Reflektierter Positivist und scheuer Menschenfreund
Albert Einstein entwickelt vor hundert Jahren die Relativitätstheorie

Von Bertrand Klimmek

04/05

trend onlinezeitung

„Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.“ 

Einstein ist ein Klischee. Mediales Abziehbild ebenso wie realer Spezialmensch, hat er im 20. Jahrhundert wie kein anderer das Bild des scientific weirdo, der ja kein fieser Nerd sein muß, geprägt. Wenn Erfindertypen des 19. Jahrhunderts wie Werner von Siemens oder Thomas Alva Edison in popkulturellen Klischees wie der Comicfigur Daniel Düsentrieb ihren Ausdruck gefunden haben, die den gründerkapitalistisch-industriellen Kontext verleugnen, so steht Albert Einstein im öffentlichen Bewußtsein wie seither vielleicht nur noch der Astrophysiker Stephen Hawking für den etwas entrückten, vielleicht weltfremd-spinnerten Theoretiker, der das Kindliche in sich nie ganz abgetötet hat, wie es das Klischee will.

Einstein, dessen Name mit seinen hellen Vokalen lautmalerisch bereits unfreiwillig klug und gewitzt klingt, ist nicht erst seit 80er-Jahre-Schundfilmen wie „Einstein junior“ zur veritablen Witzfigur der Kulturindustrie geworden. Dazu mag möglicherweise jenes Foto aus den fünfziger Jahren beigetragen haben, das ihn mit herausgestreckter Zunge zeigt und ursprünglich nur eine private Grußkarte für Freunde gewesen sein sollte. Dieses Foto ist es, das so prominent geworden ist, daß es nicht nur den Weg in die kanonisierte Bilderwelt des 20. Jahrhunderts gefunden hat, sondern darüberhinaus das Bild der „Wissenschaft“ in der Öffentlichkeit weg vom patriarchalen Herrschaftskontext des 19. Jahrhunderts in eine neue Sphäre der postmodernen, drollig-clownesken Selbstreferentialität gehoben hat.

Das Foto muß man, zusammen mit jener berühmten, nachgerade ikonografischen Aufnahme Che Guevaras, zum frühen Beispiel unfreiwilliger Pop Art rechnen. 

Sogar der Schnurrbart ist nicht wie zumeist Zeichen überbordender Männlichkeit und Herrschaftsanspruchs wie vor allem in der politischen Unkultur der ersten Hälte des 20. Jahrhunderts, sondern als Accessoir schüchterner Personen wie der Zeitgenossen Charles Chaplin oder Walter Benjamin, Zeichen zurückhaltender Zivilisiertheit. 

Bereits zehn Jahre nach dem Tod Einsteins spielt Mitte der sechziger Jahre Jack McGowran in einer Gruselkomödie von Roman Polanski den ebenso zerzausten wie zerstreuten aber scharfsinnigen Prototyp des Wissenschaftlers: Dr. Abronsius, der eine mehr als zufällige Ähnlichkeit zum Erscheinungsbild Einsteins aufweist. Doch der „Tanz der Vampire“, „Einstein junior“ und „Zurück in die Zukunft“ sind nur die bekanntesten Beispiele für alberne filmische Verwurstung, vor der anscheinend niemand gefeit ist. 

Selbst die Scientology-Kirche wirbt seit Jahrzehnten mit einem seltsam entrückt und scheel anmutenden, gezeichneten Einstein-Konterfei und dem ihm zugeschriebenen – Hirnforschern würdigen – Zitat „Wir nutzen nur 10% unseres geistigen Potentials“, mit dem er kurzerhand zum esoterischen Übermenschen erklärt wird. Und man ist geneigt zu schmunzeln ob dieser gewalttätigen Vereinnahmung, die eigentlich nur noch von jener übertroffen wird, mit der Deutschland den antifaschistischen Emigranten heim ins Reich zu holen angetreten ist in diesem sog. Einstein-Jahr 2005. 

Was ist das originär Besondere an Einsteins Theorie der Relativität? Gibt es eine reale Grundlage für das Klischeebild vom dissidenten, unbestechlichen Forscher?

Die spezielle Relativitätstheorie, vor hundert Jahren vorgestellt, reißt en passant das kategoriale Grundgerüst der klassischen Physik ein. Es galt, bestimmte – marginale – Phänomene v.a. aus der Astronomie zu erklären, woran die herkömmliche Physik auch mit immer neuen, immer abenteuerlicheren Erklärungs- und Interpretationsversuchen und -verrenkungen Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig gescheitert ist. Einstein nun fand, daß die praktischen Anschauungskategorien von Länge, Raum und Zeit so einfach nicht sind, wie sie sich der euklidischen Unmittelbarkeit im Alltagsleben darstellen. Vielmehr postulierte Einstein mit seinem Kalkül, daß Zeit – objektiv! – langsamer vergeht, Strecken sich stauchen und Massen schwerer werden, wenn man sich mit horrenden Geschwindigkeiten bewegt (Lorentz-Transformation). Das ist insofern paradox, als „Geschwindigkeit“ doch eine gleichsam abgeleitete Kategorie, nämlich eben Strecke pro Zeit ist; auch resultiert aus diesem quasi auf den Kopf gestellten Herangehen, daß es eine maximale Geschwindigkeit gibt, die prinzipiell niemals überschritten werden kann, ähnlich wie es einen absoluten Nullpunkt der Temperatur gibt: es ist dies eben die Geschwindigkeit c der Ausbreitung des Lichts. Die verblüffende und sehr verwirrende Tatsache, daß die Lichtgeschwindigkeit – unabhängig vom Bewegungszustand des Bezugssystems! – immer als konstant gemessen wurde, hatte die spezielle Relativitätstheorie überhaupt maßgeblich motiviert.

In nachfolgenden Jahrzehnten wurden die abenteuerlichen, zunächst abstrus anmutenden Hypothesen der Längenkontraktion und Zeitdilatation experimentell unterfüttert. 

Zwischenzeitlich – mittlerweile tobt der erste Weltkrieg in Europa, flankiert von einem Aufwallen des Chauvinismus – entwickelt Einstein die sog. allgemeine Relativitätstheorie, die als undurchsichtig und schwerverdaulich gilt, weil sie die strukturellen Verzerrungen, denen schon die spezielle Relativitätstheorie das raumzeitliche Kontinuum unterworfen hat, auf die Spitze treibt. Die räumliche Struktur wird demnach unter Gravitations-, d.h. Masseneinfluß verzerrt („gekrümmt“), sodaß elementare Tatbestände der klassischen, „euklidischen“ Geometrie und ihrer Metrik nicht mehr gelten. Dies betrifft, differentialgeometrisch gesprochen, die sog. innere Geometrie des Raumes. Man kann sich dies – um die dritte Dimension verkürzt – anhand einer gewölbten Fläche vorstellen. Die Wölbung kann man nicht nur gleichsam von außen beobachten insofern, als die Fläche sich innerhalb des umgebenden dreidimensionalen Raumes offensichtlich von einer Ebene unterscheidet. Sondern die Wölbung kann auch aus Vermessungen bloß innerhalb der nur zwei Freiheitsgrade der Fläche ermittelt werden. Mit nichts anderem hat man es beim „gekrümmten“ dreidimensionalen Raum bzw. vierdimensionalen Kompositum aus Raum und Zeit zu tun; denn hier kann ja niemand von einer höheren Dimension aus, also von außen die Krümmung direkt sehen.

Diese Vorgehensweise erinnert sehr ans gesellschaftliche Pendant, die „immanente Kritik“; sie geht ja ganz ähnlich vor: mangels ausreichender realer, subjektiver Distanz zu den fetischistischen Phänomenen, die niemand redlicherweise beanspruchen kann, und, um nicht bloß abstrakt zu moralisieren, wird das Augenmerk auf die Animositäten innerhalb dieser Anschauungsebene gelegt („Kritik durch Darstellung“), um diese analytisch zu erfassen und ihre Konstituenten benennen und langsam transzendieren zu können. 

Freilich hat Einstein die herkömmliche Physik nicht einfach negiert, sondern in der Relativitätstheorie aufgehoben, in dem Sinne, daß die Prognosen der nunmehr „klassischen“ – nichtrelativistischen – Physik und Mechanik sogenannte Grenzfälle sind, die bei allen alltäglichen, im Vergleich zu c extrem langsamen Geschwindigkeiten den korrekten, relativistischen Aussagen asymptotisch gleich sind. Nach wie vor belegt jedoch die stets aufs neue experimentell verifizierte Theorie der Relativität, daß „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben“ worden zu sein scheint, wie sich Galileo Galilei ausdrückte.

Eine weitere Integrationsleistung Albert Einsteins im doch recht unübersichtlichen Kategoriengeflecht der Physik, die ihresgleichen sucht, ist die letztendliche Äquivalenz von Masse und Energie, durch die allseits bekannte Formel E=mc² zu Unrecht eine Platitüde der Populärwissenschaft geworden. 

Ein Fachidiot war der vermeintlich harmlose Tüftler gleichwohl nie. Wie die allerwenigsten Wissenschaftler hat er sein Tun – und Denken – stets auch von einem Außenstandpunkt aus reflektiert: „Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen.“ 

Was ihn nachgerade zum prominentesten theoretischen Forscher aller Zeiten macht, wie nun überall zu lesen ist, ist die Radikalität und nüchterne, wenngleich nicht kühle Distanziertheit, mit der er das bis dahin Allerselbstverständlichste zur Disposition stellte. Eine intellektuelle Sprengkraft und Dissidenz, die er bekanntlich nicht nur in der Fachwelt, sondern auch im politisch-gesellschaftlichen Leben geltend zu machen suchte – legendär sind seine etwas unbeholfenen, aber nur umso sympathischeren Publikums- und Medienauftritte –, was bei Fachkollegen und in der Öffentlichkeit gleichermaßen die Rancune der Konformisten herausforderte. Umso mehr erschaudern läßt, daß er heutzutage von allen Seiten vereinnahmt wird, populärwissenschaftlich sowohl wie als Vorbild schnöder Moralisten. 

Im Nachhinein ist die Relativitätstheorie klassischer Fall für das, was der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn einen „Paradigmenwechsel“ genannt hat, der eine wissenschaftliche Disziplin oder Lehrmeinung oder auch Weltanschauung kritisch umkrempelt, was ja durch die hermetische Struktur der scientific community, ihrer „Forschung“ und ihres bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs mit allen soziologischen Implikationen – den Laufbahnen beruflicher Mitläufer –, von denen sie eben nicht zu trennen ist, schwer bis gar nicht praktisch zu etablieren ist.

Sie reiht sich damit ein in andere, überfällige Revolutionen in der Theorie, in der Geistesgeschichte zwischen Mitte des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts: die unerwünschten Erkenntnisse eines Karl Marx oder eines Sigmund Freud brachen ebenso harsch in den selbstgenügsamen wissenschaftlichen Mainstream ein, wie hernach Dadaismus und Surrealismus in die Kunst, die sich davon genausowenig wieder erholen sollte. Der zwanghaften, axiomatischen Methode der Mathematik machte zur selben Zeit Kurt Gödel mit ihren eigenen Mitteln den Garaus; um die Creme der wissenschaftlichen Umwälzer, die nicht zufällig eine von Flüchtlingen aus Deutschland ist, vorläufig zu komplettieren.

Die Reaktionen des in beiderlei Hinsicht zurückgebliebenen Mainstream ließen nicht lange auf sich warten: wurde das eine als „entartete Kunst“ verfemt, so ging das andere nicht nur im Falle von Freuds Psychoanalyse so weit, daß die neuen Erkenntnisse explizit als „jüdische Wissenschaft“ verschmäht wurden. Und wie der Freudschen Lehre, die sich auf das „Niedere im Menschen“ („Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud“) kapriziere anstatt „gesundes“ Pflichtgefühl, Glauben und Tapferkeit zu thematisieren wie die Küchenpsychologien vor Freud, der solches als neurotisch entzauberte, so wurde auch dem „Relativitätsjuden“ Einstein mit seiner „obskuren Pseudowissenschaft“ eine sog. „deutsche Physik“ entgegengehalten, die die Probleme, die Einstein gelöst hatte, im wesentlichen ignorierte. „Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen, ich sei Deutscher, und die Deutschen, ich sei Jude.“ Den pathetischen Nationalsozialisten mußte ja bereits der Name Relativitätstheorie eine Provokation sein, ein Frontalangriff auf ihre totalitär-statische faschistische Weltanschauung. „Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben noch Raum und Zeit übrig; nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Raum und Zeit mit den Dingen.“

Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Heute ist die Relativitätstheorie – wie so vieles, was zu dieser Zeit gegen versteinerte, orthodoxe Lehrmeinungen entwickelt wurde – selbst „klassisch“ geworden. Ohne Marx, Einstein und Freud ist das vergangene Jahrhundert nicht zu denken. Daß einst dissident gewesen ist, was heute unzweifelhaft zum Kanon gehört, zeigt, daß Gewißheiten im Fließen begriffen sind und, Wissenschaft ohne ihre Geschichte zu lehren, einer Verstümmelung der Wahrheit gleichkommt. Jedes Kind heute weiß aus populärwissenschaftlichen Büchern, daß einen Galileo die Inquisition einzuschüchtern wußte. Daß Albert Einstein sich mit einem Ungeist ganz ähnlicher Provenienz konfrontiert sah, gerade auch in der akademischen Sphäre, und sich 1933 ausdrücklich für immer aus Deutschland verabschiedet hat, scheint den Nachkommen seiner Verfolger heute noch peinlich zu sein, beweist es doch, daß die Gegenaufklärung kein bloß mittelalterliches Phänomen ist. 

„Die Majorität der Dummen ist unüberwindbar und für alle Zeiten gesichert. Der Schrecken ihrer Tyrannei ist indessen gemildert durch Mangel an Konsequenz.“ 

Den Nobelpreis erhielt er übrigens 1921 bezeichnenderweise nicht für die bahnbrechende Relativitätstheorie, sondern für eine Arbeit über den lichtelektrischen Effekt, eine Vorarbeit zur Quantentheorie, die sich v.a. seit den zwanziger Jahren entwickelt hat.

Einstein selbst hat sich zeitlebens von einer gewissen, quasi esoterischen Lesart bzw. Ausprägung der Quantentheorie distanziert und sie als Pseudowissenschaft bekämpft. Er ist als früher und wohl prominentester Gegner der Quantenmystik kein Erkenntnisskeptiker oder Besitzstandswahrer überkommener Anschauungen, sondern das komplette Gegenteil: nicht bietet er wie die Vertreter der NS-„deutschen Physik“ den bäuerlichen Alltagsverstand gegen das Unverstandene auf, sondern er formuliert Minimalpostulate an das, was überhaupt erkannt werden kann, an eine konsistente Theorie also, die eben gewissen epistemologisch unhintergehbaren Ansprüchen genügen muß. Es geht nicht darum, ob ein theoretischer Sachverhalt der unmittelbaren, bornierten Evidenz widerspricht oder nicht. Immer schon waren die Kriterien für eine gute Theorie einzig, ob erstens eine Erklärung der empirischen Wirklichkeit gelingt, ob diese zweitens logisch in sich geschlossen und ob sie drittens kohärent, d.h. auch im umfassenden Zusammenhang „stimmig“ ist. Und es zeichnet die bereits erwähnten großen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts aus, daß sie anfangs so abstrus, so ungeheuerlich, so abgefahren daherkamen wie sie sich später als unentbehrlich erwiesen. Die Neuerungen, mit denen das Alte abserviert wurde, ließen sich jeweils in einigen wichtigen Ideen zusammenfassen; darin zeigt sich die kohärente Struktur dieser revolutionären Theorien. Der vormals geltende Begriff von Realität war seit ihrem Aufkommen, in ihrem Verständnis nur noch ein chimärenhafter und wirkt heute längst hölzern und lächerlich. Dieses Schicksal ereilte die Illusionen vom bürgerlichen Ich, das Marx und Freud als gesellschaftliche Charaktermaske enttarnten, ebenso wie die vorrelativistische Mechanik in der euklidisch-kartesisch-newtonschen Raumzeit, die Einstein als Trugbild entlarvt hat.

Die sich Physiker nennenden Quantenspezialisten nun würden sich offenbar allzugern der dritten, wenn nicht schon der zweiten Forderung entledigen. Würden sie die Preisgabe der Logik, wie sie ihre „Theorie“ in strenger Lesart erfordert, durchziehen, so fänden sie sich – das muß mit Bedauern und ohne Häme gesagt werden – buchstäblich da wieder, wo Friedrich Dürrenmatt ihren Berufsstand in seinem gleichnamigen Drama verortet. Die intellektuellen Leichtgewichte, die da seit über einem halben Jahrhundert einen philosophischen Paradigmenwechsel durch die unausgegorenen Paradoxien ihrer Quantentheorie herbeizureden versuchen, halten die grundlegenden Probleme jeder Modell- und Theoriebildung für Scheinprobleme, ganz so, als bedürfe es zur Erkenntnis keines denkenden Subjekts mehr. Über den bürgerlich konstituierten Horizont der geistigen Arbeit, also auch der naturwissenschaftlichen Denkformen, wie er einen Alfred Sohn-Rethel umgetrieben hat, haben sie sich nie den Kopf zerbrochen. Sonst hätten sie bemerkt, wie sehr und eben nicht zufällig ihre „Theoriebildung“ mit der allgemeinen Lightversion postmoderner „Erkenntnis“ auch in den konformen Sozialwissenschaften einhergeht. Und so gehen sie, frisch, fromm, fröhlich, frei, wie stolze Positivisten nun einmal sind, weiter der szientistischen Ideologieproduktion „in der Sprache der Mathematik“ nach, anstatt sich über Minimalanforderungen wie Kohärenz der Denkformen Gedanken zu machen.

Eine typische vermeintliche philosophische Implikation der Quantenmechanik ist z.B., daß es keine vom Beobachter unabhängige Objektivität gebe – auf dem Elementarteilchen-Niveau mag das objektiv (ha!) stimmen, mangels praktischer Versuchsanordnungen, die die Zustände dieser Teilchen ohne eigene Beeinflussung messen können. Einen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel kann darin aber nur erkennen, wer die empirische Welt für eine Welt aus Elementarteilchen – und mehr nicht – hält.

Schade, daß Sohn-Rethel nicht mehr jene esoterischen Anwandlungen der „Quantenmechanik“, die sich zu einer obskurantistischen Ideologie ausgewachsen hat, beim Namen nennen konnte. Wo jemand wie Einstein noch Kriterien der Kohärenz und Eleganz zur Beurteilung bzw. Errichtung eines theoretischen Gebäudes in Anschlag bringen konnte – heute als steifer und mechanistischer „Geist des 19. Jahrhunderts“ verschrien und vermeintlich „überholt“ –, ist heute in der theoretischen Physik mit ihrem beständig expandierenden Elementarteilchen-Zoo an diese Stelle ein allgemeines Geraune über das Ende der Anschauung getreten – und solche Grundlagenphysik stellt sich als Quasi-Chemie dar, die doch eigentlich Anwendung der Physik gewesen sein sollte. Und niemand merkt – bzw. jeder verdrängt, daß ohne eine gewisse Anschauung, die zunächst den logischen Voraussetzungen jeglicher Erkenntnis zugrunde liegt, gar keine solche möglich ist.

Heute muß als Spätfolge der sog. „Quantenmechanik“ ein desolates erkenntnistheoretisches Durcheinander konstatiert werden; Figuren wie der Quantencomputer-Fantast David Deutsch oder der „Österreichische Quanten-Guru“ Anton Zeilinger, der bezeichnenderweise dem Dalai Lama (wiederum ein Freund des deutschen Physik-Spiritisten C.F. von Weizsäcker) seine Erkenntnisse vorführt, fühlen sich in diesem Tohuwabohu pudelwohl, ohne dabei noch in irgendeinem Sinne revolutionär sein zu müssen. Forscher, die dem großen Physiker und Humanisten Albert Einstein nur mehr durch die drittklassige Imitation äußerlicher Verschrobenheitsattribute zu gleichen trachten und doch nie das intellektuelle Format des szientifischen Alleszermalmers und Nonkonformisten erreichen werden. Seine vermeintlichen Wiedergänger, längst nicht mehr nur der bekennende Esoteriker Fritjof Capra („Das Tao der Physik“), stricken mit ihrem kruden, erkenntnistheoretisch unbeleckten Theoriewirrwarr bestens im Mainstream des postmodernen Ideologienwollknäuels mit. Wer die Möglichkeit und Notwendigkeit von verständlicher Theorie zur Disposition stellt, was Einstein nicht nur nie tat, sondern leidenschaftlich kritisierte und bis zuletzt energisch bekämpfte, betätigt sich nolens volens als Agent der Gegenaufklärung. Der Positivismus solcher Forscher sieht heute freilich anders aus als noch vor hundert Jahren. Man hat es zu tun mit einer jung-dynamischen Nerd-Gemeinschaft, die sich aufs Beste darauf versteht, allerlei Forschungsgelder zu akquirieren, um der bürgerlichen Gesellschaft ihre zweifelhaften „Erkenntnisse“ dienstbar zu machen. Das ist heute nicht mehr die nukleare Wunderwaffe für den kriegerischen Ernstfall; vielmehr soll der kapitalistische Normalbetrieb durch ultimative Datensicherheitstechnologien für die nächsten tausend Jahre in den Stand eines hermetischen System-Behemoth versetzt werden, so transzendent gebärden sich die „visionären“ und ach so dissidenten Quantenmenschen. Ein Jahrhunderte altes und damit wohl antiquiertes, nur noch selbstzweckhaftes Gesellschaftssystem nicht beim Namen zu nennen, gar zu zementieren, und gleichzeitig in „faszinierenden“ naturwissenschaftlichen Gedankenspielen von einer Aufhebung der Kausalität daherzufaseln oder „verblüffende“ Paradoxien von Parallelwelten durchzuspielen, die „unseren Alltagsverstand“ übersteigen, ist keine ausgemachte Schizophrenie, Eskapismus gar, ist geschäftige Routine zumindest solange, wie doch die schnöde Kausalität zwischen Kopfarbeit und Einkommen, zwischen Einschieben der Bankkarte in den geduldigen Geldautomaten und Herausquillen der begehrten Scheine, zwischen gesellschaftlicher Form und individuellem Elend fortbesteht. 

„Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit Radius Null und das nennen sie ihren Standpunkt.“

Wenn Quantenideologen immer wieder mit frischer Verve postulieren, daß doch „der Zufall“ eine wiedergewonnene Rolle in den Gesetzen der Naturwissenschaft spiele, so ist das nicht nur eine Konzession an den kommoden, populärwissenschaftlichen Alltagsverstand und etwas Balsam für die bürgerliche Seele, die physikalischen Determinismus mit lebensweltlicher Tristesse zu verwechseln geneigt ist. Die Behauptung, bei Phänomenen, die keinem erkennbaren Gesetz folgen, habe man es notwendigerweise mit unmittelbarem Zufall zu tun, ist nicht nur so albern und vorwissenschaftlich wie die eines Neanderthalers, ein Auto könne fahren, weil Autos offenbar manchmal fahren – ohne die Prozesse der Energieumsetzung und Kraftentfaltung im Motor zu analysieren. Die Behauptung des Zufalls trägt ganz offen die Züge der postmodernen Ideologie (Abwehr der Aufklärung als „große Erzählung“): die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung wird als überkommener Strukturalismus verworfen, als anmaßender Objektivismus denunziert. Die Erscheinung wird krude mit dem Wesen identifiziert, Faktoren mit Fakten. Gelten sollen nur noch Beobachtungen; das Erkennbare, das Beobachtete sei das ganze Reale und nicht vielmehr bloß sein Resultat. Stochastik sei kein Denk- und Rechenmodell, sondern direkt physikalische Realität. Daß der unmittelbare Zufall für die Physik unentbehrlich sei, beweise bspw. die Tatsache, daß ein Teilchen eher als ein gleichartiges anderes radioaktiv zerfalle. Dieser große Wurf hätte schon einem Newton gelingen können: Was, wenn nicht der Zufall, bedingt, daß ein Apfel eher vom Baum fällt als ein anderer? Und so gebärdet sich die etablierte Quantenesoterik als Deutsch’sche Physik, alter Positivismus in neuem Gewand.

Die Frage, Determinismus oder Zufall, ist und bleibt eine Glaubensfrage. Die Naturwissenschaften haben seit jeher durch fortschreitende Erkenntnis esoterische Erklärungen wie den Animismus, die Vorsehung oder eben den Zufall zurückdrängen können; und es ist bezeichnend, daß dem Zufall in Zeiten beständiger Konfusion und allgemeiner Ratlosigkeit implizit eine so magische Wunderkraft beigemessen wird, daß man ihn nicht mehr missen will. Er bleibt ein letztes Glücksversprechen der Gegenaufklärung. 

Man muß nicht die Phänomene bestreiten, um das abstrus-ideologische Gedankengebäude der Quantenmechanik – oder was einmal ein solches werden sollte – abzulehnen. Dem Positivismus ist es allerdings Herzensangelegenheit, nichts außer den Erscheinungsformen ("Phänomenen" eben) gelten zu lassen. Alles andere sei unwissenschaftlich, weiß der strenge Mann im weißen Kittel. 

„Ingenieur des Universums“ muß sich Albert Einstein, der wohl trotz seines Brotberufs am Schweizer Patentamt nichts weniger war als ein Techniker, im dümmlichen Titel der Jubiläums-Ausstellung eines Berliner Max-Planck-Instituts heutzutage nennen lassen. Und das Vereinskäseblatt „Deutscher Ingenieure“, die VDI nachrichten drucken zum Einsteinjahr eine Würdigung des großen Physikers, deren Glaubwürdigkeit nicht nur durch propagandistische Phrasen wie die von der „Schaffung einer neuen Innovationskultur in Deutschland“ dementiert wird, sondern auch durch die Quintessenz, so einer wie Einstein hätte heute „keine Chance“ mehr, da er es „versäumt“ hätte, „Karriere-Netzwerke zu knüpfen“, was ja nunmal das A und O für den „wissenschaftlichen Nachwuchs“ sei. Immerhin eine erfrischende Offenheit, einen solch deprimierenden Sachverhalt derart unverholen auszuplaudern und implizit als Fortschritt zu preisen. Schlagwörter wie „Teamarbeit“ belegen hier, daß es kaum mehr um Sachbezug geht und Reputation keine Funktion der Erfolgs ist sondern längst umgekehrt. Davon kündet auch das grauenvolle aber einzig angemessene Wort der wissenschaftlichen Gemeinschaft, das ja schon andeutet, wie konformistisch abgedichtet, konservativ gesinnt und tendenziell männerbündlerisch der Wissenschaftsbetrieb seit jeher ist; wenn es trotzdem alle Jahre wieder heißt, „Querdenker“ seien „gefragt“, dann dementiert sich auch dieser Satz instantan selbst, denn wenn eines im Begriff kritischen Denkens angelegt ist, dann, daß es keiner Konjunktur unterliegt.

Das leise Zwischenspiel der sog. Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat dem trostlosen Einerlei des Wissenschaftsbetriebs – wie man nun, ein Dritteljahrhundert später sagen kann – nicht viel anhaben können. Fachidioten dürfen nun auch offiziell lange Haare und Sandalen im Institut tragen. Die Rationalität ist eine zweckgerichtete geblieben, komplementär zum althergebrachten Positivismus der beschnittenen und präformierten Tatsachenerkenntnis hat sich seit den achziger Jahren lediglich eine kosmetische „Wissenschaftsethik“ gesellt, die sich in frommen Reden, in denen Wörter wie „Verantwortung“ notorisch sind, oder Pflichtübungen wie „Technikfolgenabschätzung“ erschöpft und die dem Positivismus ebensowenig anhaben kann wie das Prädikat „sozial“ der Marktwirtschaft. 

Als ihm 1952, sieben Jahre nach Ende des Holocaust, das Präsidentenamt des keine fünf Jahre alten Staates Israel angeboten wurde, lehnte Albert Einstein dankend ab. Die Politik, die ja nur als Realpolitik funktionieren kann, ist ihm stets suspekt geblieben.

Zumal beim Lesen von Bekenntnissen Einsteins zu gesellschaftspolitischen Themen, die er u.a. im Buch „Mein Weltbild“ abgelegt hat, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, hier blähe ein wohlmeinender Humanist normative Allgemeinplätze zu einer individuellen Analyse auf. Es ist irritierend zu lesen, mit welch schlafwandlerischer Sicherheit sein „Weltbild“ doch stets auf moralische Banalitäten rekurriert, die man an guten Tagen von jedermann zu hören bekommt. Möglicherweise tut man dem Denker dabei zwar Unrecht insofern, als sein Humanismus nur seit dem vorgeblich linksliberalen Nachkriegskontext der 1945 zur Räson gebombten Deutschen, und erst recht nach „1968“, konsensfähig ist und damit im Ruch des Banalen steht. Dennoch offenbart sich bei allem gutgemeinten Philanthropismus des Wissenschaftlers, der sich selbst einen „Gefühlssozialisten“ nannte, doch die zutiefst bürgerliche Betriebsblindheit gegenüber der Omnipräsenz des Ideologischen, die sich als Naivität bahnbricht: ein dialektischer Denker war Einstein nicht. Vielleicht darin vergleichbar mit einer tragikomischen Figur wie Michail Gorbatschow heutzutage, der genauso viele Ehrenprofessuren akkumuliert wie er unter Blitzlichtgewittern wohlwollende Petitionen unterschreibt – ungeachtet dessen, daß die liebe Zivilgesellschaft ihre Dynamik anderen als humanitären Prinzipien verdankt. Man muß hier nicht so weit gehen, zynisch zu unken, das Gegenteil von gut sei gutgemeint ... Adorno nannte Ludwig Wittgenstein, einen Zeitgenossen Einsteins, einmal den reflektiertesten Positivisten; mit ein wenig Arroganz darf auch dem Jubilar des Einstein-Jahres 2005 dieser Titel verliehen werden. Wie integer jedoch seine moralischen Urteile in aller Regel gewesen sind, beweist ein bekanntes Zitat, das ihn nachgerade – das Zitat stammt von 1934 – als den hellsichtigen antifaschistischen Warner erscheinen läßt, der er war: „Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.“ 

So beruhigend es ist, einen längeren Artikel über Albert Einstein abschließen zu können, ohne auch nur einmal das aufdringliche Wort „Genie“ benutzt zu haben, so beunruhigend ist es, zu sehen, daß der Denker für die Nachwelt als Klischee neutralisiert werden konnte.

Editorische Anmerkungen

Der Autor  stellte uns diesen Artikel am 14.04.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.