Prekarität und soziale (Des-)Integration

von Klaus Dörre/Tatjana Fuchs
04/06

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Wir gehen in unserem Beitrag von der These aus, dass der Trend zur Prekarisierung der Erwerbsarbeit von maßgeblichen gesellschaftlichen Akteuren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft noch immer unterschätzt wird. Wir werden zeigen, dass die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse zunehmend auch das noch immer geschützte Zentrum der Arbeitsgesellschaft diszipliniert. Gestaltungsansätze, die sich an lange Zeit verbindlichen Kriterien für „gute Arbeit“ orientieren, geraten in die Defensive. In der Konsequenz plädieren wir für eine Strategie der Entprekarisierung als Eckpfeiler eines neuen arbeitspolitischen Koordinatensystems von Praktikern aus Wirtschaft, Betrieben, Gewerkschaften und Politik.

1. Zwei Grundformen der Kritik und der „neue Geist des Kapitalismus“

Soweit sie einem emanzipatorischen Anspruch verpflichtet ist, stützt sich Arbeitspolitik seit jeher auf zwei Grundmuster der Kritik (Boltanski/Chiapello 2003: 68 ff.), die in Abhängigkeit vom zeithistorischen Kontext allerdings höchst unterschiedlich gewichtet und kombiniert werden. Die „Sozialkritik“ stellt wesentlich auf klassenspezifische Verteilungskonflikte und die Einhegung des Marktrisikos von Lohnarbeit ab; sie orientiert sich an der Arbeitskraftperspektive. Im Unterschied dazu thematisiert die „Künstlerkritik“[1] die Perspektive einer Selbstentfaltung in konkreten Arbeitstätigkeiten. Sie richtet sich gegen instrumentelle Zugriffe auf das menschliche Arbeitsvermögen, gegen die „Verdinglichung“ sozialer Beziehungen und betrachtet Autonomiegewinn im Arbeitsprozess als Grundvoraussetzung menschlicher Emanzipation. Die klassische Taylorismuskritik der Industriesoziologie, die nach 1968 einen neuen Frühling erlebte, bewegt sich, ebenso wie die staatlich geförderte Humanisierungspolitik (Fricke 2003: 51 ff.), primär auf der Linie des „künstlerischen“ Kritikmusters. Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gehören wie selbstverständlich zum Arsenal von Gestaltungsansätzen, die mit Hilfe von Gruppenarbeit, Tätigkeitsanreicherung, Jobrotation und der Ausweitung direkter Partizipation Fremdbestimmung im Arbeitsprozess wenigstens abmildern sollen. Mit dieser Zielsetzung folgt die industriesoziologische „Künstlerkritik“ einer libertären Grundausrichtung, die sich – etwa mit frühen Konzepten zur „Mitbestimmung am Arbeitsplatz“ – nicht nur gegen hierarchische Formen der Managerkontrolle, sondern auch gegen limitierte Entscheidungsmöglichkeiten in Gewerkschaften und politischen (Arbeiter-)Parteien wendet.

Charakteristisch für die flexibel-marktgetriebene Produktionsweise, wie sie sich seit den 1980er Jahren herausbildet, ist nun, dass das mit dieser Produktionsweise korrespondierende Legitimationsregime das libertäre Potenzial der Künstlerkritik aufzusaugen vermag. Kritik an bürokratischen Verkrustungen, Uniformität, Fremdbestimmung und Autonomieverlust im Arbeitsprozess wird aufgegriffen und zur Legitimation von Rationalisierungsstrategien genutzt, die eine möglichst umfassende Wiederherstellung des Warencharakters der Arbeitskraft anvisieren. Auf diese Weise wird der libertäre Grundtenor der „Künstlerkritik“ in Richtung des zeitgenössischen „Marktfundamentalismus“ (Giddens 1997) verschoben. Diese Verschiebungen sind längst in die Denkweisen und Interpretationsschemata von Fachjournalisten und anderen Popularisierungsinstanzen vorgedrungen und bestimmen zunehmend die alltäglichen Denk- und Handlungsweisen eines auf die Vorherrschaft der Konkurrenz und die Gebote kurzfristiger Profitmaximierung eingeschworenen Managertypus. Das derzeit aktuelle Loblied auf ‚flexible Menschen’, die „nicht mehr lebenslang auf eine Firma, einen Standort, eine Tätigkeit fixiert sein“ wollten, die sich „aus dem Hamsterrad der Abhängigkeit und Gleichförmigkeit“ zu befreien suchten, die keine Lust mehr hätten, „sich in Hierarchien einzufügen und hoch zu dienen“ und sich deshalb als „Täter der Modernisierung“ betätigten (Englisch 2001: 41 f.), klingt wie ein Triumph industriesoziologischer Taylorismuskritik. Doch was in scheinbarem Gleichklang mit der „Künstlerkritik“ formuliert wird, mündet unversehens in ein Plädoyer für ein modernes „Jobnomadentum“, dessen Essenz in der möglichst nahtlosen Anpassung an die Zwänge marktgetriebener Flexibilisierung besteht.

2. Finanzkapitalismus, Spaltung der Arbeitsgesellschaft und Prekarisierung

Der „neue Geist des Kapitalismus“, der Herrschaft als „Selbstverwirklichungsprojekt“ (Boltanski/Chiapello 2003: 261) inszeniert, kann Wirkung entfalten, weil er mit realen Veränderungen in Ökonomie und Arbeitswelt korrespondiert. Viele dieser Veränderungen laufen auf eine Stärkung marktförmiger, finanzgetriebener Steuerungsmechanismen in Unternehmen und Betrieben hinaus (vgl. Sauer 2005). Der sperrige Begriff der „Vermarktlichung“ subsumiert freilich eine Vielzahl von Prozessen auf höchst unterschiedlichen Ebenen des ökonomischen Feldes. Und er wäre gänzlich überstrapaziert, würde er als uniform wirkender Sachzwang interpretiert. Märkte lassen sich nicht als rein ökonomische, über Geld gesteuerte Tauschbeziehungen begreifen, denen das Soziale quasi von außen beigefügt wird. Märkte sind selbst soziale Felder (Fligstein 2001, Bourdieu 2000). Ihrer komplexen Architektur liegen gesellschaftliche Kompromissbildungen zugrunde, deren konkrete Beschaffenheit überhaupt erst die Vielfalt institutioneller Kapitalismen ausmacht.

So verstanden, bedeutet eine Intensivierung der Marktsteuerung weder das Verschwinden hierarchischer Unternehmensbürokratien noch totale „Ökonomisierung“. Auf eine knappe Formel gebracht, bildet der internationale „Finanzmarktkapitalismus“ (Aglietta/Rebérioux 2004, Windolf 2005, Dörre/Brinkmann 2005) einen strukturierten Möglichkeitsraum, der Unternehmen dazu bewegt, ihr Investitionsverhalten, ihre Produktionskonzepte und Personalpolitiken an den Renditen der Marktführer und indirekt an den Gewinnerwartungen von Finanzmarktakteuren auszurichten. Über ein großes Arsenal an Maßnahmen zur Steigerung externer (Bildung von Holdings, Verringerung der Fertigungstiefe, Outsourcing, Offshoring) und interner Flexibilität (Centerbildung, Führung über Gewinnmargen, Zielvereinbarungen, interne Verrechnungspreise) gelingt es, die Unsicherheiten des Marktgeschehens in die Unternehmensorganisation hinein zu verlagern. Dabei erweisen sich kapitalmarktorientierte Formen der Unternehmenssteuerung als wichtige Vermittlungsinstanz zwischen unsicheren Märkten und flexiblen Produktionsformen.

Der internalisierte Konkurrenzdruck motiviert das strategiefähige Management zu einer Revitalisierung von Rationalisierungskonzepten, die faktisch auf eine extensive Arbeitskraftnutzung hinauslaufen. Im Grunde handelt es sich um Versuche, „dem Faktor Arbeit das Prinzip der Liquidität aufzuzwingen, mit der die Finanzmärkte das Kapital ausstatten“ (Chesnais 2004: 235). Kosteneinsparungen durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen, Flexibilisierung und Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse sind hierfür probate Mittel. Unter den Bedingungen finanzmarktgetriebener Akkumulation gelten Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen als Restgröße, die flexibel an Markterfordernisse angepasst werden muss. Eine Folge ist, dass Marktrisiken mehr und mehr an die Belegschaften weiter gegeben werden. Sämtliche Schutzmechanismen von der tariflichen Begrenzung der Wochenarbeitszeiten bis hin zum arbeitsrechtlich garantierten Kündigungsschutz werden tendenziell zum Zielobjekt „entgrenzender“ Verwertungsstrategien (Kratzer 2003).

Natürlich bricht sich die Rekommodifizierung der Beschäftigungsverhältnisse nicht automatisch und ungefiltert Bahn. In Deutschland wird die Abweichung von der Normbeschäftigung zumindest in Kernbereichen der industriellen und Dienstleistungsproduktion ausgehandelt. Standortkonkurrenzen sorgen allerdings dafür, dass Betriebsräte primär daran interessiert sind, die Beschäftigung zumeist schrumpfender Stammbelegschaften wenigstens auf Zeit zu sichern (dazu bereits Lutz 1978). Häufig sind es denn auch befristete Beschäftigungsgarantien für Stammbeschäftigte, die im Tausch für Zugeständnisse bei der Flexibilisierung von Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden (Rehder 2003). Auch diese Aushandlungsprozesse forcieren im Zeitverlauf die Durchsetzung eines flexibel-marktzentrierten Produktionsmodells, und mit ihm die Ausbreitung atypischer und häufig eben prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Wie Robert Castel (2000: 336 ff.; 2003: 7: ff.) scharfsinnig analysiert hat, spalten sich die Arbeitsgesellschaften in mehrere Zonen. Zur „Zone der Integration“ mit geschützten Normarbeitsverhältnissen gesellt sich eine „Zone der Entkoppelung“ mit Gruppen, die mehr oder minder dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Dazwischen expandiert eine „Zone der Prekarität“, die eine Bündelung heterogener, nicht dauerhaft Existenz sichernder und daher jederzeit „verwundbarer“ Beschäftigungsverhältnisse bildet. Zu diesen Beschäftigungsverhältnissen zählen Zeit- und Leiharbeit, abhängige Selbständigkeit, befristete Beschäftigung, Mini- und Gelegenheitsjobs ebenso wie manche Formen von Teilzeitarbeit oder Beschäftigungsverhältnisse mit tarifierten Niedrig- oder Armutslöhnen (Schäfer 2003: 420). Moderne „Scheinarbeit“ (Bourdieu 2000) wie die gemeinnützige Tätigkeit in Ein- oder Zwei-Euro-Jobs und das breite Spektrum informeller und Schattenarbeit markieren den Übergang zur „Zone der Entkoppelung“. Die Herausbildung einer „Zone der Verwundbarkeit“ ist bedeutsam, weil sie, anders als die Langzeitarbeitslosigkeit, im unmittelbaren Erfahrungsbereich des produktiven Zentrums der Gesellschaft angesiedelt ist. Mitglieder der Stammbelegschaften haben die Arbeitsrealität der Leiharbeiter, Aushilfskräfte, befristet Beschäftigten oder abhängig Selbständigen beständig vor Augen. Umgekehrt bedeutet prekäre Beschäftigung für die betroffenen Gruppen gerade nicht absolute Verelendung und Pauperisierung. Ein Arbeitsverhältnis kann als prekär bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Beschäftigungsunsicherheit und ein unterdurchschnittliches Lohnniveau sind aus der Arbeitskraftperspektive zentrale Merkmale für Prekarität. Sinnverluste, Statusunsicherheit sowie Anerkennungs- und Planungsdefizite stehen für Prekarisierungstendenzen, die sich vornehmlich über die Subjektperspektive erschließen. Innerhalb der „Zone der Prekarität“ finden sich diese Merkmale in höchst unterschiedlichen Kombinationen und Bündelungen.

3. Subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigung – eine Typologie

Das reale Ausmaß von Prekarisierungstendenzen wird unter Sozialwissenschaftlern kontrovers diskutiert. Betrachtet man einzelne Beschäftigungsformen, wie z.B. Leiharbeit, so erscheint diese gemessen an ihrem Anteil auf den ersten Blick wenig dramatisch (Bosch 2004: 231 ff.). Dennoch zeichnen sich Leiharbeit und befristete Beschäftigungsverhältnisse durch eine dynamische Expansion aus. Die Zahl der Leiharbeiter hat sich binnen weniger Jahre mehr als verdoppelt (Vogel 2004). Der Anteil der befristet Beschäftigten lag bereits 2001 bei 9,6% aller abhängig Beschäftigten; 2003 besaßen 35% aller abhängig Beschäftigten unter 20 eine befristete Stelle, 1991 lag der Anteil der Befristeten in dieser Altersgruppe noch bei 21%. In den nachfolgenden Altersgruppen der 20-24-Jährigen und der 25-29-Jährigen lagen die Befristungsquoten 2003 bei 24% bzw. 15% (vgl. Statistisches Bundesamt 2003). In den jüngeren Alterskohorten ebenso wie in bestimmten Branchen ist atypische und häufig prekäre Beschäftigung längst zur Normalität geworden. Und selbst in hochaggregierter Form zeigt sich mittlerweile eine deutliche Verdrängung von unbefristeter Vollzeitarbeit, d.h. jener Beschäftigungsform, die man bislang wesentlich mit geschützter Normarbeit assoziiert hat (vgl. Abb.1).

Abb.1: Veränderung der Beschäftigungsstruktur: Anteil der Erwerbstätigen nach Erwerbsformen (Ost – West):  

Veränderung der Beschäftigungsstruktur

Quellen:
Statistisches Bundesamt, Fachserie 1. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit Reihe 4.1.1.
Geringfügige Beschäftigung ab 2000: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit Leiharbeit bis 1991: Bundesanstalt für Arbeit, Landesarbeitsamt Nord, Referat Information, Controlling und Forschung; ab 2000 Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 1968: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, VIII: Erwerbstätigkeit 2002: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 4.1.1. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Bundesagentur für Arbeit: Arbeitnehmerüberlassungsstatistik und Statistik über geringfügig Beschäftigte sowie über Teilzeitbeschäftigte und Ausbildungsmarkt 2002

Nicht allein auf Grund der Dynamik atypischer und häufig prekärer Beschäftigung wäre eine stärkere Thematisierung von prekärer Arbeit angemessen, sondern vor allem wegen der subjektiven Wirkungen unsicherer Arbeitsverhältnisse, die bis tief in die „Zone der Integration“ hineinreichen. Die subjektiven Verarbeitungsformen prekärer Beschäftigung sind in Deutschland noch kaum untersucht worden. Auf der Grundlage unserer eigenen Forschungen über die gesellschaftlichen Konsequenzen prekärer Beschäftigung können jedoch erste Erkenntnisse formuliert werden. Unsere Ergebnisse beziehen wir zum einen aus qualitativen Interviews, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Prekäre Beschäftigung – Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus?“ durchgeführt und analysiert wurden. In diesem Zusammenhang wurde eine Typisierung erarbeitet, die neun Formen der (Des-)Integration zeigt. Zum anderen präsentieren wir erste Auswertungen der repräsentativen Befragung „Was ist gute Arbeit? Anforderungen aus der Sicht von Erwerbstätigen“. In diesem Projekt wurden Beschäftigte nach der Gestaltung ihrer aktuellen Arbeitssituation, deren Bewertung sowie nach ihren Anforderungen an gute Arbeit gefragt. Tatsächlich zeigt sich in beiden Projekten, dass die Castell’schen Zonen der Arbeitsgesellschaft in den Köpfen von Arbeitern, Angestellten und Arbeitslosen präsent sind. Im Arbeitsbewusstein markieren die Zonen jedoch keine starren Grenzziehungen. Sie wirken im Sinne flexibler (Selbst-)Klassifikationen, in denen sich immer auch die Besonderheiten der eigenen Berufsbiografie, Lebensalter, Qualifikationsniveau, Geschlecht und nicht zuletzt ethnisch gefärbte Wahrnehmungen bemerkbar machen.

Zunächst zeigt sich, dass prekäre Arbeitsverhältnisse (in beiden Studien handelt es sich um spezifische Formen von Leiharbeit, Teilzeitarbeit, befristeter und geringfügiger Beschäftigung) ein Desintegrationspotenzial beinhalten, das primär auf unsicherer Beschäftigung und/oder einer nicht dauerhaft Existenz sichernden Entlohnung und nur sekundär auf der Blockierung qualitativer Arbeitsansprüche, mangelnder Anerkennung, eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten und Teilhabechancen beruht. Konstitutiv für die subjektive Verarbeitung der individuellen Erwerbslage sind zunächst jene Anspruchsdimensionen, die mit der Arbeitskraftperspektive korrespondieren. Der vertraglichen Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses (Dauer und Entlohnung der Beschäftigung) fällt dabei eine entscheidende Funktion zu. Ist die Beschäftigung formal auf Dauer gestellt und garantiert die Entlohnung ein kulturelles Minimum, rücken qualitative Anspruchsdimensionen ins Zentrum des Arbeitsbewusstseins.

Wichtig ist, dass sich bei den prekär Beschäftigten neben vielen Kritikpunkten an unbefriedigenden, teilweise entwürdigenden Arbeitsverhältnissen ein zentraler Mangel bemerkbar macht. Unabhängig von der konkreten Beschäftigungsform beklagen die „Prekarier“ mehr oder minder alle, dass sie im Vergleich zu den Stammbeschäftigten über weitaus geringere Möglichkeiten verfügen, eine längerfristige Lebensplanung zu entwickeln. Damit stoßen wir auf die Reaktualisierung einer Problematik, wie sie Bourdieu (2000) in seiner großartigen Studie zu einer traditionalen Gesellschaft im Übergang zum Kapitalismus exemplarisch analysiert hat. Danach spalten sich die Arbeiter unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit „klar in zwei Gruppen auf“, in jene, die „fest angestellt sind, um es zu bleiben“, und jene, die „zu allem bereit“ sind, „um dieser Unsicherheit zu entkommen“ (ebenda: 113). Die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen sorgen dafür, dass auch die Chancen, einen längerfristigen, halbwegs realistischen Lebensplan zu entwickeln, ungleich verteilt sind. Arbeitslosigkeit und befristete Arbeiten untersagen „die Ausarbeitung eines rationalen Lebensplans“ (ebenda: 109). Ohne festen Arbeitsplatz und sicheres Einkommen stellt sich allmählich eine Desorganisation des Raum- und Zeitempfindens ein. Davon können die Chancen zu kollektiver Interessendurchsetzung nicht unberührt bleiben. Ein Subproletariat, dessen gesamte Energien darauf gerichtet sind, über den nächsten Tag zu kommen, schwankt nach Auffassung des französischen Soziologen beständig zwischen spontanen, ungerichteten Revolten und Apathie.

Schaubild 1: (Des-)integrationspotentiale von Erwerbsarbeit – eine Typologie

 

 

 

 

 

Zone der Integration

1. Gesicherte Integration („Die Gesicherten“)

2. Atypische Integration („Die Unkonventionellen“ oder „Selbstmanager“)

3. Unsichere Integration („Die Verunsicherten“)

4. Gefährdete Integration („Die Abstiegsbedrohten“)

 

Zone der Prekarität

5. Prekäre Beschäftigung als Chance / temporäre Integration („Die Hoffenden“)

6. Prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrangement („Die Realistischen“)

7. Entschärfte Prekarität („Die Zufriedenen“)

 

Zone der Entkoppelung

8. Überwindbare Ausgrenzung: („Die Veränderungswilligen“)

9. Kontrollierte Ausgrenzung / inszenierte Integration („Die Abgehängten“)

Dieser letztgenannte Befund fällt mit Blick auf eigene empirische Befunde (die Typen 5, 6, 7) sicher zu pessimistisch aus. Leiharbeiter oder prekär beschäftigte Verkäuferinnen entwickeln durchaus kollektive Interessenorientierungen. Und auch die Ergebnisse der repräsentativen Befragungen zeigen, dass im Hinblick auf konkrete Einstellungen, die Formulierung von Handlungsbedarfen bis hin zu den Vorstellungen von Aspekten guter Arbeit hohe Übereinstimmung besteht. Doch aufgrund der besonderen Restriktionen prekärer Beschäftigung gelingt es ihnen kaum, das punktuelle Engagement zu verstetigen.

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse bedeuten nicht allein Unsicherheit und materiellen Mangel, vielfach bewirken sie Anerkennungsdefizite und eine Schwächung der Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen zu bewältigen. Dennoch kommt es auch in der „Zone der Verwundbarkeit“ nicht zu linearen, sich beständig verstärkenden Desintegrationsprozessen; die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse mündet keineswegs in einen unaufhaltsamen Zerfall der Gesellschaft. Vielmehr macht sich ein Phänomen bemerkbar, das als (Des-)Integrationsparadoxon gespaltener Arbeitsgesellschaften (Dörre u.a. 2004) bezeichnet werden kann. In der „Zone der Prekarität“ erfolgt Einbindung weniger über primäre (reproduktive und/oder tätigkeitsbezogene), sondern wesentlich über tradierte oder neu erzeugte sekundäre Integrationspotenziale. Von sekundären Integrationspotentialen kann gesprochen werden, wenn z.B. junge Leiharbeiter ihr prekäres Beschäftigungsverhältnis als Sprungbrett in eine Normbeschäftigung betrachten und auf den „Klebeffekt“ ihrer Tätigkeit hoffen (Typ 5). Um sekundäre Integration handelt es sich bei prekär Beschäftigten wie z.B. älteren Leiharbeitern, die sich pragmatisch-illusionslos mit ihrer Lage arrangieren, indem sie beständig zwischen Arbeitslosigkeit und Leiharbeit pendeln (Typ 6). Sekundäre Integrationspotenziale verschaffen sich auch Geltung, sofern sich Verkäuferinnen im Einzelhandel scheinbar vorbehaltlos in ihre Rolle als Zuverdienerinnen (Typ 7) fügen und damit eine stabile Partnerschaft und ein Existenz sicherndes Einkommen des Lebenspartners zur stillen Voraussetzung ihres eigenen, einer klassischen geschlechtsspezifischen Rollenteilung folgenden Arrangements machen. Und selbst bei den „Abgehängten“ (Typ 9) zeigt sich die Wirksamkeit sekundärer Integrationsmechanismen, wenn sich jugendliche Erwerbslose als „arbeitende Arbeitslose“ definieren, weil sie ihr Einkommen in der Schattenwirtschaft verdienen.

Die Wirksamkeit sekundärer Integrationspotentiale darf indessen nicht als Hinweis auf eine Entschärfung der Prekaritätsproblematik interpretiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Sekundäre Integrationspotenziale sind vergleichsweise schwach. Entweder beruhen sie auf einem fiktionalen Zukunftsbewusstsein, auf der Hoffnung, irgendwann doch noch Anschluss an die „Normalität“ regulärer Beschäftigung zu finden, oder sie benötigen eine Mobilisierung ständischer Zugehörigkeiten und Ressourcen, die ein Überleben in der „Zone der Verwundbarkeit“ sicher stellen können. Dass sekundäre Integrationspotenziale überhaupt wirksam werden können, hängt wesentlich mit der disziplinierenden Wirkung von Arbeitsmarktrisiken zusammen. Die Disziplin des Marktes kann dazu führen, dass z.B. tradierte Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung revitalisiert werden. So definieren sich Verkäuferinnen mitunter auch dann noch als bloße Zuverdienerinnen, wenn ihr Einkommen aufgrund der Arbeitslosigkeit des Lebenspartners längst den Lebensunterhalt der Familie sichern muss (Typ 7).

Die Lage der Beschäftigten in der Zone der Prekarität unterscheidet sich gravierend von den subjektiven Verarbeitungsformen flexibler Beschäftigung, wie sie sich in der „Zone der Integration“ finden. Das zeigt sich besonders deutlich bei den „Selbstmanagern“ (Typ 2), zu denen in unserer Untersuchung Freelancer aus der IT-Industrie, Werbefachleute, mittlere Manager aber auch Leiharbeiter zählen, die sich den Standards einer Normbeschäftigung angenähert haben. Für die befragten Freelancer und Werbefachleute wird das Sicherheitsrisiko, das in der Beschaffenheit ihres Beschäftigungsverhältnisses angelegt ist, subjektiv durch den Freiheitsgewinn kompensiert, den sie mit der Abwesenheit hierarchischer Zwänge verbinden. Zudem können sie darauf vertrauen, aufgrund ihrer Qualifikation und ihrer sonstigen Ressourcen Phasen der Beschäftigungsunsicherheit einigermaßen gut überbrücken zu können. Vor allem aber gilt: Integrationsstiftend wirkt in diesen Gruppen die Identifikation mit der eigenen Tätigkeit und das Streben nach Professionalität.

Damit ist nicht gesagt, dass eine individuelle Positionierung in der „Zone der Normalität“ mit Problemfreiheit gleichzusetzen ist. Selbst in Segmenten mit qualifizierter Angestellten- und Informationsarbeit können massive Desintegrationseffekte auftreten. Diese werden allerdings nicht durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse verursacht. Sie resultieren ganz im Gegenteil aus dem Streben nach Professionalität und Selbstverwirklichung, das mit Arbeitswut, Leistungsdruck, Stress, Beeinträchtigung des Privatlebens, Entspannungsunfähigkeit, blockierten Aufstiegsmöglichkeiten und Diskontinuitätserfahrungen bei der Projektarbeit einher geht. Solche Desintegrationseffekte können sich so zuspitzen, dass das Beschäftigungsverhältnis in Frage gestellt wird und damit eine prekäre Lage entsteht. Dennoch sind flexible und prekäre Beschäftigungsverhältnisse nicht identisch. Manche Formen flexibler Beschäftigung können mit gesicherter Integration einhergehen. Dagegen sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse flexibel; aber längst nicht alle Formen flexibler Beschäftigung erweisen sich zugleich als prekär. Die „Selbstmanager“ (Typ 2) agieren allesamt oberhalb einer „Schwelle der Berechenbarkeit (oder des Unternehmensgeistes), welche wesentlich von der Verfügung über Einkünfte abhängt, die von der Sorge um die Subsistenz dauerhaft entlasten“ (Bourdieu 2000: 92). Bei den prekär Beschäftigten, die sich an der „Schwelle der Sicherheit“ bewegen, zu der eine feste Arbeitsstelle und ein regelmäßiges Einkommen mit dem ganzen Ensemble an Versicherungen auf die Zukunft Zugang verschaffen, ist das nicht der Fall.

4. Rückwirkungen auf die „Zone der Integration“: „Stabilisierung des Instabilen“

Entscheidend für den hier interessierenden thematischen Kontext sind die Rückwirkungen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse auf die „Zone der Integration“. Im Unterschied zu den subproletarischen Existenzen, die Bourdieu vor Augen hatte, führen prekäre Beschäftigungsverhältnisse in den Arbeitsgesellschaften der Gegenwart nicht zu vollständiger Entwurzelung und Pauperisierung. Die prekär Beschäftigten befinden sich in einer eigentümlichen „Schwebelage“ (Kraemer/Speidel 2004: 119 ff.). Einerseits haben sie den Anschluss an die „Zone der Normalität“ noch immer vor Augen und müssen alle Energien mobilisieren, um den Sprung vielleicht doch noch zu schaffen. Andererseits sind permanente Anstrengungen auch nötig, um einen dauerhaften sozialen Abstieg zu vermeiden. Wer in seinen Anstrengungen nachlässt, dem droht der Absturz in die „Zone der Entkoppelung“. Aufgrund der Diskontinuitäten des Beschäftigungsverhältnisses besitzen die „modernen Prekarier“ keine Reserven, kein Ruhekissen. Sie sind die ersten, denen in Krisenzeiten Entlassungen drohen. Ihnen werden bevorzugt die unangenehmen Arbeiten aufgebürdet. Sie sind die Lückenbüßer, die „Mädchen für alles“, deren materielle und qualifikatorische Ressourcen mit anhaltender Dauer der Unsicherheit allmählich verschlissen werden.

Die anstrengende „Schwebelage“ macht die spezifische Verwundbarkeit prekär Beschäftigter aus. Das alte Glücksversprechen des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, wonach ein Normarbeitsverhältnis die Basis für langsam aber kontinuierlich wachsenden Wohlstand bildet, ist für die „Prekarier“ außer Kraft gesetzt. Insofern meint Integration in der „Zone der Verwundbarkeit“ etwas völlig anderes als in der Welt der Normarbeitsverhältnisse. Die primären arbeitsweltlichen Integrationspotenziale (Befriedigung reproduktiver und qualitativer Arbeitsansprüche) werden geschwächt; dieser Verlust kann durch sekundäre Integrationspotenziale allenfalls partiell ausgeglichen, aber niemals vollständig kompensiert werden.

Gerade weil sich die prekär Beschäftigten im unmittelbaren Erfahrungsbereich der über Normarbeitsverhältnisse Integrierten bewegen, wirken sie als ständige Mahnung. Festangestellte, die Leiharbeiter zunächst als wünschenswerten „Flexibilisierungspuffer“ betrachten, beschleicht ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit, wenn sie an die Leistungsfähigkeit der Externen denken. Sie sehen, dass ihre Arbeit zu gleicher Qualität auch von Personal bewältigt werden kann, das für die Ausübung dieser Tätigkeit Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nimmt, die in der Stammbelegschaft kaum akzeptiert würden. Auch dann, wenn Leiharbeiter und befristet Beschäftigte nur kleine Minderheiten sind, wirkt ihre bloße Präsenz disziplinierend selbst auf große, gewerkschaftlich gut organisierte Belegschaften zurück. In dem Bereich mit hoch qualifizierten Angestellten produzieren Freelancer einen ähnlichen Effekt. Schon ihre – allerdings auf wenige Wochentage beschränkte – Langzeitpräsenz im Büro sorgt dafür, dass Festangestellte in gleicher Weise mitziehen. Bei befragten Bauarbeitern (Typ 3) ist es die Präsenz polnischer Kontingentarbeiter, welche die Stammbelegschaft im Interesse der Beschäftigungssicherung zu weit reichenden Zugeständnissen bei tariflich vereinbarten Lohn- und Arbeitszeitstandards bewegt. So finden sich im Grunde in allen Beschäftigungssegmenten Wechselbeziehungen zwischen fest angestellten und flexiblen Arbeitskräften, die den „Besitz“ eines unbefristeten Vollzeiterwerbsverhältnisses als verteidigenswertes Privileg erscheinen lassen.

Dass die bloße Präsenz prekär oder flexibel Beschäftigter disziplinierende Rückwirkungen auf formal integrierte Beschäftigte zeitigt, lässt sich nur mit einer Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit erklären, die längst auch die „Zone der Integration“ erreicht hat. Das wird bei den „Verunsicherten“ (Typ 3) und „Abstiegsbedrohten“ (Typ 4) deutlich spürbar. In versteckter Form findet sich die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg selbst bei den „Gesicherten“ (Typ 1). Im Falle der „Abstiegsbedrohten“ kommt sie aufgrund realer Problemlagen mit voller Wucht zum Ausbruch. Arbeiter und Angestellte eines profitabel arbeitenden Elektrogeräteherstellers, die kurz vor der Verlagerung des gesamten Werks nach Tschechien befragt wurden, sehen sich bereits unmittelbar mit einem Abstiegsszenario konfrontiert. In anderen Fällen (Typ 2) ist es eher die schleichende Aushöhlung tariflicher Normen oder der schmerzvolle Vorwurf einer „subventionierten Existenz“ (Bergbau, Typ 3, 4), der Prekarisierungsängste frei setzt.

In Anbetracht solcher Verarbeitungsformen lässt sich präziser fassen, was den spezifischen Gehalt des (Des-)Integrationsparadoxons in gespaltenen Arbeitsgesellschaften ausmacht. Die Herausbildung einer Zone unsicherer Beschäftigungsverhältnisse forciert die Umstellung auf einen neuen gesellschaftlichen Integrationsmodus. An die Stelle einer Einbindung, die nicht ausschließlich, aber auch auf materieller und demokratischer Teilhabe beruhte, treten Integrationsformen, in denen die subtile Wirkung marktförmiger Disziplinierungsmechanismen eine deutliche Aufwertung erfährt (Heitmeyer 1997: 27). Die Disziplinierung durch den Markt kann – zumal in einer reichen Gesellschaft – eine Vielzahl an Hoffnungen, Ängsten und Traditionen funktionalisieren. Das ist möglich, weil vor allem die Gruppen der Integrierten einiges zu verlieren haben. Diese Gruppen sind es, bei denen sich Prekarisierungsängste besonders vehement Bahn brechen können. Und doch liefern sie den „Prekären“ und „Entkoppelten“ mit ihren an „Normalitätsansprüchen“ orientierten Jobs und Lebensstilen ein Leitbild, auf dessen Realisierung sich die Energien zumindest der agileren, halbwegs handlungsfähigen Fraktionen in den Zonen der „Nicht-Normalität“ nach wie vor richten.

Auf diese Weise sorgt die Konfrontation mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen nicht nur, wie Robert Castel (2000: 357) treffend formuliert, für eine „Destabilisierung des Stabilen“. Indem sie die einen diszipliniert und den anderen elementare Voraussetzungen für Widerständigkeit und Gegenwehr nimmt, fördert sie zugleich eine eigentümliche „Stabilisierung der Instabilität“. Insofern ist Prekarisierung kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft. Denn sie „bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht von ihr betroffen sind“ (Bourdieu 1998: 97 f.). Die Prekarisierung wirkt desintegrierend und zugleich als disziplinierende Kraft. Sie ist ein Macht- und Kontrollsystem, dem sich in der gespaltenen Arbeitsgesellschaft auch die formal Integrierten nicht zu entziehen vermögen.

5. Arbeitspolitische Schlussfolgerungen

Angesichts solcher Veränderungen kann Arbeitspolitik nicht zur Tagesordnung übergehen. Hohe Arbeitslosigkeit und Prekarisierung sorgen dafür, dass sich qualitative Arbeitsansprüche in Betrieben und Verwaltungen kaum noch Geltung verschaffen können. Wenn die Existenz unsicher geworden ist, treten „Entfernung zur Arbeit, Monotonie oder schlechte Behandlung“ als Gründe für Unzufriedenheit „subjektiv in den Hintergrund“; es dominiert „die Sorge um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes, so widerwärtig er auch sein mag“ (Bourdieu 2000: 72). Diese Feststellung ist von brennender Aktualität. Denn gegenwärtig sind arbeitspolitische Ansätze, die auf eine nachhaltige Gestaltung der Arbeitswelt zielen, in die Defensive geraten. In den Betrieben fällt es den Interessenvertretungen schwer, Beschäftigte für Gestaltungsprojekte zu mobilisieren.

Die Ursachen der allgemein zu verzeichnenden arbeitspolitischen Defensive wurzeln nicht nur, aber eben auch in analytischen und konzeptionellen Schwächen. Von der Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft wird die klassische Taylorismuskritik der Industriesoziologie in doppelter Weise eingeholt. Dem hegemonialen „Geist des Kapitalismus“, der die kollektive Integration der Lohnabhängigen durch Formen individueller Einbindung zu ersetzen sucht, hat sie nichts entgegen zu setzen. Über die Abwälzung der Marktunsicherheit nicht nur auf die Arbeitnehmer, sondern auch auf Zulieferer, Dienstleister und abhängige Kleinbetriebe gelingt es, die Zonen kontrollierter Autonomie in den Betrieben zur Produktion „gefügiger Arbeitskräfte“ zu nutzen (Boltanski/Chiapello 2003: 262). Eine Taylorismuskritik, die ihre arbeitspolitische Perspektive auf die Auseinandersetzung mit autoritativer Managementkontrolle und repetitiven Arbeitstätigkeiten reduziert, steht der ideologischen Offensive des „Marktfundamentalismus“ (Giddens 1997) einigermaßen hilflos gegenüber. Wo sich die Abschaffung der Stechuhr als Instrument zur Leistungsintensivierung entpuppt, wo Stress und Gesundheitsgefährdung aus flexiblen Arbeitszeiten und -formen herrühren, die Arbeitsroutine gerade nicht aufkommen lassen sollen, und wo die Diskontinuität von Projektarbeit zur psychischen Dauerbelastung wird, versagt ein Instrumentarium, das entwickelt wurde, um die Restriktionen industrieller Produktionsarbeit aufzubrechen.

An Grenzen stoßen klassische Humanisierungsansätze aber auch in Bereichen mit „schlechter Arbeit“. Gerade prekäre Beschäftigungsverhältnisse zeichnen sich durch erhebliche „Risikokumulationen“ aus. Hier vereinen sich körperlich belastende Arbeitsbedingungen und -umwelten häufig mit monotonen Tätigkeiten, die „wenig Raum für die persönliche Entwicklung“ bieten (Fuchs 2003: 163). Obwohl das die Arbeitszufriedenheit in diesen Gruppen negativ beeinflusst, steht die klassische Taylorismuskritik auch in der „Zone der Verwundbarkeit“ vor einem ernsten Problem. Der Wunsch des Leiharbeiters ist es, Stammarbeiter zu werden. Gegenüber diesem Wunsch verblassen die Widrigkeiten belastender, monotoner Tätigkeiten. Das Streben nach einer Entlohnung, die ein dauerhaftes Auskommen sichert, beginnt alle anderen Anspruchsdimensionen zu überlagern. Gruppen, die sich in der Prekarität einzurichten beginnen, sind für eine Humanisierungspolitik „jenseits des Lohns“ kaum zu gewinnen.

Die Auswirkungen der Prekarisierung betreffen aber nicht allein den analytischen Bezugsrahmen antitayloristischer Arbeitspolitik Auch die Verfechter einer fortschreitenden „Subjektivierung“ (Moldaschl/Voß 2002) von Arbeit haben primär die oberen Segmente der Arbeitsgesellschaft im Blick. In seinem paradigmatischen Aufsatz bezeichnete Martin Baethge (1990: 6) die mentale „Hegemonie der konkreten Arbeit über die abstrakte“ als den „Kern des subjektzentrierten Arbeitsverständnisses großer Teile der Arbeiter und Angestellten“. Diese Dominanz der Tätigkeits- über die Arbeitskraftperspektive trifft auf die prekär Beschäftigten offenkundig nicht zu. Und doch findet sich vieles, was das Subjektivitätstheorem anspricht, auch bei unsicher Beschäftigten. Von einer „Tragödie der Gleichförmigkeit“, die vermeintlich mit der „Idee genormter Arbeit“ (Englisch 2001: 32) verbunden ist, kann bei prekär Beschäftigten häufig keine Rede sein. Im Gegenteil, die modernen „Prekarier“ müssen sich hoch mobil verhalten, sich kurzzyklisch auf neue Arbeitsanforderungen und ein verändertes betriebliches Umfeld einstellen. Sie müssen ihrer Tätigkeit besonders engagiert nachgehen, um vorzeitige Entlassungen zu vermeiden. Doch ihre besondere Kompetenz im Umgang mit unterschiedlichsten Flexibilitätsanforderungen wird gesellschaftlich nicht anerkannt. Die Flexibilität prekär Beschäftigter wird vom „Markt“, genauer: von der flexiblen Betriebsorganisation und damit korrespondierenden Managementkonzepten erzwungen. Den Betroffenen mangelt es an materiellen Ressourcen, an Qualifikationen und auch an gesellschaftlichen Positionen, die nötig wären, um sich zu „Unternehmer(n)“ ihres „eigenen Lebens“ (Bourdieu 2000: 116) machen zu können. Positive Flexibilisierungserfahrungen sind in diesen Segmenten kaum möglich, sondern bleiben Gruppen vorbehalten, die sich aufgrund ihrer Qualifikation und ihrer Arbeitsmarktchancen eine „frei gewählte Instabilität des Arbeitsverhältnisses“ (ebd.: 73) leisten können.

Um überhaupt wieder Gehör zu finden, benötigen die beiden Varianten arbeitsorientierter „Künstlerkritik“ einer neuen Synthese mit einer auf Entprekarisierung zielenden „Sozialkritik“. Ein entsprechender Politikansatz muss zunächst die Existenz unsicherer Beschäftigungsverhältnisse anerkennen. Sicher wäre es wünschenswert, die Realität prekärer Beschäftigungsverhältnisse möglichst zu überwinden. Doch die Macht der Gewerkschaften wird selbst im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Akteuren auf absehbare Zeit nicht ausreichen, um eine solche Zielsetzung real werden zu lassen. In einer Gesellschaft mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse für viele Menschen die einzige Möglichkeit, überhaupt ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vielen Langzeitarbeitslosen ist sogar die Scheinarbeit in Ein- oder Zwei-Euro-Jobs lieber als ein andauerndes Verharren in der „Zone der Entkoppelung“.

Eine Politik der Entprekarisierung setzt voraus, die Selbstorganisation der vermeintlich Unorganisierbaren zu fördern. Dafür gibt es, wie Beispiele aus anderen europäischen Ländern zeigen, realistische Chancen. Eine politische Kultur der Selbstorganisation und Widerständigkeit vorausgesetzt, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass prekär Beschäftigte Präferenzen für kollektive Handlungsstrategien entwickeln. Gewerkschaften könnten z.B. spezifische Organisationsangebote für prekär Beschäftigte entwickeln. In Italien sind die großen Bünde diesen Weg längst gegangen. Bei den Prekären verzeichnen sie ihre relativ größten Mitgliederzuwächse (Choi 2004: 428 ff.). Dies auch, weil sie über ein ausgereiftes Beratungs- und Dienstleistungssystem verfügen, das auf die Problematik unsicherer Beschäftigungsverhältnisse zugeschnitten ist. Auf diesem Feld könnten die deutschen selbst von einigen US-amerikanischen Gewerkschaften lernen. Mit dem Rücken zur Wand haben diese Gewerkschaften Organisationserfolge bei Migranten und Prekariern erzielt. Voraussetzungen waren lokale Bündnisse mit sozialen Bewegungen, Kirchen und Selbsthilfeorganisationen, die erheblich zur Revitalisierung gewerkschaftlicher Strukturen beigetragen haben (Voss/Shermann 2000: 303 ff.).

Die Einführung eines gesetzlichen, Branchen übergreifenden Mindestlohnes wäre ein Instrument, um der Prekarisierung durch Armutslöhne Grenzen zu setzen. Nicht minder wichtig als ein Mindestlohn ist, dass Praktiker in Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften wieder Kriterien und Standards für „gute Arbeit“ in den Betrieben und Verwaltungen entwickeln. Konzepte für eine Arbeitspolitik, die qualitativen Arbeitsansprüchen wieder Geltung verschaffen könnte, sind genügend vorhanden. Im IG-Metall-Projekt „gute Arbeit“ werden mit Gesundheitsprävention, altersgerechter Arbeit und Maßnahmen gegen den Prekarisierungstrend einige aussichtsreiche Ansatzpunkte benannt (Pickshaus/Urban 2003: 264 ff.). Doch auch die besten Gestaltungskonzepte werden nicht greifen, wenn Maßstäbe für „gute Arbeit“ als bloße Kopfgeburten, ohne die Beschäftigten und Gewerkschaftsmitglieder kreiert werden. Die Gewerkschaften benötigen eine eigensinnige, autonome Arbeitspolitik, die über die kompetitiven betrieblichen Standortpolitiken hinausweist (Sauer 2005).

Literatur

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[1]   Dieser Begriff wird offenbar in Anspielung an die prototypische Funktion für nicht entfremdete Arbeit gewählt, die z.B. Lukács (1923/1997) der künstlerischen Tätigkeit zugewiesen hat. (Eine umfassende Auseinandersetzung mit Boltanski/Chiapello gibt L. Peter, 2005. Anm. d. Red.).

Editorische Anmerkungen

Den Artikel spiegelten wir bei
http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/archiv/xxinfo/h063s020.html

Der Text dient zur Vorbereitung der
TREND-Nachtgespräche


Prekäre Zeiten


am 24.4.2006 im Berliner BAIZ