Ein anderer Blick auf den "8. Mai"

Aufruf des Volkskomitees von Pankow an die Einwohner
04/05

trend onlinezeitung

Der von der Hitlerclique vom Zaun gebrochene Krieg neigt sich seinem unvermeidlichen Ende zu. Das deutsche Volk erntet, was es teils gesät, teils durch stillschweigende Duldung mitverschuldet hat. Unschuldige leiden mit Schuldigen! Dennoch: Wir wollen leben und wir werden leben! Wir wollen und werden wieder aufbauen!

Zu diesem Zweck hat sich aus Einwohnern aller nichtfaschistischen Kreise ein Volkskomitee gebildet, das in Zusammenarbeit mit der Kommandantur Ordnung schaffen will und alle gutwilligen Kreise zur Mitarbeit aufruft. Die vordringlichsten Aufgaben sind:

1. Sicherstellung der Ernährung,
2. Sicherstellung des Sanitätswesens,
3. Unterbringung der Flüchtlinge,
4. Beseitigung der Verkehrshindernisse.

Zur Durchführung dieser Maßnahmen sind folgende Anordnungen getroffen worden:

1. Zwecks Sicherung der Ernährung sind alle Lebensmittelvorräte, Bedarfsmittel des täglichen Gebrauchs, Baustoffe usw. beschlagnahmt und dürfen nur noch nach den von den Behörden erlassenen Vorschriften verausgabt werden. Nähere Anordnungen folgen. Plündern, Hamstern oder Verschieben wird strengstens bestraft.

2. Zur Feststellung der Esser findet eine Zählung der Einwohnerschaft statt. Für jedes Haus bzw. jeden Siedlungsblock ist eine Liste auszufüllen.

3. Zwecks Unterbringung der zahlreichen Flüchtlinge sind durch besondere Listen für jedes Haus bzw. jeden Siedlungsblock festzustellen:

a) die Zahl der bewohnbaren Räume einschl. Halbzimmer und Wohnkammern; desgleichen Küche und Nebengelaß;
b) die Zahl der derzeitigen Einwohner dieser Räume.

4. Häuser, Luftschutzkeller, Höfe, Straßen und Plätze sind gründlich zu säubern, um dem Ausbruch von Seuchen vorzubeugen. Jede Hausgemeinschaft hat bis zur Mitte des Straßendammes mit behelfsmäßigen Mitteln Schutt und Unrat zu beseitigen bzw. abzufahren. Unebenheiten des Weges sind provisorisch auszuglätten. Unbewohnte Grundstücke sind von den benachbarten Häusern mitzuversehen. Tierkadaver und verwesbare fälle sind tief einzugraben.

5. Zwecks Wiederaufnahme des Verkehrs sind Barrikaden und Verkehrshindernisse zutragen, das Material eventuell seitwärts zu lagern. Gräben und Trichter werden Schutt aufgefüllt. Blindgänger und Minen sind durch Umzäunung bzw. Schilder kei lieh zu machen und dem Volkskomitee anzuzeigen.

6. Zur Durchführung aller dieser Maßnahmen ist sofort für jedes Haus bzw. jeden Siedlungsblock ein Hausobmann bzw. Stellvertreter oder -Vertreterin zu wählen. Name genaue Wohnung der Obleute sind an der Haustür deutlich sichtbar anzubringen. A antwortlich für die Wahl obiger Funktionäre sind die Hauseigentümer bzw. die Vermieter oder Hauswarte.

7. Herumliegende bzw. versteckte Waffen, Munition und anderes Heeresgerät sind sammeln, sicherzustellen und sofort dem Volkskomitee anzumelden.

8. Im übrigen verweisen wir auf die einschlägigen Kommandanturbefehle, deren stre ste Befolgung im ureigensten Interesse der Einwohnerschaft liegt. Jede Zuwiderhandlung gegen diese Befehle sowie offener oder versteckter Widerstand gegen die Anordnungen des Volkskomitees werden strengstens bestraft.

Berlin-Pankow, den 2. Mai 1945 Florastraße 79, Ecke Neue Schönholzer Straße
Volkskomitee Berlin-Pankow

 

Editorische Anmerkungen

Dieses Komitee entstand aus der Zusammenarbeit verschiedener Kommunisten und Sozialdemokraten Ende April in einem Lokal Ecke Wollank- und Schulzestraße, das einige Tage später in die Florastraße übersiedelte. Es nahm sofort Verbindung zur sowjetischen Bezirkskommandantur in Pankow auf. Aus ihm rekrutierten sich auch die ersten Angehörigen der Verwaltung in Pankow. Wie lange dieses Komitee existierte und welche Arbeit es praktisch leistete, ließ sich heute nicht mehr feststellen.

Quelle: Senat v. Berlin, Berlin, Quellen und Dokumente, 1. Halbband, S.213

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