Berichte aus Frankreich
ENORM ! – Und jetzt ?  

von Bernhard Schmid

04/06

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Allein ein Wort kann das Menschenmeer der französischen Demonstrationen vom Dienstag (28. März) beschreiben: «enorm». Die CGT, die nicht nur Mitveranstalterin, sondern eine der Haupttriebkräfte bei der Mobilisierung war – in Paris hatte sie allein rund ein Drittel der Teilnehmer mobilisiert -, sprach von 700.000 Demonstranten in der Hauptstadt und 3 Millionen frankreichweit. Das wäre auf nationaler Ebene die gröbte Teilnehmerzahl, die je überhaupt registriert wurde. Dies bleibt auch dann so, wenn man berücksichtigt, dass die Polizei, deren Angaben fast immer untertrieben sind, von 1,1 Millionen Demonstranten spricht und der Realitätssinn gebietet, von insgesamt ungefähr zwei Millionen in ganz Frankreich auszugehen. Vergleicht man gegenüber früheren Mobilisierungen jeweils Veranstalterangaben mit Veranstalterangaben einerseits und die jeweiligen Zahlen des Innenministeriums untereinander auf der anderen Seite, dann bleibt es dabei: Noch nie waren so viele Demonstranten auf einmal unterwegs. Sie forderten die Rücknahme des «Ersteinstellungsvertrags» oder CPE (Contrat première embauche), der es erlaubt, Jugendliche und junge Erwachsene einzustellen, die während zweier Jahre keinen Kündigungsschutz genieben.
 

Fotoserien zu den jüngsten Grobdemonstrationen in Paris (durchschnittlich circa ausgewählte 50 Bilder pro Höhepunkt der Mobilisierung) vom Verfasser dieser Zeilen, mit Kommentaren und Erläuterung, können hier besichtigt werden:

 

         28. März: http://www.labournet.de/internationales/fr/junge4/index.htm

 

         18. März: http://www.labournet.de/internationales/fr/junge3/index.htm

 

         16. März: http://www.labournet.de/internationales/fr/junge2/index.htm

 

         07. März: http://www.labournet.de/internationales/fr/junge/index.htm

 

Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte der Pariser Demonstranten waren dabei Jugendliche und Studierende, ein weiteres Drittel war bei der CGT organisiert, dem postkommunistischen, gröbten Gewerkschaftsdachverband in Frankreich. Der Rest verteilt sich auf kleinere Gewerkschaftsblöcke, auf die Eltern von unter 26jährigen – die sich als solche auswiesen und oft noch mit schulpflichtigen Kindern kamen, da in zahlreichen Schulen streikbedingt der Unterricht ausfiel -, Arbeitslose und prekär Beschäftigte.

 

         Kleiner Erfahrungsbericht vom Dienstag         (28. März)

 

         Gegen 14 Uhr möchte in die Linie 5 der Pariser Métro umsteigen, die von der Endstation in der Trabantenstadt Bobigny (Bezirkshauptstadt des Départements Seine-Saint-Denis, das die besonders armen nördlichen Pariser Vorstadt umfasst) aus kommend am Ostbahnhof eintrifft. Von dort möchte ich zur Gare d’Austerlitz, denn an diesem Bahnhof muss in Kürze die Grobdemonstration auf dem ersten Drittel ihres Weges vorbeikommen. Am Ausgangsort, so fürchte ich aus gutem Grund, wird unmöglich ein Überblick zu gewinnen sein – dort drängen sich die Menschen tatsächlich derart dicht, dass man kaum sehen kann, welche Kräfte mobilisiert haben. Erst vier Stunden nach dem Auftakt, so erfahre ich später über Handy, können die letzten Blöcke der Demonstration den Ausgangsplatz verlassen.

 

         Erst einmal dauert es quälend lange Minuten, bis überhaupt ein Métrozug heranrollt. Tatsächlich fielen nur rund 30 Prozent des Verkehrs der Untergrundbahn streikbedingt aus, aber die Streikfolgen fallen für die 14 Linien sehr unterschiedlich aus. Der Bahnsteig ist überfüllt. Selten schienen so viele Leute auf einmal unterwegs. Aber in den ersten Zug ist kein Hineinkommen: Die Waggons sind überfüllt mit Jugendlichen, die offenkundig aus der Banlieue kommen und von denen viele Migrationshintergrund haben. Ein Teil von ihnen scheint Jugendgangs anzugehören, die mitfahrende Passagiere beschimpfen und am Ostbahnhof aus der Métro zu drängen versuchen. Es kommt zu heftigem Streit, ein aus einem Waggon heraus geworfener Schlüsselbund fliegt mir um die Ohren, und ein wütender Chinese wird durch seine verängstigte Frau gerade noch daran gehindert, mit den Fäusten auf die Jugendlichen loszugehen. Da die Türen nicht zugehen, stationiert de Métrozug bestimmt fünf Minuten, bevor er weiterrollen kann.

 

Aber da kommt auch schon der nächste Metrozug. Er ist auch voll von Jugendlichen aus den Trabantenstädten, aber dieses Mal können wir Umstehenden einsteigen – solange jedenfalls, bis der knappe Raum bis zum Platzen überfüllt ist. Diese Jugendlichen hier aber sind nett. Viele von ihnen sind genauso farbig wie die im vorausfahrenden Zug, finden es aber nach eigenem Bekunden «groben Quatsch, was die da machen». Sie sind Schüler an einer Berufsoberschule in Aulnay-sous-Bois, die sie seit 14 Tagen besetzt halten. Über Polizeiprovokationen in den Banlieue-Schulen ist in diesen Tagen viel die Rede, aber meine Nachbarn im Zug halten sich zurück mit Kritik an den Ordnungskräften: «Nein, bei uns sind sie eher moderat. Anderswo haben sie in der letzten Zeit provoziert und dadurch manche Banlieues in Aufruhr versetzt, das stimmt.» Einige finden, dass «Gewalt überhaupt Quatsch» ist, ein anderer aber meint: «Falls die Regierung heute abend nicht nachgibt, was soll man dann noch machen? Nachdem so viele Millionen auf der Strabe waren, was bleibt dann noch übrig? Anscheinend versteht die Regierung nur die Sprache, die im Herbst in manchen Banlieues gesprochen wurde, damals hat die Regierung es tierisch eilig gehabt zu reagieren... » Eine ältere Gewerkschafterin diskutiert ruhig mit den Jugendlichen, erklärt aber, dass die diese letzte Aussage für Quatsch hält: «Falls es zu Gewalt kommt, wird dies nur die Leute spalten, die Sympathien für die Proteste haben, und gegen Euch aufbringen. Das ist es doch, was (Innenminister) Sarkozy will!» 

 

An fast jeder Station hält unser Zug länger, zum Teil für mehrere Minuten – aufgrund von Problemen im vorausfahrenden Zug, wie ich vom Bahnsteig aus höre.  Zwei mal greifen entweder Polizisten oder Angestellte der Metro-Betreibergesellschaft RATP ein, die Umsteigenden auf dem Bahnsteig steigen auf die Plastikstühle, um besser zu sehen. An der Place de la Bastille wird es mir zu bunt, und ich verlasse die Métro vorzeitig – die Demonstration muss ohnehin hier vorbeikommen, und bei der ganzen verlorenen Fahrzeit dürfte das auch nicht mehr lange dauern. Und tatsächlich, nach 15 Minuten taucht die Spitze des offensichtlich riesigen Demonstrationszugs auf der Höhe der Bastille-Oper auf. An der Oper selbst hängt ein grobes Transparent: «Die Pariser Opern im Streik». Tatsächlich laufen die Beschäftigten der beiden Opernhäuser in einem der erten Blöcke des Zuges. Ihr Protest richtet sich freilich nicht allein gegen den CPE, sondern hängt ebenso mit dem seit Wochen andauernden Arbeitskampf der ‘intermittents du spectacle’ (nicht ständigen Beschäftigten des Kulturbetriebes) zusammen, denen ein Teil ihrer bisher bestehenden sozialen Absicherungen entzogen werden soll. 

 

Der Protestzug nimmt scheinbar kein Ende. Ich beobachte eine Weile, laufe ihm entgegen, lasse mich dann wieder «stromaufwärts» mittragen. Am lustigsten unter den Dingen, die mir auffallen, ist eine Gruppe von als Marsmännchen in grün verkleideten Demonstranten, die mit der Aufschrift demonstrieren: «CPE: Contrat pour extraterrestres» (Vertrag für Auberirdische). Dazu die Erklärung: «Das hat nichts Menschliches». Daher wohl der Rückgriff auf Marsmännchen... Auf dem Vorplatz der Bastille-Oper applaudieren zahlreiche Umstehende den einfallsreichsten Transparenten oder Verkleidungen. Viel Beifall erhält der auf einem Autodach und einem darauf befestigten Schild stehende Gallierhäuptling, der die «zornigen ArchäologInnen» repräsentiert. Der Einfall ist nicht völlig neu, der Gallier kam auch schon in ähnlichem Aufzug zu den Demonstrationen gegen die «Rentenreform» 2003, damals auf einem Holzpferd sitzend. Die Archäologen protestieren einerseits gegen die allgemeinen Einschnitte wie die sonstigen Demonstranten, andererseits machen sie auch geltend, dass die Sparpolitik im öffentlichen Dienst wichtige archäologische Projekte gefährde. Zudem beschweren sie sich über eine wirtschaftsfreundliche Änderung der Bauvorschriften, die es erschwert oder mitunter verunmöglicht, ein Bauvorhaben zu verzögern, von dem man vermutet, dass es unterirdische archaölogische Schätze bedroht. So mischen sich oft unterschiedliche, gesamtgesellschaftliche und sektorenbezogene Protestmotive.

 

«Werfen wir die Hinauswerfer hinaus» steht auf einem riesigen Transparent eines Ortsverbands der CGT, unter Anspielung auf die Abschaffung des Kündigungsschutzes – während der ersten zwei Jahre nach Eintritt in ein neues Arbeitsverhältnis -, den der «Ersteinstellungsvertrag» CPE bewirkt. «Dez Villepin, wir haben ein Motiv, Dich ‘rauszuwerfen» steht auf einem anderen Transparent, von Namenlosen gemalt. Und sehr oft liest man mittlerweile auch: «De Villepin, tritt zurück!» Das ist neu gegenüber den Anfangswochen der Protestbewegung.

 

Noch nicht einmal die Hälfte der Demo ist auf der Place de la République angekommen, als es schon knallt. Die Jugendgangs hätten versucht, Schaufenster einzuwerfen, höre ich gerüchteweise über den Platz. Vor allem aber sehe ich, dass sie sich Scharmützel mit den Polizeikräften liefern: Wurfgegenstände fliegen auf die CRS (Republikanische Sicherheitskompagnien), die französische Bereitschaftspolizei. Diese antwortet mit Pfefferspray-Reizgas. Immer wieder flüchten kleinere Gruppen, die dicht vor den Absperrgittern der CRS gestanden hatten, quer über den Platz. Ich frage mich, ob die Jugendgangs es ausschlieblich auf die Polizei abgesehen haben, deren Präsenz sie offenkundig tatsächlich wie magisch anzieht. Oder ob sie auch aggressiv gegen DemonstrantInnen vorgehen, wie es am vorigen Donnerstag nach der Auflösung der Studierendendemo in der Nähe des  Invalidendoms der Fall war. «Da, in der Mitte des Platzes, da sind einige Leute aus Gangs aktiv, die auch DemonstrantInenn bestohlen oder beraubt haben», wird mir bekundet. In ihren Augen handelt es sich bei demonstrierenden Oberschülern, die an diesem Tag äuberst zahlreich auch aus den Banlieues selbst und aus Migrantenfamilien gekommen sind, um «Privilegierte» und um Weicheier – so dass ihnen eine Form von sozialer Rache  auf dem Wege des Faustrechts legitim erscheint. Aber es zeichnet sich schnell deutlich ab, dass diejenigen, die auch Demonstranten attackierten, nur eine verschwindende Minderheit von circa 40 Randaliern sind.

 

An einem Moment bewege ich mich kurz vor der Polizeiabsperrung auf der Mitte des Platzes, um besser zu erkennen, was genau vor sich geht, als plötzlich Bewegung in eine gröbere Gruppe kommt. Sie löst sich von der Absperrung ab, um auf die hintere Seite der Place de la République zu flüchten, offenkundig einen Tränengaseinsatz befürchtend. Ich stolpere über die Fübe  eines ebenfalls fortlaufenden Banlieuejugendlichen und lande der Länge nach auf dem Asphalt. Ich sehe mich schon geistig um meinen Fotoapparat erleichtert, aber nichts dergleichen: Der Betreffende entschuldigt sich gleich drei mal, und Andere aus seiner Gruppe, die überwiegend aus Schwarzen besteht, helfen mir höflich auf die Fübe. Offenkundig sind sie nicht alle so eingestellt, wie man sich das mitunter vorstellen könnte, wenn man die tatsächlich hässlichen Bildern von Angriffen auf Demonstranten vom vorigen Donnerstag kennt. Ich trage eine Schulterzerrung davon, bin aber gleichzeitig versöhnlicher gestimmt.

 

Kurze Zeit darauf wird plötzlich gar nicht mehr klar, wer auf diesem Platz zu wem gehört. Ein Teil des Ordnerdiensts der CGT, der mit Armbinden gekennzeichnet ist, holt Knüppel aus den Jacken hervor und attackiert eine Gruppe von Banlieuejugendlichen, um sie zu vertreiben. Angeblich oder tatsächlich waren diese zuvor gegen Demonstranten vorgegangen. Ein paar Momente lang fliegen Flaschen, ohne dass wirklich klar wäre, von wem gegen wen. Ein Pulk von Reportern mit Presseschild, den Fotoapparat oder die Filmkamera unter dem Arm und offenkundig auf der Suche nach dem «Scoop», stürmt mit Motorrad- und anderen Helmen auf dem Kopf über den Platz. «So ein Blödsinn, die führen sich auf, als seien sie in Bagdad – und das alles dient nur der Sensationsmache» meinen Demonstranten um mich herum. Mehrmals ertönen Pfiffe gegen die Leute mit den Filmkameras.

 

Zwei Minuten später befinde ich mich wieder an dem Ort, wo sich eben noch die Kette des CGT-Ordnerdienst befand. Da stehen wieder mehrere dutzend Männer in Zivil, die meisten tragen Aufkleber von Gruppen der radikalen Linken. Ich glaube, dass es sich um ein anderes Stück der Ordnerkette handelt, auf Nachfrage anderer Anwesender hin versichert auch einer der Männer: «Wir sind vom Ordnerdienst der CGT». Minuten später erkenne ich meinen Irrtum, als die angeblichen Ordner links und rechts von mir ausklappbare Gummiknüppel auf Knopfdruck ausfahren und zwei von ihnen Handschellen hervor holen. Es gelingt mir noch, im Durcheinander Fotos zu machen. Unmittelbar vor mir wird ein junger Mann verhaftet, der Hintergrund ist völlig unklar. Es handelt sich um eine Gruppe von 30 bis 50 Zivilpolizisten, die alles tun, um für Gewerkschaftsordner oder Linksradikale gehalten zu werden. Kurz darauf ziehen sie sich auf die Seite des Platzes zurück. Die Anwesenden hinter ihrer Kette werden wenig später in einen Kessel abgedrängt, da die CRS den Boulevard nach wenigen hundert Metern abgeriegelt haben. Nach ein paar Minuten dürfen wir den Kessel auf der anderen Seite verlassen, aber einzeln. Offenkundig hat man es umso schwerer, aus dem Kessel herauszukommen, je dunklere Hautfarbe man hat. Einige junge Frauen protestieren: «Lasst die Schwarzen laufen» und werden durch die CRS aufgefordert, gefälligst ihres Weges zu gehen. Nur langsam und passiv lassen sie sich aber, rückwärts gehend, den Boulevard hinauf abdrängen. Nach zwei Minuten kommen aber die Leute aus dem Kessel frei, der in diesem Moment aufgelöst worden ist. 

 

Die Demonstration ist unterdessen noch in vollem Gange, denn über zwei Seitenstraben kann ich bequem auf die Place de la République zurückkehren, an der nach wie vor bestehenden CRS-Abriegelung vorbei. Noch anderthalb Stunden lang fliebt kontinuierlich ein Strom von Demonstranten auf den Platz, der kein Ende zu nehmen scheint. Über eine Stunde sehe ich ausschlieblich CGT-Transparente im hinteren Zugteil, der postkommunistische Gewerkschaftsbund hat offenkundig mächtig mobilisiert. Rund um die Place de la République herrscht eine surrealistische Atmosphäre: Vorne fliegen Steine und Tränengasgranaten, auch wenn sich die Situation ganz allmählich beruhigt, und hinten kommen ununterbrochen weitere – friedliche und oft ältere – Demonstranten an.

 

 

        

Welche Fortsetzung des Konflikts ?

 

         Die grobe Frage lautet, wie es nach dem immensen Mobilisierungserfolg vm Dienstag (28. März) nun weiter geht. Kommt es zum von Vielen angesprochenen Generalstreik, falls die Regierung hart bleibt ? Oder begnügen sich die Gewerkschaftsführungen wieder, wie beim Konflikt um die «Rentenreform» von 2003, mit ein paar Aktionstagen in wöchentlichem Abstand, die nichts blockieren und durch die Regierung letztendlich übergangen werden?

 

Der konservative Premierminister Dominique de Villepin ist nach wie vor nicht gewillt, den Gesetzestext, der die Rechtsgrundlage für den CPE schafft, zurückzuziehen. Allenfalls ist er bereit, zwar keine Begründungspflicht für Kündigungen – die juristische Konsequenzen hätte, da das Kündigungsmotiv gerichtlich nachprüfbar wäre – in den «Ersteinstellungsvertrag» aufzunehmen, aber die Arbeitgeber zu einem «Gespräch» mit dem Betroffenen zu verpflichten, falls ein CPE aufgekündigt wird. Das Gesetz ist bereits im Schnellverfahren, dank dem Premierminister de Villepin durch das Stellen der Vertrauensfrage jegliche Sachdebatte mit den Abgeordneten abwürgen konnte, durch das Parlament gedrückt und am 10. März 06 verabschiedet worden. Doch noch ist er nicht von Präsident Jacques Chirac unterschrieben. - Dieser will das allerdings jetzt rasch nachholen, nachdem das französische Verfassungsgericht (präsidiert von dem früheren neogaullistischen Politiker Pierre Mazeaud, einem der wenigen Männer im Lande, die mit Präsident Chirac per Du kommunizieren) am Donnerstag abend die Gesetzesartikel zur Einführung des CPE für «verfassungsmäbig» erklärt hat. Mutmablich noch am Freitag (31. März) will Chirac das Gesetz unterzeichnen.

 

         Da es noch möglich wäre, das Gesetz durch Nichtunterschrift des Präsidenten ans Parlaments zurückverweisen, appellierten die fünf gröbten und institutionalisierten Gewerkschaftsverbände (CGT, CFDT, FO, CFTC, CGC) am Dienstag abend in einem gemeinsamen Brief an Staatspräsident Chirac: Dieser solle die Unterschrift unter das Gesetz vorläufig verweigern und es zu einer weiteren Beratung in die Nationalversammlung zurückgeben. Um dort dieses Mal eine Sachdiskussion zu ermöglichen, aber auch, um den CPE aus dem «Gesetz für Chancengleichheit» getauften Gesetzespaket herauszunehmen. Dies ist absolut nicht im Sinne der radikaleren Kräfte in der Protestbewegung, und namentlich der «Koordination der Studierenden, Oberschüler und jungen Prekären gegen den CPE». Sie fordert die Zurückweisung des gesamten Gesetzespakets, das neben dem umstrittenenen CPE auch noch eine Reihe von Sonderbestimmungen für die Banlieuejugend enthält. So ermöglicht es die Kollektivbestrafung von Familien – im Regelfall aus den sozialen Unterschichten -, deren Jugendliche straffällig wurden, durch den Entzug von Sozialleistungen. Ferner legalisiert das Gesetzespaket den Eintritt ins Arbeitsleben mit 14 und lässt Nachtarbeit sowie Wochenenddienst ab 15 zu.    

 

 

         Legitimitätskonflikt innerhalb der Bewegung:

Gewerkschaften versus Koordination

 

Von Anfang an herrscht ein Legitimitätskonflikt zwischen zwei Akteuren innerhalb der jüngeren Protestbewegung. Auf der einen Seite stehen die etablierten Gewerkschaftsapparate, die eine breite soziale Basis unter abhängig Beschäftigten haben, aber die in Gipfeltreffen ihrer jeweiligen Spitzen über ihre nächsten Schritte entscheiden. Andererseits gibt es die Streikkoordination, die aus dem studentischen Selbstorganisierungsprozess in Vollversammlungen und Streikkomitees hervorging. Letztere ging aus einem Selbstorganisierungsprozess in Gestalt vor allem der studentischen Vollversammlungen an den bestreiken Hochschulen hervor. Ihre Delegierten werden nach einem festen Verteilungsschlüssel gewählt: 5 Delegierte pro bestreikte und blockierte Universität ; 3 Delegierte pro bestreikte und teilweise blockierte Hochschule ; 2 Beobachter/innen (mit Rede-, ohne Stimmrecht) aus Hochschulen, wo es Streikaktivitäten gibt, aber der Vorlesungsbetrieb nicht beeinträchtigt. Bei Oberschulen ist dies etwas schwieriger, da es keine derart groben Schüler/innn- wie Studierenden-Konzentrationen gibt und daher auch nicht so groben Vollversammlungen wie an den Universitäten abgehalten werden können. Dennoch nahmen an den letzten Delegiertenkonferenzen der Koordination neben rund 400 Studierenden-Delegierte (samt Ersatzdelegierten) auch rund 100 Oberschüler-Delegierte teil, die gewählt worden waren. An den letzten beiden Wochenenden tagte die Koordination in Dijon und in Aix-en-Provence, am Wochenende des 01./02. April wird sie jetzt in Lille zusammentreten.

 

In ihr machen Angehörige der sozialdemokratisch dominierten Studierendengewerkschaft UNEF rund ein Drittel, und radikale Linke  unterschiedlicher Couleur (vor allem undogmatische Trotzkisten, anarcho-syndikalistische und libertäre Kräfte) zusammen gut die Hälfte der Delegiertenmandate aus. Seit dem vorvergangenen Wochenende verfügt die Koordination jetzt erstmals auch über einen 18köpfigen Sprecherausschuss. Dies soll es ihr ermöglichen, auch zwischen dem Zusammentreten der Delegiertenkonferenzen mit mehreren hundert in Vollversammlungen gewählten Delegierten (an den Wochenenden) handlungsfähig zu sein und Stellungnahmen abgeben zu können. Was sie bisher nur zögerlich tut, aufgrund des imperativen Mandats, das die Delegierten normalerweise an die Beschlüsse von Vollversammlungen bindet. Dem Vernehmen nach gehören dem Sprecherausschuss an: drei Vertreter der UNEF-Mehrheit (die dem Mitte-Links-Flügel innerhalb der französischen Sozialdemokratie nahe steht), drei Vertreter der JCR (Jeunesses Communistes Révolutionnaires, trotzkistisch-undogmatisch), 1 Verteter der anarcho-syndikalistischen CNT, 1 Vertreter von LO (Lutte Ouvrière, trotzkistisch-traditionsmarxistisch), 1 Vertreter der LCR (trotzkistisch-undogmatisch, Erwachsenenorganisation der JCR), 1 Mensch vom anti-neoliberalen linken Flügel der Sozialdemokratie (PRS um Mélenchon), 3 Sympathisanten der radikalen Linken ohne Organisationsmitgliedschaft. Die französische KP ist anscheinend nicht vertreten, aber hat in diesen jüngeren Generationen ohnehin kaum noch etwas an den Hacken.

 

Bislang ergriff auf den verschiedenen Stufen des Konflikts gewöhnlich die Streikkoordination die Initiative, und die Gewerkschaftsapparate schlugen daraufhin ein Alternativdatum vor. Die Koordination wollte am 16. März, einem Donnerstag, auf die Strabe gehen? Die Gewerkschaftsspitzen bevorzugten den 18. März, da sie an einem Samstag nicht zum Streik aufrufen mussten. Die Koordination wollte einen landesweiten Aufruf zu Arbeitsniederlegungen am 23. März ? Die Gewerkschaftsführungen favorisierten einen solchen Aufruf an die Lohnabhängigen für den 28. März.

 

         Am späten Nachmittag dieses Mittwochs, 29. März beschlossen die versammelten 12 Gewerkschaftsorganisationen (8 Gewerkschaftsverbände von Arbeitern und Angestellten und je 2 Studierenden- und Oberschülerorganisationen) einen neuen Mobilisierungstermin. Sie rufen zum Streik und zu Demonstrationen am Dienstag, den 04. April auf. Dieses Mal haben damit die institutionalisierten Gewerkschaftsorganisationen zum ersten Mal einen Aufruf der Streikkoordination übernommen, die sich ihrerseits auf ihrem Delegiertentreffen am vorigen Wochenende in Aix-en-Provence für den 04. April als Datum eines solchen neuen Streiktags frankreichweit ausgesprochen hatte.

 

         Gleichzeitig wird die Koordination nun erstmals als Ansprechpartner durch die Gewerkschaftsverbände akzeptiert. Bisher wurden Vertreter/innen der Koordination jeweils vor den Zusammenkünften der Gewerkschaftsverbände für 5 Minuten empfangen und angehört, durften aber nicht an den gemeinsamen Sitzungen der Repräsentanten von Gewerkschaftsverbänden teilnehmen. Nunmehr wurde der Beschluss angenommen, dass sie an den Zusammenkünften der 12 Gewerkschaftsverbände in voller Länge teilnehmen dürfen und sich auch zu Wort melden dürfen (allerdings ohne Stimmrecht).  

 

 

         Streben die Konservativen ein Thatcher-Szenario an ?

 

         Die konservative Regierung ihrerseits setzt offenkundig auf eine Strategie des «Aussitzens». Sie düfte darauf bauen, dass am 8. April die zweiwöchigen Universitätsferien im Grobraum Paris beginnen, und zeitversetzt dann auch in den anderen Regionen. (Es gibt drei Urlaubsregionen im französischen Schul- und Hochschulsystem.) Falls bis dahin die Mobilisierung den CPE nicht kippen konnte, droht die Gefahr, dass die studentische Mobilisierung sich dann auseinanderläuft – zumal nach der Ferienperiode die Jahresabschlussprüfungen näher rücken und viele Studierende zu fürchten beginnen, dass ihnen eine Fortsetzung des Ausstands ein ganzes Jahr kosten könnte und etwa ihr Stipendium in Gefahr bringt. Hat der Ausstand von Arbeitern und Angestellten keinen gröberen Effekt, so dürfte es unmöglich sein, dass Oberschüler und Studierende (jedenfalls in so grober Zahl wie bisher) die Mobilisierung allein weiter tragen. In Rennes, von wo der Hochschulstreik ausging, dauert er seit nunmehr 7 Wochen ohne Unterbrechung an. Dies dürfte die Regierung in ihr Kalkül einbeziehen.

 

Sofern sie die Kraftprobe um den CPE durchhält (auch wenn sie in dieser Frage zwei Drittel der öffentlichen Meinung gegen sich hat), könnte sie versucht sein, ähnlich wie Margaret Thatcher in den 80er Jahren den Gewerkschaften eine herbe und länger anhaltende Niederlage beizubringen. Danach lässt sich dann sehr vieles ohne gröbere Widerstände durchdrücken. Züge einer solchen Niederlage, anhand derer die Regierung beweist, dass sie harte Einschnitte und den autoritär vorangetriebenen Umbau des Sozialsystems tatsächlich auch durchsetzen kann, trug in Frankreich bereits der Ausgang des Konflikts um die «Rentenreform» 2003. Ihn verloren die Gewerkschaftsführungen, nachdem sie selbst zuvor die Mobilisierung auf Sparflamme gehalten hatten, vor allem durch Abwürgen des spontan ausgebrochenen Transportstreiks. Aus diesem Grunde fordert ein Teil der politischen und wirtschaftlichen Elite auch von Premier de Villepin jetzt durchzuhalten – um nämlich dieses 2003 durch die französische Rechte errungene «politische  Kapital» nicht wieder zu verlieren. Daran hängt, so der strategische Hintergedanke, nämlich ihr Vermögen, (auch weiterhin) unbeirrt soziale Verschlechterungen der Gesellschaft aufzuzwingen.

 

 

Keine Personenfrage!

 

Es geht also, entgegen den Spekulationen eines Gutteils der französischen Presse, mitnichten um persönliche Charakterzüge de Villepins oder um die Frage, ob er «Autist», «starrsinnig» oder «taub» für die Forderungen sei. Es handelt sich um eine bewusst geplante Politik. Allerdings treten im aktuellen Konflikt auch die Sollbruchlinien innerhalb des bürgerlichen Lagers auf, unter anderem entlang der Rivalitäten zwischen den beiden konservativen Anwärtern, auf die Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr. De Villepins grober Herausforderer, Innenminister Nicolas Sarkozy, nutzt die Situation geschickt aus. In einer viel beachteten Rede am Montag abend (27. März) im nordfranzösischen Douai forderte Sarkozy lautstark den «soziale Dialog» ein. Er variierte dieses Thema auf verschiedenen Tonleitern herunter: «Man kann eine feste Position einnehmen, ohne sich zu versteifen... Man kann versöhnlich (auftreten), ohne schwach zu sein... » Wunderschönes Wortgeblubber also. In der Sache selbst sprach Sarkozy sich für Verhandlungen mit den Gewerkschaftsorganisationen vor der Einführung des CPE aus. Nichts anders versucht Premierminister de Villepin im Moment händeringend.

 

Aber es gelingt Sarkozy damit, sich mit seiner Pose als vermeintlicher Kritiker der Hardlinerposition des Regierungschefs in Szene zu setzen. Dabei ist das, was der hyperaktive Minister in derselben Rede längerfristig vorschlug bzw. ausmalte, näher an dem dran, wovon die französischen Arbeitgeberverbände im Moment träumen: Sarkozy sprach sich für die Schaffung eines «contrat unique (Einheitsvertrags) ohne Befristung» aus. Das bedeuter verklausuliert nichts anderes, als das, was die Arbeitgeberverbände die ganze letzte Zeit über schon fordern: Statt Sonderverträge vom Typ CPE/CNE zu favorisieren, soll der Kündigungsschutz im Normalarbeitsvertrag vom Typ CDI (unbefristeter Vertrag), der theoretisch weiterhin die Norm bleiben soll, selbst angeknackst werden.  Ein «contrat unique» würde bedeuten, dass die Arbeitsverträge weiterhin unbefristet abgeschlossen werden, aber am Anfang mit so gut wie keinem Kündigungsschutz ausgestattet sind. Je mehr Dienstjahre man anhäuft, desto mehr Kündigungsschutz «erwirbt» man – d.h., dass die ggf. in Aussicht stehende Abfindung mit Fortdauer der Betriebszugehörigkeit ganz allmählich substanziell wird. Für die Beschäftigten mit nur wenigen Jahren Betriebszugehörigkeit fällt dabei jedoch kaum etwas ab. Eine tolle Alternative..., die in mancher Hinsicht noch schlimmer als das CPE-Projekt ausfallen könnte.

 

Nichts anderes strebt in der Sache auch Premierminister de Villepin selbst an. Nachdem sein Arbeits- und Sozialminister Jean-Louis Borloo (den der Regierungsschef vor der Veröffentlichung des Plans zur Einführung des CPE am 16. Januar gar nicht erst um Rat gefragt hatte - zur Ausarbeitung des CPE-Projekts vgl. hier: http://www.labournet.de/internationales/fr/cpe_idee.html), sich Mitte Januar in dieser Hinsicht verplappert hatte, räumte dies dann auch sein Vorgesetzter ein. In zwei Interviews bzw. Gesprächen, die am 26. Januar in ‘Le Monde’ und im ‘Nouvel Observateur’ wiedergegeben wurden, erwähnte Dominique de Villepin, dass die Schaffung eines «contrat unique» (einheitlichen Vertrags für sämtliche Beschäftigten, mit verringertem Kündigunsschutz für Alle) bis im Juni dieses Jahres in Planung sei – falls es mit dem CPE hinhaue. Da sein Minister nicht hatte die Klappe halten können, kündigte de Villepin es nunmehr offiziell an. Zu dem Zeitpunkt glaubte er freilich noch, dass sich der CPE ohne gröbere Schwierigkeiten durchsetzen lasse.

 

Der Unterschied zwischen dem von Dominique de Villepin gewählten Prozedere einerseits, und dem Kurs von Nicolas Sarkozy zum «contrat unique» (wie auch der Position von CDU-Kanzlerin Angela Merkelsin dieser Frage!) auf der anderen Seite ist taktischer Natur. De Villepin hielt es für die klügere Taktik, nach dem guten alten Prinzip der «Salamitaktik» vorzudringen – und den Abbau des Kündigungsschutzes nicht für alle (neu abgeschlossenen) Arbeitsverhältnisse auf’s Mal, sondern «scheibchenweise» durchzusetzen. Erst kamen die abhängig Beschäftigten in den Kleinbetrieben und mittelständischen Unternehmen (unter 20 Mitarbeitern) dran, für die es den CNE oder «Neueinstellungsvertrag» gibt; dieser wurde am 02. August 2005 auf dem Weg einer Notverordnung der Regierung eingeführt, ohne Parlamentsdebatte. Genau wie der jetzt heftig umstrittene CPE sieht er eine kündigungsschutzlose Periode von zwei Jahren nach Abschluss des Arbeitsvertrags vor, genannt «Periode der Konsolidierung des Beschäftigungsverhältnisses» (oh wie schön...). Danach kam der CPE oder «Ersteinstellungsvertrag» dran, der jetzt für die unter 26jährigen eingeführt werden soll.

 

Wäre dies einmal durchgekommen, so der Masterplan, dann würden die anderen Gruppen auch keinen gröberen Widerstand mehr leisten, da sie von den bereits Betroffenen isoliert worden wären und man ferner «Gleichberechtigung» (in Gestalt des Abbaus des Kündigungsschutzes für Alle) hätte predigen können. Doch die Taktik hatte einen Haken: Die jüngere Generation, die noch nicht so resigniert ist wie Teile der vorangegangenen und auch noch nicht die Erfahrung so vieler Niederlagen in sozialen Kämpfen hat machen müssen, fühlt sich durch den CPE besonders benachteiligt. Dieses Gefühl der Ungleichbehandlung war anfänglich ein mächtiger Motor, der eine noch «frische» und zum Protest bereite Generation in Schwung brachte. Dabei ist der Protest dann nicht stehen geblieben, denn längst hat er sich inhaltlich erweitert, zumindest auf sämtliche mit der Prekarisierung von Lohnarbeit verbundenen Aspekte. Systematisch wird duch die Jugend und die Studierenden nicht nur das Nichtinkrafttreten des CPE (der die unter 26jährigen betrifft), sondern auch insbesondere die bedingungslose Rücknahme des CNE (für die abhängig Beschäftigten, die älter als 26 und in Kleinbetrieben tätig sind) gefordert. Die Hauptbetroffenen haben verstanden, dass sich ein erfolgreicher Kampf nur gemeinsam gewinnen lässt. Und in der französischen Gesellschaft herrscht nach wie vor eine massive Sympathie für ihren Kampf.
 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 1.4.2006 vom Autor.