Das hat dem Moralhaushalt der Reformrepublik noch gefehlt:  Ein neues Geschichtsbild präsentiert das Dritte Reich als "Wohlfühl-Diktatur" mit Spätfolgen

von Red. GegenStandpunkt
04/05

trend onlinezeitung
Geschichte, heißt es, muss immer wieder neu geschrieben werden. Und, auch daraus macht die Kunst der Geschichtsdeutung keinen Hehl, jede Neuinterpretation der Vergangenheit erfolgt im Geiste des Zeitgeistes, in welchem ihr Autor beheimatet ist. Das macht Geschichtsbilder - ausgerechnet - 'aktuell' und eignet sich angeblich super zur geistigen 'Orientierungshilfe' der Zeitgenossen. Götz Alys neue Hitler-Interpretation (Hitlers Volksstaat - Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/Main 2005) hält sich streng an diesen moralischen Kreisel und lässt sich von dem sehr klassenbewussten Reformgeist Schröder-Deutschlands zu neuen Fragestellungen und Paradigmen inspirieren. Hitlers Verbrechen, insbesondere aber einige noch heute real existierende 'sozialstaatliche Spätfolgen' der braunen Ära erscheinen so in einem völlig neuen Licht. Das "provokante Buch" (Die Zeit, 10.3.) hat es gleich am Erscheinungstag in die 'Tagesthemen' und alsbald in die Bestsellerlisten geschafft.

Mit seinem zeitgemäßen Blicks zurück beantwortet Aly die alte Frage: "Wie konnte das geschehen?" (35) ein weiteres Mal neu. Grundlage seines neuen Forschens ist somit auch die sehr grundsätzliche Antwort, die diese Frage bereits enthält: Der wuchtige Auftritt des Dritten Reiches in der deutschen Geschichte ist eigentlich 'unvorstellbar'; wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre im Staat, hätte es so ein Verbrechen 'im Namen Deutschlands' nie geben können. Die Grundfrage aller Faschismusforschung lautet also des Näheren, wie es trotzdem zu der allbekannten weltkriegstauglichen Einheit von Volk und Staat kommen konnte:

"Dass das Herrschaftsgebäude Hitlers vom ersten Tag an höchst labil gefügt war, ist bewiesen. Zu fragen ist, wie es stabilisiert wurde." (35)

Von daher begibt sich Aly - wie alle Faschismusforscher vor ihm - auf die Suche nach Methoden der Stimmungsmache seitens der Führung und auf Seiten des Volkes nach Motiven fürs Mitmachen, die mit der Sache, in der man mitgemacht hat, nichts oder allenfalls sehr indirekt was zu tun haben. Im Unterschied zu seinen Kollegen, die viel von Manipulation, Verführung und Terror sprechen, wartet Aly im Gestus des ganz der Wahrheit verpflichteten Tabubrechers mit einer spektakulären Reaktivierung der Kollektivschuldthese auf: Materielle Bestechung seitens des Regimes und die Bestechlichkeit seitens des Volkes präsentiert er als den Kitt, der das "Spannungsverhältnis zwischen Volk und Führung" (35) bis zum bitteren Ende funktional gemacht hat.

Das Dritte Reich - ein "Fürsorgestaat"

Zum Beleg dieser späten Neuentdeckung präsentiert Aly zunächst eine für den Beweiszweck sorgfältig sortierte Faktenlage: Aly inszeniert Hitler und sein Gefolge als

"klassische Stimmungspolitiker", die "sich fast stündlich fragten, wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern konnten." (36).

Aly weiht seine Leser in die Techniken der Stimmungsmache ein, wenn er fakten- und fußnotenschwer schildert, wie die nationalsozialistische "Politik der volksnahen Wohltaten" (36) ein wahres Füllhorn sozialpolitischer Gaben über die Durchschnittsarier ausgoss: Familienausgleich, Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags usw. belegen für Aly die "Fürsorglichkeit des Regimes" (38). Sogar der Stand der Gerichtsvollzieher, erfährt man, musste sich ein "soziales Empfinden" (21) zulegen.

Gleichzeitig sorgte die braune "Politik der sozialen Gerechtigkeit" (37) für mehr Chancengleichheit und für eine höhere Aufstiegsmobilität, verordneten Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge sowie eine Verdoppelung der Urlaubstage mitsamt tariflichem Urlaubsgeld. Insbesondere bei der Finanzierung ihres Krieges achteten sie peinlich genau darauf, dass die eh schon knappen Kassen der lohnabhängigen Volksgenossen nicht auch noch mit zusätzlichen Steuern behelligt wurden.

Aus Alys Sicht sind all diese Maßnahmen des "nationalen Sozialismus" (38) keine zur Herstellung und Pflege einer 'gesunden' und damit leistungs- und schlagkräftigen nationalen 'Volksgemeinschaft' - da glaubt er den einschlägigen Quellen kein Wort -, sondern ein einziger, monströs dimensionierter Bestechungsversuch der braunen Gangster:

Mit einem
"sozial- wie rassenimperialistisch gespeisten und kriegssozialistisch versüßten Wohlleben" (326) "erkauften" sich die Nazis "den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die Gleichgültigkeit jeden Tag neu" (36).

Diese kühne Interpretation lebt ganz von Alys freiheitlich-demokratischen Überzeugung darüber, was in Zeiten des nationalen Notstands, insbesondere aber in Vorkrieg- und Kriegszeiten eigentlich fällig ist: Ein anständiger, d.h. die nationalen Rechte verteidigender Krieg wie auch die dafür notwendige Aufrüstung in seinem Vorfeld sind sachgerecht nur durch eine nationale Kraftanstrengung und das heißt durch eine bedarfsgerecht gesteigerte Ausbeutung der Massen zu finanzieren. Von daher erscheint es als einziges Geschenk, dass Hitler dies nicht so gehandhabt hat und so manche - für Aly viel zu viel - 'Rücksicht' auf sein für höchst anspruchsvolle Vorhaben verplantes Menschenmaterial genommen hat.

Da wurden die Lohnabhängigen doch glatt von Kriegssteuern verschont, während die Besserverdienenden und Vermögenden ganz schön belastet und sogar die exorbitanten Gewinne der Rüstungsindustrie abgeschöpft, die Körperschaftssteuer erhöht und die Hausbesitzer zu einer Sondersteuer vergattert wurden. Ein Mitglied der heutigen Reform-Republik merkt da sofort: Da steht alles auf dem Kopf!

Zur weiteren quellenmäßigen Stützung seiner Bestechungsthese wendet sich Aly den Bestochenen zu. Extensiv schlachtet er die landläufige Tour aus, die noch jeder nationalistischen Gesinnung eigen ist, die das Wohl der Nation als absolute Voraussetzung des eigenen auffasst und deswegen auf eben dieses sehr prinzipiell zu verzichten bereit ist: Sie sucht - und findet - Anhaltspunkte dafür, dass sich ihr nationalistischer Idealismus materiell rentiert.

Wegen der nichtigsten Anlässe sind solche unerbittlich guten Bürger dann nicht nur zufrieden, sondern auch noch stolz auf ihre Mitgliedschaft in 'ihrer' Nation. Natürlich gibt es massenhaft zweckdienliches Quellenmaterial, das die Zufriedenheit des arischen Untertanen über alle möglichen Maßnahmen seiner neuen Führung dokumentiert. All solchen Äußerungen glaubt Aly - hier ganz quellenunkritisch - aufs Wort: Die Leute fühlten sich gut behandelt, also waren sie es auch. Zeitzeugen dieser Art zitiert Aly zuhauf - sogar der junge Heinrich Böll, der von seiner Dienstfahrt an der Westfront zu Hause anfragt, was er denn Nettes per Feldpostpäckchen schicken solle, kommt genüsslich zu Wort -, um aus diesem Wahn der ganz normalen Patrioten den Grund für ihr 'Mitmachen' (bzw. für die Unterlassung ihres eigentlich zu erwartenden Widerstands) zu machen.

Alys Beweisführung bzw. das Konstruktionsprinzip seines Geschichtsbildes kommt über das obligate 'cui bono?' jeder einfältigen Kriminalstory nicht hinaus, welches hinter jedem nächstbesten Vorteil, der sich aus einem Verbrechen ergibt, gleich das Tatmotiv und dahinter den Schuldigen vermutet. Das lässt ein Geschichtsbild entstehen, das sich nur noch als Wahnwitz charakterisieren lässt: Mit kleinen Geschenken wurden die Deutschen in Krieg und Völkermord gelockt.

Aus der Heimatfront wird eine Ansammlung von "Nutznießern und Nutznießerchen" (361), aus dem menschlichen Kanonenfutter wird eine Bande "bewaffneter Butterfahrer" (361). Das deutsche Volk, ein Heer von verhätschelten Schnäppchenjägern, das sich bereitwillig für den Endsieg verheizen ließ, solange es ihn nicht auch noch aus der eigenen Tasche zu bezahlen hatte, fiskalisch gerecht behandelt wurde und gelegentlich einen französischen Haushalt ausrauben durfte. Die Billigung eines Völkermords hält Alys für erschöpfend 'motiviert', wenn Kriegswitwen ein paar Spielsachen für die Kleinen und ausgebombte Rentner ein paar Secondhand-Klamotten abbekommen.

Krieg und Rassenkrieg - eine Gegenfinanzierung der 'sozialpolitischen Wohltaten'

Wenn die braunen Populisten ihr "sozialpolitisches Appeasement" (360) nur als Funktion ihres Machterhalts betrieben, was wollten sie dann eigentlich? Die Antwort liegt auf der Hand: Bloß ihre eigene Macht! Ein einziger Verrat am Staatszweck. Hitlers "systematische Bestechung mittels sozialer Wohltaten" (333) stellt nach Alys sachkundiger Beurteilung eine enorme haushaltspolitische Verschwendung dar. Eine Verantwortungslosigkeit dieses Ausmaßes rächt sich natürlich. Sie verschlingt nämlich massenhaft Geld. Die kleinen Geschenke der "Gefälligkeitsdiktatur" (36) zur Erhaltung der guten Stimmung im Volk erklärt Aly zum Kern von Hitlers Verbrechen, weil sie mit Notwendigkeit zum "staatlich organisierten Großraub" (346) führten. "Daraus ergab sich der immanente Zwang (!) zu Krieg und Raub." (353).

Der Beifall, den Aly gerade auch von jüdischer Seite für seine schonungslose Schuldsprüche über seine Landsleuten bekommt, übersieht die Tücken, welche in einer solchen Motivforschung mit ihrer Trennung von Vorsatz und Tat liegen. Sie schließt nämlich keine kleine Verharmlosung Hitlers ein: Nicht einmal er wollte hiernach den Krieg oder die Judenverfolgung kraft seines politischen Programms, er musste den von seinen eigenen Versprechen geweckten Materialismus der Leute mittels Raum und Mord bedienen, um sich an der Macht zu halten. So kann man Alys Geschichte auch andersherum lesen: Hitler ist bloß wegen seines Machtwillens - und welcher Politiker hat den nicht reichlich - und seiner damit verbundenen populistischen Machenschaften in die 'unvorstellbaren Verbrechen' hineingeschlittert "Die Sorge um das Volkswohl der Deutschen bildete die entscheidende Triebkraft für die Politik des Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens." (345)

Da setzen die Nazis ihr bis zur letzten Konsequenz ernst gemeintes Rassenprogramm in die Tat um und verwerten die jüdischen Hinterlassenschaften. Da plündern sie im Zuge ihrer kriegerischen Wiederherstellung deutscher Größe die eroberten Volkswirtschaften und lassen auch die Landser bei Gelegenheit privat plündern. All das ergibt einen Beitrag für die Kriegswirtschaft. Aly dreht - wie schon bei den bestochenen deutschen 'Nutznießerchen' - die Sache ganz einfach um und schon kommt Sinn in den 'Wahnsinn': Banale Beute wird zum Zweck eines Krieg, der immerhin die Gewaltverhältnisse in ganz Europa und der ganzen Welt auf den Kopf stellen sollte. Der Krieg mutiert damit zum "konsequentesten Massenraubmord der modernen Geschichte" (318). Alys harter Urteilsspruch: Die Einheit von Volk und Staat bestand in ihrem verbrecherischen Eigennutz. Und genau das hat praktische und moralische Staatstraditionen begründet, die 1945 nicht untergegangen sind.

Der heutige Sozialstaat - eine historische Hypothek der NS-Verbrechen

Der Nutzeffekt solcher historischer Idiotien sind die Lehren, welche sich für die Gegenwart aus ihnen ergeben: Aly will drastisch vorführen, wie Populismus Staat und Volk ins Verderben stürzt. Wer seinem Volk Gutes tut, verdirbt es, muss verrückt sein und führt Verbrecherisches im Schilde; die Begriffe "populär und verbrecherisch" (38) sind für Aly synonym. Ein historisches Exempel mit deutlichem Gegenwartsbezug: Eine anständige patriotische Gesinnung ist belastbar und bedarf keiner materiellen Zuwendungen; ein nur mittels Bestechung bei Laune zu haltendes Volk ist ein verdorbener Haufen. Das deutsche Volk hat nicht, wie oft gemutmaßt wird, wegen eines verführten Patriotismus 'mitgemacht', sondern weil es viel zu wenig von diesem hohen Wert zeigte. So kommen nebenbei damalige Maßstäbe der selbstlosen Opferbereitschaft für Volk und Staat zu einer gewissen Ehrenrettung.

Dasselbe gilt analog für die politische Führung: Auch und gerade an 'populistischen' Zuwendungen entlarvt sich eine 'bad governance'. Die sind nicht nur vom Standpunkt einer verantwortlichen Haushaltsführung verbrecherisch, sondern führen sachzwangartig immer mehr ins Verderben. Der einzig wirklich zu befolgende Sachzwang ist daher eine kompromisslos klassenbewusste Führung der Regierungsgeschäfte. Eine verantwortungsbewusste nationale Führung versteht sich bei Bedarf auf Blut- und Tränenansagen ans gemeine Volk und widmet ihre Fürsorge ganz den Geschäftsbedingungen ihrer Unternehmerschaft.

Kapitalismus pur ist angesagt: Zur Bekräftigung dieser Lehre kommt Aly in seinem Schlusssatz noch mit dem Holzhammer. In gezielter Abwandlung der alten Horkheimer-Sentenz, nach der vom Faschismus schweigen soll, wer vom Kapitalismus nicht reden will, proklamiert Aly, dass zu wenig Kapitalismus der Grund für das 'größte Verbrechen, das je in deutschem Namen begangen wurde' war: "Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutschen nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen." (362)

Die Pikanterie der Geschichte: Hitlers Bestechungssystem hat nicht nur in der DDR bis unlängst eine Fortsetzung gefunden, auch einige wesentliche Teile des heutigen - und heute zur Belastung gewordenen - bundesrepublikanischen Sozialstaats wurden damals eingeführt, verdanken sich also solchen 'Motiven':

"Nationalsozialistische Sozialpolitiker entwickelten die Konturen des seit 1957 in der BRD selbstverständlichen Rentenkonzeptes, in dem alt und arm nicht länger gleichbedeutend sein sollten." (20)

Und allgemein:

"Es waren solche Gesetze, die den nationalen Sozialismus populär machten und in denen auch Konturen der späteren Bundesrepublik Deutschland durchscheinen." (22)

Das wirft ein böses Licht auf den Sozialstaat. Haben wir womöglich wegen Hitlers Bestechungsmanöver jahrzehntelang über unsere Verhältnisse gelebt und müssen jetzt schmerzhafte Einschnitte hinnehmen? Ja, verkündet Aly den verwöhnten, besser: bis dato korrumpierten Deutschen, deren viel zu hohes sozialstaatliches Anspruchsniveau ebenso zu den unseligen Nachwirkungen Hitlers gehört wie ihr jammernder Widerstand gegen die fälligen Korrekturen:

"Vom Kündigungs- über Mieter- bis zum Pfändungsschutz bezweckten Hunderte fein austarierter Gesetze das sozialpolitische Appeasement, Hitler zeichnete damit die politisch-mentalen Konturen des späteren Sozialstaats der Bundesrepublik vor. Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft." (Götz Aly in der SZ vom 1.9.04)

So holt die historische Ideologie die politischen Vorgaben auf: Längst hat Schröder den Sozialstaat zum Abschuss freigegeben und Historiker à la Aly betrachten es als ihre historiographische Aufgabe, die guten Traditionen, die ihm lange Zeit nachgesagt wurden, durch schlechte zu ersetzen: Wurde er bislang mit der glanzvollen Tradition seines Gründervaters Bismarck historisch approbiert - und stellte jahrzehntelang einen erstrangigen Beweis für die Güte des nicht manchester-kapitalistischen, sondern sozial-marktwirtschaftlichen Systems dar - wird er jetzt in die Tradition Hitlers gestellt, damit in einen ursächlichen Zusammenhang mit den deutschen Großverbrechen gebracht und historisch desavouiert.

Das hat der geistigen Lage der Nation offenbar noch gefehlt: Sozialabbau im Namen der Vergangenheitsbewältigung. Historische Gründe für ganz andere Gründe.

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