Synagoge wieder eröffnen. Seitdem wurde sie drei Mal Ziel eines Bombenattentates. Nur dank viel Glück ist dabei niemand getötet worden. Die Behörden haben keinen Täter gefasst. Trotz dieser schlechten Erfahrungen schätzt Rabbi Kogan die Lage der russischen Juden positiv ein. «Die über siebzig Jahre religiöser Verfolgung sind zu Ende», ist er überzeugt. «Noch nie in der Geschichte hatten Russlands Juden so viele Möglichkeiten, sich kulturell, religiös und sogar politisch zu betätigen wie heute.»

Der umtriebige Rabbi hat viel erreicht. Die Synagoge ist wieder zu einem Zentrum orthodoxen jüdischen Lebens geworden. Letzten Herbst wurde ihr mehrere Millionen Franken teurer Um- und Ausbau fertig. Die alte Synagoge ist nun in einen Glaskörper gehüllt. Ein zylinderförmiger, futuristisch anmutender Anbau bietet Raum für Hochzeiten und Feste, ein Gemeinschaftszentrum, Schulräume, einen Buchladen und einen Leseraum und sogar ein den religiösen Vorschriften entsprechendes Bad. Der Neubau beherbergt ausserdem ein Geschäft mit koscheren Lebensmitteln. Täglich erhalten hunderte von älteren und bedürftigen Gemeindemitgliedern Lebensmittel und Medizin. Rabbi Kogan versorgt die Gläubigen in Moskau und Umgebung schon seit längerem mit koscherem Fleisch. Er hat vor ein paar Jahren erreicht, dass in einer Moskauer Fleischfabrik koscher geschlachtet wird. Mehrmals in der Woche legt er sogar selber Hand an.

Der Kampf um alte Schriften

Ein weiteres, vielleicht noch wichtigeres Ziel jedoch ist noch nicht erreicht. Kogan bemüht sich im Auftrag seiner Bewegung darum, die alte Bibliothek des fünften Lubawitscher Rebbe vom russischen Staat zurückzuerhalten. Die umfangreiche Büchersammlung war vom Rebbe bei seiner Flucht vor der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg in Russland gelassen worden. Nach der Revolution beschlagnahmten die sowjetischen Behörden die religiösen Schriften. Die über 12 000 Bücher und 381 Manuskripte befinden sich heute in der Russischen Staatsbibliothek in Moskau, der früheren Lenin-Bibliothek. Seit 2003 sind die Werke in einem speziellen Leseraum zugänglich. Ein zweites wertvolles Archiv der Lubawitscher mit 25 000 handgeschriebenen Seiten lagert im Staatlichen Russischen Militärarchiv. Trotz jahrelanger Bemühungen höchster US-Politiker - darunter auch der ehemalige Präsident Bill Clinton und sein Vizepräsident Al Gore - und zahlreicher Versprechen der russischen Staatsführung wurde das Archiv Chabad bis heute nicht zurückgegeben. Chabad möchte die wertvollen religiösen Schriften ihrer zentralen Bibliothek in New York zuführen. Doch nun könnte Bewegung in die Sache kommen: Im November letzten Jahres reichte Chabad in Los Angeles eine Klage gegen den russischen Staat ein. Das Zurückbehalten der religiösen Schriften verletzte internationales Recht, argumentieren die Anwälte. Im Dezember schrieben Mitglieder des US-Senats und des Kongresses in gleicher Sache an den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und nun hat sich auch Aussenministerin Condoleezza Rice eingeschaltet. Vor dem Senat versprach sie im Januar, auf Russland in der Sache Druck auszuüben.

Zahlenstreit

Wie viele Juden und Jüdinnen leben heute in Russland? Das ist gar nicht so einfach festzustellen. Die letzte Volkszählung ergab die offizielle Zahl von 230000. So viele Russinnen und Russen hatten bei der Frage nach der «Nationalität» mit «jüdisch» geantwortet. Der oberste Rabbi Russlands, Berl Lasar, hält diese Zahl jedoch für viel zu niedrig. Tatsächlich gebe es in Russland über eine Million Juden und Jüdinnen, vielleicht sogar bis zu zwei Millionen, sagt Lasar. In Moskau allein leben nach seiner Schätzung über 500000 Juden und Jüdinnen. Nach dem Verständnis von Berl Lasar sind alle diejenigen jüdisch, die auf mütterlicher Seite jüdische Vorfahren haben - auch wenn sie davon nichts wissen, christlich getauft sind oder atheistisch leben. Die Föderation Jüdischer Gemeinden Russlands beschloss an ihrem Kongress letzten Herbst, der Frage selber nachzugehen: Sie will jetzt herausfinden, wie viele Juden und Jüdinnen in Russland leben.

http://www.chabad.org/
http://www.chabad.ch/
www.relinfo.ch/chabad/

Editorische Anmerkungen

Die Nachricht wurde gespiegelt von
http://www.woz.ch/artikel/2005/nr12/international/11588.html