Die Dämonisierung des NS-Faschismus
soll von Sozialabbau und Krieg ablenken

 
von Jens Matt
04/05

trend onlinezeitung

Am 08. Mai 2005 ist es soweit: vor 60 Jahren wurde Deutschland von den Alliierten vom NS-Faschismus befreit. Dieser historische Tag wird vor allem in Deutschland von bürgerlichen DemokratInnen dazu benutzt, um von Sozialabbau und Krieg abzulenken. Verglichen mit den Grausamkeiten des NS-Regimes erscheinen die Verbrechen in der kapitalistischen Gegenwart als relativ harmlos. Was hier stattfindet, ist eine Relativierung kapitalistischer Normalität durch die Dämonisierung der Besonderheit des NS-Faschismus. Wir lehnen eine moralische Kritik am Nationalsozialismus ab und wollen an dieser Stelle die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Krieg, Sozialabbau, bürgerlicher Demokratie und Faschismus darstellen.

Der folgende Beitrag ist außerdem ein Aufruf an alle revolutionären Kräfte, den 8. Mai nicht den Nazis oder (bürgerlichen) DemokratInnen zu überlassen. Die radikale Linke darf nicht im Schlepptau irgendeiner nationalen bzw. bürgerlichen Kraft untergehen sondern muss den Klassenkampf gegen die herrschende Klasse und die bestehende Ordnung propagieren. Für uns versteht es sich dabei von selbst, dass wir den Alliierten nicht für die Befreiung danken, weil nicht die Opfer des NS sondern gegensätzliche imperialistische Interessen der Grund für den Kriegseintritt der Alliierten war.

Zwei unterschiedliche Seiten derselben Medaille 

Das Wesentliche, was den Kapitalismus auszeichnet, ist das Privateigentum an Produktionsmitteln und der ökonomische Sachzwang, das Kapital immer weiter zu verwerten und zu akkumulieren. Kapitalverwertung setzt die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft im Produktionsprozess voraus und bedeutet eine ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Dieses unterschiedliche Interesse zwischen Arbeit und Kapital führt immer wieder zu Konflikten und zu revolutionären Erhebungen der lohnabhängigen Klasse. Der bürgerliche Staat ist eine vermittelnde Instanz, die die bestehenden Produktionsverhältnisse aufrechterhalten und den proletarischen Klassenkampf dämpfen will. Das Proletariat soll sich mit einer Gesellschaft, die Ausbeutung und Enteignung vom Arbeitsprodukt bedeutet, abfinden, während die KapitalistInnen von dem durch die Ausbeutung erzielten Mehrwert profitieren. 

Grundsätzlich gibt es für den bürgerlichen Staat 2 Möglichkeiten, auf diese Situation zu reagieren: Zuckerbrot und Peitsche. Solange sich der Klassenkonflikt durch Zugeständnisse befrieden lässt bzw. Zugeständnisse überhaupt möglich sind, wird der Staat Befriedungsstrategien anwenden. Wer einmal in Geschichtsbüchern wälzt, wird erkennen, dass diese Strategie in der Nachkriegszeit äußerst erfolgreich war und speziell in Deutschland die einst sehr kämpferische Klasse mit der Zeit müde und träge geworden ist und in die BRD integriert wurde. Neben realen Zugeständnissen versucht der Staat die Klasse auch durch die Schaffung von Identitäten (z.B. Geschlecht, Nation etc.) zu integrieren. 

Während die bürgerliche Demokratie und der Sozialstaat zu den klassischen Befriedungsmechanismen im Kapitalismus gehören, wird der Staat in Zeiten kämpferischer Auseinandersetzung vor allem repressiv gegen die Klassenkämpfe vorgehen. Faschismus ist eine besonders repressive Herrschaftsform im Kapitalismus, die angewendet wird, wenn die sozialen Konflikte einen Höhepunkt erreichen, besondere Maßnahmen durchgeführt werden müssen (wie Kriege) und alle anderen Maßnahmen zur Dämpfung des Klassenkampfes nicht mehr greifen. Faschismus wird angewendet, um soziale und revolutionäre Bewegungen grundsätzlich zu zerschlagen. So hat Hitler auch angekündigt, „den Marxismus endgültig auszurotten“. Pinochet hat während des Faschismus in Chile gesagt, dass (bürgerliche) Demokratie von Zeit zu Zeit in Blut gebadet werden müsse. Neben der massiven Repression spielte im NS auch die Schaffung von nationalen und patriarchalen Identitäten (der weiße deutsche Mann) eine entscheidende Rolle. 

In der kapitalistischen Gesellschaft lassen sich Demokratie und Faschismus nicht voneinander trennen und gehören gleichermaßen zum Repertoire des bürgerlichen Staates. Die Übergänge sind oft fließend. Einen grundsätzlichen Bruch gab es weder von der Weimarar Republik zum 3. Reich noch vom 3. Reich zur BRD. Es sei auch darauf hingewiesen, dass es in Deutschland eine massenhafte Verfolgung von Oppositionellen und das ungestrafte Morden von Nazibanden bereits vor 1933 gab, von den Nazis allerdings wesentlich konsequenter fortgeführt wurde. Auch die BRD hat beispielsweise im Deutschen Herbst 1977 bewiesen, dass sie lediglich ein taktisches Verhältnis zum so genannten „Rechtsstaat“ hat. Notverordnungen sind in der BRD-Verfassung ebenfalls vorgesehen. 

Die Ideologie des Antifaschismus 

Die bürgerlichen AntifaschistInnen streiten den Zusammenhang von Demokratie und Faschismus generell ab. Sie können die Ursachen für Hitlers Machtergreifung in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht begreifen und sehen im NS-Faschismus einen Betriebsunfall. Ihnen erscheint der Faschismus als etwas besonders teuflisches, dem sie dann ihre bürgerliche, „freiheitliche“ Demokratie entgegenstellen. Wer unfähig ist, eine materialistische Faschismusanalyse zu betreiben, kann den Nationalsozialismus nur moralisch dämonisieren. 

Faschismus ist aber kein Betriebsunfall oder eine Verschwörung von bösen Menschen, sondern eine Herrschaftsform, die den Kapitalismus und die Kapitalverwertung in einer bestimmten Situation sichern soll.

Mit der Gegenüberstellung von Faschismus und Demokratie klappt es immer wieder die Menschen aufzufordern, ihre sozialen Interessen zurückzustellen, um in einer Volksfront mit den etablierten Parteien und anderen kapitalistischen Kräften gemeinsam gegen das Böse vorzugehen. Dabei wird mit den Bildern von Auschwitz moralischer Druck auf die Menschen aufgebaut, unbedingt die Demokratie zu verteidigen. Somit wird auch eine Identifizierung mit der bürgerlichen Demokratie geschaffen. Für uns verläuft die Trennungslinie nicht zwischen Faschismus und Demokratie sondern zwischen KapitalistInnen und Lohnabhängigen. 

Der Antifaschismus dient auch dazu, von der Politik der etablierten Parteien abzulenken. Das Schlimme der kapitalistischen Normalität wird ausgeblendet, indem immer auf den noch schlimmeren Faschismus verwiesen wird. Die Kriege eines Schröder-Fischer-Regimes beispielsweise erscheinen lächerlich gegen das Morden der Wehrmacht in Jugoslawien. Die Arbeitsbedingungen in der BRD erscheinen human, verglichen mit den Vernichtungslagern in Auschwitz. 

Im Moment empören sich wieder bürgerliche PolitikerInnen über rassistische, antisemitische, sozialdarwinistische oder geschichtsrevisionistische Nazi-Äußerungen. Hiermit kann exzellent von der rassistischen BRD-Flüchtlingspolitik, dem Treiben der Bundeswehr in Afghanistan, dem Antisemitismus in Deutschland oder dem Sozialabbau abgelenkt werden. Nazis brauchen bei ihren Provokationen gar nicht die bürgerliche Diskursebene zu verlassen. Sie können bestehende Diskurse aufgreifen und im bürgerlichen Sinne vorantreiben. 

Durch die Bindung der lohnabhängigen Bevölkerung an den bürgerlichen Staat und an staatstragende Organisationen und das Verzichten auf eine eigene Klassenposition wird ein wirksamer Kampf gegen Faschismus letztlich verhindert. Statt kampffähige Strukturen bereits in der Weimarer Republik aufzubauen und dann militant gegen die Machtergreifung Hitlers vorzugehen, oder den bewaffneten Kampf gegen Franco in Spanien fortzusetzen haben das Volksfront-Konzept und die Unterordnung unter demokratisch-bürgerliche Regierungen in der Geschichte immer zur Kapitulation vor dem faschistischen Machtwechsel im bürgerlichen Staat geführt. 

Die Illusion eines „revolutionären“ Antifaschismus 

Viele Linke begründen ihren „Antikapitalismus“ damit, dass die „Vernichtung des Nazismus mit all seinen Wurzeln“ das Ziel sei (Schwur von Buchenwald). Und die Wurzel ist eben der Kapitalismus. 

Solch eine Kapitalismuskritik wird nicht mehr mit einem (sozialen) Klasseninteresse, sondern rein moralisch mit dem Appellieren an gute Menschen begründet. Dabei werden bürgerliche und staatstragende Kräfte oft unreflektiert in einer Volksfront gegen den Faschismus eingebunden, teilweise sogar die eigene revolutionäre Position aus taktischen Gründen in den Hintergrund gestellt. Damit begeben sich radikale Linke aber unweigerlich auf das Terrain der bürgerlichen Ideologie. 

Es wird nicht untersucht wie Kapitalismus funktioniert, um dann die Ausbeutung in der Produktionsphäre zu kritisieren, die die Grundlage kapitalistischer Produktionsverhältnisse darstellt. Auch die Unterdrückungsmechanismen Rassismus und Patriarchat, die sich der kapitalistischen Entwicklung weitestgehend angepasst haben, werden nicht grundsätzlich kritisiert.

Lediglich die negativen Symptome der bürgerlichen Gesellschaft wie bestimmte rassistische, patriarchale oder antisemitische Verhaltensweisen, Nationalismus und Sozialabbau werden nur einer moralischen Kritik unterzogen. Dabei wird Kapitalismus oftmals an seinen eigenen, bürgerlichen Freiheitsidealen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und dem Grundgesetz) gemessen, statt die Widersinnigkeit der bürgerlichen Aufklärung und die Funktion von Gesetzen und Gerichten aufzuzeigen. Die Kritik am Kapitalismus verbleibt auf einer oberflächlichen Ebene, und der propagierte Antikapitalismus wird zur hohlen Phrase. Der Antikapitalismus wird dem Antifaschismus untergeordnet. 

Der Weg zum bürgerlichen Antifaschismus, der stets die Demokratie (und damit den Status quo) verteidigen will bzw. lediglich einen besseren Kapitalismus anstrebt, ist nicht mehr sehr weit. 

Kein Dankeschön an die alliierten Imperialisten

Es ist in der Linken zur unangenehmen Mode geworden, den Alliierten für die Befreiung vom Hitler-Faschismus zu danken. Danken kann mensch aber nur für die Erfüllung eines vorher gesteckten Zieles. Die Befreiung vom Faschismus durch die Alliierten war aber eher ein glücklicher Zufall, praktisch ein Nebenprodukt, als das eigentliche Ziel. Als Hitler an die Macht kam, wurde dies in den Westmächten mit großer Zustimmung aufgenommen. Auch die repressive Innenpolitik der Nationalsozialisten wurde von den Regierungen der Westmächte nicht kritisiert. Die Zerschlagung kommunistischer Organisationen und der ArbeiterInnenbewegung wurde bejubelt und galt als Warnung an alle ArbeiterInnen in Europa. Die Appeasement-Politik zielte darauf ab, einen Verbündeten gegen das Stalin-Regime zu finden. Erst als der deutsche Imperialismus zu mächtig wurde und die Interessen der anderen imperialistischen Mächte gefährdete, begannen die Westmächte 1939 mit dem Kriegseintritt. Von der Judenvernichtung in Auschwitz haben alle Alliierten gewusst, verhindert wurde sie dennoch nicht (z.B. durch Bombenangriffe). Stattdessen wurden sogar jüdische Menschen z.B. von den Engländern wieder nach Deutschland in den Tod zurückgeschickt.

Der Antifaschismus diente auch den DemokratInnen der Alliierten nur als Alibi, um ebenfalls ein Stück vom Kuchen des Weltmarktes abzubekommen und ihre Außenpolitik moralisch zu legitimieren. Hätte Deutschland zu dieser Zeit keine Juden vernichtet und eine bürgerlich-demokratische Regierung gehabt, hätten die Alliierten sicherlich eine moralisch nicht so einfache Rechtfertigung für den Kriegseintritt gefunden. 

Klassenkampf statt Volksfront 

Die revolutionäre Linke darf sich nicht auf den bürgerlichen Diskurs „Faschismus oder Demokratie“ einlassen. Diese Frage hat sich in der Praxis so nie gestellt. Denn wenn sich die Mehrheit der kapitalistischen Klasse und der Staat einmal für den Faschismus entschieden haben wie 1933 in Deutschland oder 1938 in Spanien oder 1973 in Chile usw., dann steht die bürgerliche Demokratie gar nicht mehr zur Debatte. Dann kann es nur noch heißen: Sozialismus oder Barbarei! 

Wenn am 8. Mai Neonazis, bürgerliche PolitikerInnen und die bürgerliche Linke parallel auf die Straße gehen, um unterschiedliche Varianten der kapitalistischen Herrschaft ­– mit den zugehörigen Nationalfahnen – zu propagieren, darf sich die radikale Linke nicht in diesen Faschingszug einreihen. 

Wir müssen mit einer eigenen Position deutlich machen, dass wir jede dieser 3 Seiten ablehnen und dass ein besseres Leben nur jenseits kapitalistischer Verwertungslogik möglich ist. 

Die einzige Antwort auf Sozialabbau und Krieg, auf Faschismus oder bürgerliche Demokratie und auf Volksfrontkonzepte kann nur die soziale Weltrevolution sein! 

Wir sollten dies am 8. Mai z.B. mit dem Motto „Befreit sind wir noch lange nicht – Kapitalismus zerschlagen!“  deutlich machen.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns von seinem Autor am 24.4.2005 zu Veröffentlichung überlassen.