„Wer sich nicht mehr wundern
und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits
tot.“
Einstein ist ein Klischee.
Mediales Abziehbild ebenso wie realer Spezialmensch, hat
er im 20. Jahrhundert wie kein anderer das Bild des
scientific weirdo, der ja kein fieser Nerd sein muß,
geprägt. Wenn Erfindertypen des 19. Jahrhunderts wie
Werner von Siemens oder Thomas Alva Edison in
popkulturellen Klischees wie der Comicfigur Daniel
Düsentrieb ihren Ausdruck gefunden haben, die den
gründerkapitalistisch-industriellen Kontext verleugnen,
so steht Albert Einstein im öffentlichen Bewußtsein wie
seither vielleicht nur noch der Astrophysiker Stephen
Hawking für den etwas entrückten, vielleicht
weltfremd-spinnerten Theoretiker, der das Kindliche in
sich nie ganz abgetötet hat, wie es das Klischee will.
Einstein, dessen Name mit
seinen hellen Vokalen lautmalerisch bereits unfreiwillig
klug und gewitzt klingt, ist nicht erst seit
80er-Jahre-Schundfilmen wie „Einstein junior“ zur
veritablen Witzfigur der Kulturindustrie geworden. Dazu
mag möglicherweise jenes Foto aus den fünfziger Jahren
beigetragen haben, das ihn mit herausgestreckter Zunge
zeigt und ursprünglich nur eine private Grußkarte für
Freunde gewesen sein sollte. Dieses Foto ist es, das so
prominent geworden ist, daß es nicht nur den Weg in die
kanonisierte Bilderwelt des 20. Jahrhunderts gefunden
hat, sondern darüberhinaus das Bild der „Wissenschaft“
in der Öffentlichkeit weg vom patriarchalen
Herrschaftskontext des 19. Jahrhunderts in eine neue
Sphäre der postmodernen, drollig-clownesken
Selbstreferentialität gehoben hat.
Das Foto muß man, zusammen
mit jener berühmten, nachgerade ikonografischen Aufnahme
Che Guevaras, zum frühen Beispiel unfreiwilliger Pop Art
rechnen.
Sogar der Schnurrbart ist
nicht wie zumeist Zeichen überbordender Männlichkeit und
Herrschaftsanspruchs wie vor allem in der politischen
Unkultur der ersten Hälte des 20. Jahrhunderts, sondern
als Accessoir schüchterner Personen wie der Zeitgenossen
Charles Chaplin oder Walter Benjamin, Zeichen
zurückhaltender Zivilisiertheit.
Bereits zehn Jahre nach dem
Tod Einsteins spielt Mitte der sechziger Jahre Jack
McGowran in einer Gruselkomödie von Roman Polanski den
ebenso zerzausten wie zerstreuten aber scharfsinnigen
Prototyp des Wissenschaftlers: Dr. Abronsius, der eine
mehr als zufällige Ähnlichkeit zum Erscheinungsbild
Einsteins aufweist. Doch der „Tanz der Vampire“,
„Einstein junior“ und „Zurück in die Zukunft“ sind nur
die bekanntesten Beispiele für alberne filmische
Verwurstung, vor der anscheinend niemand gefeit ist.
Selbst die
Scientology-Kirche wirbt seit Jahrzehnten mit einem
seltsam entrückt und scheel anmutenden, gezeichneten
Einstein-Konterfei und dem ihm zugeschriebenen –
Hirnforschern würdigen – Zitat „Wir nutzen nur 10%
unseres geistigen Potentials“, mit dem er kurzerhand zum
esoterischen Übermenschen erklärt wird. Und man ist
geneigt zu schmunzeln ob dieser gewalttätigen
Vereinnahmung, die eigentlich nur noch von jener
übertroffen wird, mit der Deutschland den
antifaschistischen Emigranten heim ins Reich zu holen
angetreten ist in diesem sog. Einstein-Jahr 2005.
Was ist das originär
Besondere an Einsteins Theorie der Relativität? Gibt es
eine reale Grundlage für das Klischeebild vom
dissidenten, unbestechlichen Forscher?
Die spezielle
Relativitätstheorie, vor hundert Jahren vorgestellt,
reißt en passant das kategoriale Grundgerüst der
klassischen Physik ein. Es galt, bestimmte – marginale –
Phänomene v.a. aus der Astronomie zu erklären, woran die
herkömmliche Physik auch mit immer neuen, immer
abenteuerlicheren Erklärungs- und
Interpretationsversuchen und -verrenkungen Ende des 19.
Jahrhunderts regelmäßig gescheitert ist. Einstein nun
fand, daß die praktischen Anschauungskategorien von
Länge, Raum und Zeit so einfach nicht sind, wie sie sich
der euklidischen Unmittelbarkeit im Alltagsleben
darstellen. Vielmehr postulierte Einstein mit seinem
Kalkül, daß Zeit – objektiv! – langsamer vergeht,
Strecken sich stauchen und Massen schwerer werden, wenn
man sich mit horrenden Geschwindigkeiten bewegt
(Lorentz-Transformation). Das ist insofern paradox, als
„Geschwindigkeit“ doch eine gleichsam abgeleitete
Kategorie, nämlich eben Strecke pro Zeit ist; auch
resultiert aus diesem quasi auf den Kopf gestellten
Herangehen, daß es eine maximale Geschwindigkeit gibt,
die prinzipiell niemals überschritten werden kann,
ähnlich wie es einen absoluten Nullpunkt der Temperatur
gibt: es ist dies eben die Geschwindigkeit c der
Ausbreitung des Lichts. Die verblüffende und sehr
verwirrende Tatsache, daß die Lichtgeschwindigkeit –
unabhängig vom Bewegungszustand des Bezugssystems! –
immer als konstant gemessen wurde, hatte die spezielle
Relativitätstheorie überhaupt maßgeblich motiviert.
In nachfolgenden Jahrzehnten
wurden die abenteuerlichen, zunächst abstrus anmutenden
Hypothesen der Längenkontraktion und Zeitdilatation
experimentell unterfüttert.
Zwischenzeitlich –
mittlerweile tobt der erste Weltkrieg in Europa,
flankiert von einem Aufwallen des Chauvinismus –
entwickelt Einstein die sog. allgemeine
Relativitätstheorie, die als undurchsichtig und
schwerverdaulich gilt, weil sie die strukturellen
Verzerrungen, denen schon die spezielle
Relativitätstheorie das raumzeitliche Kontinuum
unterworfen hat, auf die Spitze treibt. Die räumliche
Struktur wird demnach unter Gravitations-, d.h.
Masseneinfluß verzerrt („gekrümmt“), sodaß elementare
Tatbestände der klassischen, „euklidischen“ Geometrie
und ihrer Metrik nicht mehr gelten. Dies betrifft,
differentialgeometrisch gesprochen, die sog. innere
Geometrie des Raumes. Man kann sich dies – um die dritte
Dimension verkürzt – anhand einer gewölbten Fläche
vorstellen. Die Wölbung kann man nicht nur gleichsam von
außen beobachten insofern, als die Fläche sich innerhalb
des umgebenden dreidimensionalen Raumes offensichtlich
von einer Ebene unterscheidet. Sondern die Wölbung kann
auch aus Vermessungen bloß innerhalb der nur zwei
Freiheitsgrade der Fläche ermittelt werden. Mit nichts
anderem hat man es beim „gekrümmten“ dreidimensionalen
Raum bzw. vierdimensionalen Kompositum aus Raum und Zeit
zu tun; denn hier kann ja niemand von einer höheren
Dimension aus, also von außen die Krümmung direkt sehen.
Diese Vorgehensweise
erinnert sehr ans gesellschaftliche Pendant, die
„immanente Kritik“; sie geht ja ganz ähnlich vor:
mangels ausreichender realer, subjektiver Distanz zu den
fetischistischen Phänomenen, die niemand redlicherweise
beanspruchen kann, und, um nicht bloß abstrakt zu
moralisieren, wird das Augenmerk auf die Animositäten
innerhalb dieser Anschauungsebene gelegt („Kritik
durch Darstellung“), um diese analytisch zu erfassen und
ihre Konstituenten benennen und langsam transzendieren
zu können.
Freilich hat Einstein die
herkömmliche Physik nicht einfach negiert, sondern in
der Relativitätstheorie aufgehoben, in dem
Sinne, daß die Prognosen der nunmehr „klassischen“ –
nichtrelativistischen – Physik und Mechanik sogenannte
Grenzfälle sind, die bei allen alltäglichen, im
Vergleich zu c extrem langsamen Geschwindigkeiten
den korrekten, relativistischen Aussagen asymptotisch
gleich sind. Nach wie vor belegt jedoch die stets aufs
neue experimentell verifizierte Theorie der Relativität,
daß „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik
geschrieben“ worden zu sein scheint, wie sich Galileo
Galilei ausdrückte.
Eine weitere
Integrationsleistung Albert Einsteins im doch recht
unübersichtlichen Kategoriengeflecht der Physik, die
ihresgleichen sucht, ist die letztendliche Äquivalenz
von Masse und Energie, durch die allseits bekannte
Formel E=mc² zu Unrecht eine Platitüde der
Populärwissenschaft geworden.
Ein Fachidiot war der vermeintlich
harmlose Tüftler gleichwohl nie. Wie die allerwenigsten
Wissenschaftler hat er sein Tun – und Denken – stets
auch von einem Außenstandpunkt aus reflektiert: „Der
Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im
Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen.“
Was ihn nachgerade zum
prominentesten theoretischen Forscher aller Zeiten
macht, wie nun überall zu lesen ist, ist die Radikalität
und nüchterne, wenngleich nicht kühle Distanziertheit,
mit der er das bis dahin Allerselbstverständlichste zur
Disposition stellte. Eine intellektuelle Sprengkraft und
Dissidenz, die er bekanntlich nicht nur in der Fachwelt,
sondern auch im politisch-gesellschaftlichen Leben
geltend zu machen suchte – legendär sind seine etwas
unbeholfenen, aber nur umso sympathischeren Publikums-
und Medienauftritte –, was bei Fachkollegen und in der
Öffentlichkeit gleichermaßen die Rancune der
Konformisten herausforderte. Umso mehr erschaudern läßt,
daß er heutzutage von allen Seiten vereinnahmt wird,
populärwissenschaftlich sowohl wie als Vorbild schnöder
Moralisten.
Im Nachhinein ist die
Relativitätstheorie klassischer Fall für das, was der
Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn einen
„Paradigmenwechsel“ genannt hat, der eine
wissenschaftliche Disziplin oder Lehrmeinung oder auch
Weltanschauung kritisch umkrempelt, was ja durch die
hermetische Struktur der scientific community,
ihrer „Forschung“ und ihres bürgerlichen
Wissenschaftsbetriebs mit allen soziologischen
Implikationen – den Laufbahnen beruflicher Mitläufer –,
von denen sie eben nicht zu trennen ist, schwer bis gar
nicht praktisch zu etablieren ist.
Sie reiht sich damit ein in
andere, überfällige Revolutionen in der Theorie, in der
Geistesgeschichte zwischen Mitte des 19. und Mitte des
20. Jahrhunderts: die unerwünschten Erkenntnisse eines
Karl Marx oder eines Sigmund Freud brachen ebenso harsch
in den selbstgenügsamen wissenschaftlichen Mainstream
ein, wie hernach Dadaismus und Surrealismus in die
Kunst, die sich davon genausowenig wieder erholen
sollte. Der zwanghaften, axiomatischen Methode der
Mathematik machte zur selben Zeit Kurt Gödel mit ihren
eigenen Mitteln den Garaus; um die Creme der
wissenschaftlichen Umwälzer, die nicht zufällig eine von
Flüchtlingen aus Deutschland ist, vorläufig zu
komplettieren.
Die Reaktionen des in beiderlei Hinsicht
zurückgebliebenen Mainstream ließen nicht lange auf sich
warten: wurde das eine als „entartete Kunst“ verfemt, so
ging das andere nicht nur im Falle von Freuds
Psychoanalyse so weit, daß die neuen Erkenntnisse
explizit als „jüdische Wissenschaft“ verschmäht wurden.
Und wie der Freudschen Lehre, die sich auf das „Niedere
im Menschen“ („Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des
Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich
übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud“)
kapriziere anstatt „gesundes“ Pflichtgefühl, Glauben und
Tapferkeit zu thematisieren wie die Küchenpsychologien
vor Freud, der solches als neurotisch entzauberte, so
wurde auch dem „Relativitätsjuden“ Einstein mit seiner
„obskuren Pseudowissenschaft“ eine sog. „deutsche
Physik“ entgegengehalten, die die Probleme, die Einstein
gelöst hatte, im wesentlichen ignorierte. „Wenn ich
mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die
Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen,
ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als
falsch, werden die Franzosen sagen, ich sei Deutscher,
und die Deutschen, ich sei Jude.“ Den pathetischen
Nationalsozialisten mußte ja bereits der Name
Relativitätstheorie eine Provokation sein, ein
Frontalangriff auf ihre totalitär-statische
faschistische Weltanschauung.
„Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt
verschwinden, so bleiben noch Raum und Zeit übrig; nach
der Relativitätstheorie verschwinden aber Raum und Zeit
mit den Dingen.“
Auch wenn es wie ein
Klischee klingt: Heute ist die Relativitätstheorie – wie
so vieles, was zu dieser Zeit gegen versteinerte,
orthodoxe Lehrmeinungen entwickelt wurde – selbst
„klassisch“ geworden. Ohne Marx, Einstein und Freud ist
das vergangene Jahrhundert nicht zu denken. Daß einst
dissident gewesen ist, was heute unzweifelhaft zum Kanon
gehört, zeigt, daß Gewißheiten im Fließen begriffen sind
und, Wissenschaft ohne ihre Geschichte zu lehren, einer
Verstümmelung der Wahrheit gleichkommt. Jedes Kind heute
weiß aus populärwissenschaftlichen Büchern, daß einen
Galileo die Inquisition einzuschüchtern wußte. Daß
Albert Einstein sich mit einem Ungeist ganz ähnlicher
Provenienz konfrontiert sah, gerade auch in der
akademischen Sphäre, und sich 1933 ausdrücklich für
immer aus Deutschland verabschiedet hat, scheint den
Nachkommen seiner Verfolger heute noch peinlich zu sein,
beweist es doch, daß die Gegenaufklärung kein bloß
mittelalterliches Phänomen ist.
„Die Majorität der Dummen
ist unüberwindbar und für alle Zeiten gesichert. Der
Schrecken ihrer Tyrannei ist indessen gemildert durch
Mangel an Konsequenz.“
Den Nobelpreis erhielt er
übrigens 1921 bezeichnenderweise nicht für die
bahnbrechende Relativitätstheorie, sondern für eine
Arbeit über den lichtelektrischen Effekt, eine Vorarbeit
zur Quantentheorie, die sich v.a. seit den zwanziger
Jahren entwickelt hat.
Einstein selbst hat sich
zeitlebens von einer gewissen, quasi esoterischen Lesart
bzw. Ausprägung der Quantentheorie distanziert und sie
als Pseudowissenschaft bekämpft. Er ist als früher und
wohl prominentester Gegner der Quantenmystik kein
Erkenntnisskeptiker oder Besitzstandswahrer überkommener
Anschauungen, sondern das komplette Gegenteil: nicht
bietet er wie die Vertreter der NS-„deutschen Physik“
den bäuerlichen Alltagsverstand gegen das Unverstandene
auf, sondern er formuliert Minimalpostulate an das, was
überhaupt erkannt werden kann, an eine
konsistente Theorie also, die eben gewissen
epistemologisch unhintergehbaren Ansprüchen genügen muß.
Es geht nicht darum, ob ein theoretischer Sachverhalt
der unmittelbaren, bornierten Evidenz widerspricht oder
nicht. Immer schon waren die Kriterien für eine gute
Theorie einzig, ob erstens eine Erklärung der
empirischen Wirklichkeit gelingt, ob diese zweitens
logisch in sich geschlossen und ob sie drittens
kohärent, d.h. auch im umfassenden Zusammenhang
„stimmig“ ist. Und es zeichnet die bereits erwähnten
großen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts aus, daß
sie anfangs so abstrus, so ungeheuerlich, so abgefahren
daherkamen wie sie sich später als unentbehrlich
erwiesen. Die Neuerungen, mit denen das Alte abserviert
wurde, ließen sich jeweils in einigen wichtigen Ideen
zusammenfassen; darin zeigt sich die kohärente Struktur
dieser revolutionären Theorien. Der vormals geltende
Begriff von Realität war seit ihrem Aufkommen, in ihrem
Verständnis nur noch ein chimärenhafter und wirkt heute
längst hölzern und lächerlich. Dieses Schicksal ereilte
die Illusionen vom bürgerlichen Ich, das Marx und Freud
als gesellschaftliche Charaktermaske enttarnten, ebenso
wie die vorrelativistische Mechanik in der
euklidisch-kartesisch-newtonschen Raumzeit, die Einstein
als Trugbild entlarvt hat.
Die sich Physiker nennenden
Quantenspezialisten nun würden sich offenbar allzugern
der dritten, wenn nicht schon der zweiten Forderung
entledigen. Würden sie die Preisgabe der Logik, wie sie
ihre „Theorie“ in strenger Lesart erfordert,
durchziehen, so fänden sie sich – das muß mit Bedauern
und ohne Häme gesagt werden – buchstäblich da wieder, wo
Friedrich Dürrenmatt ihren Berufsstand in seinem
gleichnamigen Drama verortet. Die intellektuellen
Leichtgewichte, die da seit über einem halben
Jahrhundert einen philosophischen
Paradigmenwechsel durch die unausgegorenen Paradoxien
ihrer Quantentheorie herbeizureden versuchen, halten die
grundlegenden Probleme jeder Modell- und Theoriebildung
für Scheinprobleme, ganz so, als bedürfe es zur
Erkenntnis keines denkenden Subjekts mehr. Über den
bürgerlich konstituierten Horizont der geistigen Arbeit,
also auch der naturwissenschaftlichen Denkformen, wie er
einen Alfred Sohn-Rethel umgetrieben hat, haben sie sich
nie den Kopf zerbrochen. Sonst hätten sie bemerkt, wie
sehr und eben nicht zufällig ihre „Theoriebildung“ mit
der allgemeinen Lightversion postmoderner „Erkenntnis“
auch in den konformen Sozialwissenschaften einhergeht.
Und so gehen sie, frisch, fromm, fröhlich, frei, wie
stolze Positivisten nun einmal sind, weiter der
szientistischen Ideologieproduktion „in der Sprache der
Mathematik“ nach, anstatt sich über Minimalanforderungen
wie Kohärenz der Denkformen Gedanken zu machen.
Eine typische vermeintliche
philosophische Implikation der Quantenmechanik ist z.B.,
daß es keine vom Beobachter unabhängige Objektivität
gebe – auf dem Elementarteilchen-Niveau mag das
objektiv (ha!) stimmen, mangels praktischer
Versuchsanordnungen, die die Zustände dieser Teilchen
ohne eigene Beeinflussung messen können. Einen
erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel kann darin
aber nur erkennen, wer die empirische Welt für eine Welt
aus Elementarteilchen – und mehr nicht – hält.
Schade, daß Sohn-Rethel
nicht mehr jene esoterischen Anwandlungen der
„Quantenmechanik“, die sich zu einer obskurantistischen
Ideologie ausgewachsen hat, beim Namen nennen konnte. Wo
jemand wie Einstein noch Kriterien der Kohärenz und
Eleganz zur Beurteilung bzw. Errichtung eines
theoretischen Gebäudes in Anschlag bringen konnte –
heute als steifer und mechanistischer „Geist des 19.
Jahrhunderts“ verschrien und vermeintlich „überholt“ –,
ist heute in der theoretischen Physik mit ihrem
beständig expandierenden Elementarteilchen-Zoo an diese
Stelle ein allgemeines Geraune über das Ende der
Anschauung getreten – und solche Grundlagenphysik stellt
sich als Quasi-Chemie dar, die doch eigentlich Anwendung
der Physik gewesen sein sollte. Und niemand merkt – bzw.
jeder verdrängt, daß ohne eine gewisse Anschauung, die
zunächst den logischen Voraussetzungen jeglicher
Erkenntnis zugrunde liegt, gar keine solche möglich ist.
Heute muß als Spätfolge der
sog. „Quantenmechanik“ ein desolates
erkenntnistheoretisches Durcheinander konstatiert
werden; Figuren wie der Quantencomputer-Fantast David
Deutsch oder der „Österreichische Quanten-Guru“ Anton
Zeilinger, der bezeichnenderweise dem Dalai Lama
(wiederum ein Freund des deutschen Physik-Spiritisten
C.F. von Weizsäcker) seine Erkenntnisse vorführt, fühlen
sich in diesem Tohuwabohu pudelwohl, ohne dabei noch in
irgendeinem Sinne revolutionär sein zu müssen. Forscher,
die dem großen Physiker und Humanisten Albert Einstein
nur mehr durch die drittklassige Imitation äußerlicher
Verschrobenheitsattribute zu gleichen trachten und doch
nie das intellektuelle Format des szientifischen
Alleszermalmers und Nonkonformisten erreichen werden.
Seine vermeintlichen Wiedergänger, längst nicht mehr nur
der bekennende Esoteriker Fritjof Capra („Das Tao der
Physik“), stricken mit ihrem kruden,
erkenntnistheoretisch unbeleckten Theoriewirrwarr
bestens im Mainstream des postmodernen
Ideologienwollknäuels mit. Wer die Möglichkeit und
Notwendigkeit von verständlicher Theorie zur Disposition
stellt, was Einstein nicht nur nie tat, sondern
leidenschaftlich kritisierte und bis zuletzt energisch
bekämpfte, betätigt sich nolens volens als Agent der
Gegenaufklärung. Der Positivismus solcher Forscher sieht
heute freilich anders aus als noch vor hundert Jahren.
Man hat es zu tun mit einer jung-dynamischen
Nerd-Gemeinschaft, die sich aufs Beste darauf versteht,
allerlei Forschungsgelder zu akquirieren, um der
bürgerlichen Gesellschaft ihre zweifelhaften
„Erkenntnisse“ dienstbar zu machen. Das ist heute nicht
mehr die nukleare Wunderwaffe für den kriegerischen
Ernstfall; vielmehr soll der kapitalistische
Normalbetrieb durch ultimative
Datensicherheitstechnologien für die nächsten tausend
Jahre in den Stand eines hermetischen System-Behemoth
versetzt werden, so transzendent gebärden sich die
„visionären“ und ach so dissidenten Quantenmenschen. Ein
Jahrhunderte altes und damit wohl antiquiertes, nur noch
selbstzweckhaftes Gesellschaftssystem nicht beim Namen
zu nennen, gar zu zementieren, und gleichzeitig in
„faszinierenden“ naturwissenschaftlichen Gedankenspielen
von einer Aufhebung der Kausalität daherzufaseln oder
„verblüffende“ Paradoxien von Parallelwelten
durchzuspielen, die „unseren Alltagsverstand“
übersteigen, ist keine ausgemachte Schizophrenie,
Eskapismus gar, ist geschäftige Routine zumindest
solange, wie doch die schnöde Kausalität zwischen
Kopfarbeit und Einkommen, zwischen Einschieben der
Bankkarte in den geduldigen Geldautomaten und
Herausquillen der begehrten Scheine, zwischen
gesellschaftlicher Form und individuellem Elend
fortbesteht.
„Der Horizont vieler Menschen ist ein
Kreis mit Radius Null
– und das nennen
sie ihren Standpunkt.“
Wenn Quantenideologen immer
wieder mit frischer Verve postulieren, daß doch „der
Zufall“ eine wiedergewonnene Rolle in den Gesetzen der
Naturwissenschaft spiele, so ist das nicht nur eine
Konzession an den kommoden, populärwissenschaftlichen
Alltagsverstand und etwas Balsam für die bürgerliche
Seele, die physikalischen Determinismus mit
lebensweltlicher Tristesse zu verwechseln geneigt ist.
Die Behauptung, bei Phänomenen, die keinem
erkennbaren Gesetz folgen, habe man es
notwendigerweise mit unmittelbarem Zufall zu tun,
ist nicht nur so albern und vorwissenschaftlich wie die
eines Neanderthalers, ein Auto könne fahren, weil Autos
offenbar manchmal fahren – ohne die Prozesse der
Energieumsetzung und Kraftentfaltung im Motor zu
analysieren. Die Behauptung des Zufalls trägt ganz offen
die Züge der postmodernen Ideologie (Abwehr der
Aufklärung als „große Erzählung“): die Unterscheidung
zwischen Wesen und Erscheinung wird als überkommener
Strukturalismus verworfen, als anmaßender Objektivismus
denunziert. Die Erscheinung wird krude mit dem Wesen
identifiziert, Faktoren mit Fakten. Gelten sollen nur
noch Beobachtungen; das Erkennbare, das Beobachtete sei
das ganze Reale und nicht vielmehr bloß sein Resultat.
Stochastik sei kein Denk- und Rechenmodell, sondern
direkt physikalische Realität. Daß der unmittelbare
Zufall für die Physik unentbehrlich sei, beweise bspw.
die Tatsache, daß ein Teilchen eher als ein
gleichartiges anderes radioaktiv zerfalle. Dieser große
Wurf hätte schon einem Newton gelingen können: Was, wenn
nicht der Zufall, bedingt, daß ein Apfel eher vom Baum
fällt als ein anderer? Und so gebärdet sich die
etablierte Quantenesoterik als Deutsch’sche Physik,
alter Positivismus in neuem Gewand.
Die Frage, Determinismus
oder Zufall, ist und bleibt eine Glaubensfrage. Die
Naturwissenschaften haben seit jeher durch
fortschreitende Erkenntnis esoterische Erklärungen wie
den Animismus, die Vorsehung oder eben den Zufall
zurückdrängen können; und es ist bezeichnend, daß dem
Zufall in Zeiten beständiger Konfusion und allgemeiner
Ratlosigkeit implizit eine so magische Wunderkraft
beigemessen wird, daß man ihn nicht mehr missen will. Er
bleibt ein letztes Glücksversprechen der
Gegenaufklärung.
Man muß nicht die
Phänomene bestreiten, um das abstrus-ideologische
Gedankengebäude der Quantenmechanik – oder was einmal
ein solches werden sollte – abzulehnen. Dem Positivismus
ist es allerdings Herzensangelegenheit, nichts außer den
Erscheinungsformen ("Phänomenen" eben) gelten zu lassen.
Alles andere sei unwissenschaftlich, weiß der strenge
Mann im weißen Kittel.
„Ingenieur des Universums“
muß sich Albert Einstein, der wohl trotz seines
Brotberufs am Schweizer Patentamt nichts weniger war als
ein Techniker, im dümmlichen Titel der
Jubiläums-Ausstellung eines Berliner
Max-Planck-Instituts heutzutage nennen lassen. Und das
Vereinskäseblatt „Deutscher Ingenieure“, die VDI
nachrichten drucken zum Einsteinjahr eine Würdigung
des großen Physikers, deren Glaubwürdigkeit nicht nur
durch propagandistische Phrasen wie die von der
„Schaffung einer neuen Innovationskultur in Deutschland“
dementiert wird, sondern auch durch die Quintessenz, so
einer wie Einstein hätte heute „keine Chance“ mehr, da
er es „versäumt“ hätte, „Karriere-Netzwerke zu knüpfen“,
was ja nunmal das A und O für den „wissenschaftlichen
Nachwuchs“ sei. Immerhin eine erfrischende Offenheit,
einen solch deprimierenden Sachverhalt derart unverholen
auszuplaudern und implizit als Fortschritt zu preisen.
Schlagwörter wie „Teamarbeit“ belegen hier, daß es kaum
mehr um Sachbezug geht und Reputation keine Funktion der
Erfolgs ist sondern längst umgekehrt. Davon kündet auch
das grauenvolle aber einzig angemessene Wort der
wissenschaftlichen Gemeinschaft, das ja schon
andeutet, wie konformistisch abgedichtet, konservativ
gesinnt und tendenziell männerbündlerisch der
Wissenschaftsbetrieb seit jeher ist; wenn es trotzdem
alle Jahre wieder heißt, „Querdenker“ seien „gefragt“,
dann dementiert sich auch dieser Satz instantan selbst,
denn wenn eines im Begriff kritischen Denkens angelegt
ist, dann, daß es keiner Konjunktur unterliegt.
Das leise Zwischenspiel der
sog. Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre des 20.
Jahrhunderts hat dem trostlosen Einerlei des
Wissenschaftsbetriebs – wie man nun, ein
Dritteljahrhundert später sagen kann – nicht viel
anhaben können. Fachidioten dürfen nun auch offiziell
lange Haare und Sandalen im Institut tragen. Die
Rationalität ist eine zweckgerichtete geblieben,
komplementär zum althergebrachten Positivismus der
beschnittenen und präformierten Tatsachenerkenntnis hat
sich seit den achziger Jahren lediglich eine kosmetische
„Wissenschaftsethik“ gesellt, die sich in frommen Reden,
in denen Wörter wie „Verantwortung“ notorisch sind, oder
Pflichtübungen wie „Technikfolgenabschätzung“ erschöpft
und die dem Positivismus ebensowenig anhaben kann wie
das Prädikat „sozial“ der Marktwirtschaft.
Als ihm 1952, sieben Jahre
nach Ende des Holocaust, das Präsidentenamt des keine
fünf Jahre alten Staates Israel angeboten wurde, lehnte
Albert Einstein dankend ab. Die Politik, die ja nur als
Realpolitik funktionieren kann, ist ihm stets suspekt
geblieben.
Zumal beim Lesen von Bekenntnissen
Einsteins zu gesellschaftspolitischen Themen, die er u.a.
im Buch „Mein Weltbild“ abgelegt hat, kann man sich kaum
des Eindrucks erwehren, hier blähe ein wohlmeinender
Humanist normative Allgemeinplätze zu einer
individuellen Analyse auf. Es ist irritierend zu lesen,
mit welch schlafwandlerischer Sicherheit sein „Weltbild“
doch stets auf moralische Banalitäten rekurriert, die
man an guten Tagen von jedermann zu hören bekommt.
Möglicherweise tut man dem Denker dabei zwar Unrecht
insofern, als sein Humanismus nur seit dem vorgeblich
linksliberalen Nachkriegskontext der 1945 zur Räson
gebombten Deutschen, und erst recht nach „1968“,
konsensfähig ist und damit im Ruch des Banalen steht.
Dennoch offenbart sich bei allem gutgemeinten
Philanthropismus des Wissenschaftlers, der sich selbst
einen „Gefühlssozialisten“ nannte, doch die zutiefst
bürgerliche Betriebsblindheit gegenüber der Omnipräsenz
des Ideologischen, die sich als Naivität bahnbricht: ein
dialektischer Denker war Einstein nicht. Vielleicht
darin vergleichbar mit einer tragikomischen Figur wie
Michail Gorbatschow heutzutage, der genauso viele
Ehrenprofessuren akkumuliert wie er unter
Blitzlichtgewittern wohlwollende Petitionen
unterschreibt – ungeachtet dessen, daß die liebe
Zivilgesellschaft ihre Dynamik anderen als humanitären
Prinzipien verdankt. Man muß hier nicht so weit gehen,
zynisch zu unken, das Gegenteil von gut sei gutgemeint
... Adorno nannte Ludwig Wittgenstein, einen
Zeitgenossen Einsteins, einmal den reflektiertesten
Positivisten; mit ein wenig Arroganz darf auch dem
Jubilar des Einstein-Jahres 2005 dieser Titel verliehen
werden. Wie integer jedoch seine moralischen Urteile in
aller Regel gewesen sind, beweist ein bekanntes Zitat,
das ihn nachgerade – das Zitat stammt von 1934 – als den
hellsichtigen antifaschistischen Warner erscheinen läßt,
der er war: „Wenn einer mit
Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren
kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes
Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das
Rückenmark schon völlig genügen würde.“
So beruhigend es ist, einen
längeren Artikel über Albert Einstein abschließen zu
können, ohne auch nur einmal das aufdringliche Wort
„Genie“ benutzt zu haben, so beunruhigend ist es, zu
sehen, daß der Denker für die Nachwelt als Klischee
neutralisiert werden konnte.
Editorische
Anmerkungen
Der Autor stellte uns diesen Artikel am 14.04.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.
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