Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
04/07

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IV. Karl Marx   Zur Kapitelübersicht

1. Seine Bedeutung.

Inmitten des Ausarbeitens und Verbreitens der Ideen und Pläne des französischen Sozialismus, sowie des Tastens und Spekulierens nach einer philosophischen Grundlegung der sozialistischen Gedankenwelt, schaffte Karl Marx in Paris am Ausbau seiner Lehre, die bald alle ändern sozialistischen Systeme verdrängen und zum Gemeingut aller Sozialisten und denkenden Proletarier werden sollte. Der Sozialismus wurde seitdem die Sache der Arbeiterklasse, und die Arbeiterklasse zu einem der Hauptprobleme der Staatskunst.

Vor Marx war das Proletariat das Aschenbrödel der Politik, das Objekt des Mitleids der Soziologen; nach Marx wurde es zum Kronprätendenten, zur werdenden Herrscherklasse, zum Umstürzler der alten und Aufbauer der nächsten Gesellschaftsstufe.

Vor Marx zog der Sozialismus seine Kraft aus dem goldenen Zeitalter der Vorgeschichte, aus dem Naturrecht, aus dem Urchristentum, aus dem Humanitätsgedanken, aus der Sozialethik. Seit Marx ist der Sozialismus proletarisch-revolutionäre Gegenwartspolitik zum Zwecke der Förderung aller materiellen und geistigen Tendenzen des sozialen Körpers, die auf die Vergesellschaftung der Wirtschaftskräfte gerichtet sind. Vor Marx war der Sozialismus das chiliastische Hoffen der Stillen und Frommen im Lande auf das dritte Testament; s e i t Marx ist der Sozialismus das politische und wirtschaftliche Ziel großer und wachsender Kampfparteien und Klassen.

Marx fand den Sozialismus als Glaubensartikel oder als dogmatische, feststehende, ewig gültige Lehre; er machte ihn zu einer bewegenden Kraft in der Entwicklung der Gesellschaft vom Privateigentum zum Gemeineigentum.

Proletariat und Sozialismus waren vorher getrennt; Marx verband sie wie Körper und Seele: er blies dem Proletariat eine Seele ein.

Das moderne Proletariat ist geistig das Monumentalwerk von Karl Marx. Nur war ihm nicht vergönnt, es in allen Einzelheiten auszuführen. Deshalb unsere Irrungen, unsere Wirren und Leiden.

Diese Leistung, so unvollständig sie auch sein mag, vollbrachte Marx dank seiner Fähigkeit, durch alle Windungen und Wirbel der Erscheinungen und Geschehnisse hindurchzusehen, in das Wesen der Dinge einzudringen und die durchgehende Linie der neuesten Geschichtsperiode zu erfassen. Dieser durchdringende Blick, vor dem alle Masken, alle Phrasen, alle Heucheleien, alle objektiven Störungen, Hemmungen und Brechungen sich wie Nebel vor der Sonne auflösen und zerstreuen, macht das Genie, den Geisteshelden aus.

2. Marx und die Hegelsche Dialektik.

Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt und stammte aus einer Rabbinerfamilie. 1824 traten seine Eltern zum Christentum über. Karl besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt, dann die Universitäten von Bonn und Berlin, promovierte 1841 in Jena zum Doktor der Philosophie. Er dachte sich in Bonn als Privatdozent zu habilitieren, sah bald die Aussichtslosigkeit seines Planes ein, wurde freier Schriftsteller, dann Mitarbeiter der 1842 in Köln gegründeten „Rheinischen Zeitung", schließlich leitender Redakteur dieses Blattes, das jedoch infolge der Marxschen Artikel von der Zensur gequält und gefesselt wurde. Marx zog sich 1843 von der Redaktion zurück, heiratete Jenny von Westfalen (eine Schwester des späteren preußischen Innenministers) und reiste im Spätherbst 1843 nach Paris, um dort den Sozialismus zu studieren und mit Arnold Rüge, einem junghegelianischen Verleger und Politiker, die „Deutsch-Französischen Jahrbücher" herauszugeben. In dieser Zeitschrift, von der nur zwei Lieferungen 1844 erschienen sind, befinden sich die Anfänge des Marxismus, insbesondere in der Abhandlung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie".

Wir haben oben gesehen, daß Marx sich von seinen Vorgängern dadurch unterscheidet, daß er Sozialismus, kämpfendes Proletariat und gesellschaftliche Entwicklung zusammenbrachte und diese Faktoren zu einem einheitlichen System verschmolz. Wie kam er auf diese Gedanken?

Als Marx 1843 nach Paris kam, brachte er mit sich eine gründliche philosophische Bildung, Freiheitsdrang und den Wunsch nach Erkenntnis des Sozialismus. Das Kennzeichen eines gebildeten Geistes ist die Orientierungsleichtigkeit: es ist die Fähigkeit, inmitten der verschiedenen und mannigfaltigen Erscheinungen das Wesentliche herauszufinden und die Zusammenhänge der Erscheinungen zu entdecken. Diese Fähigkeit hatte Marx in hohem Grade. Was fand er in Paris? Eine Menge sozialistischer Gedanken, Pläne und Ansichten sowie proletarisch-revolutionäre Überlieferungen aus der Zeit der französischen Revolution, der Verschwörung Babeufs und der geheimen Vereinigungen Blanquis. Selbstredend machte er sich auch mit dem englischen Chartismus bekannt, der 1842 seinen Höhepunkt erreicht hatte. Diese verschiedenen Erscheinungen faßte er mit Hilfe der Hegelschen Dialektik zusammen, die — wie er glaubte — ihm das Grundgesetz der geschichtlichen Entwicklung enthüllte.

Worin besteht die Hegelsche Dialektik?

Unter Dialektik verstanden die alten Griechen die Kunst der Rede und Gegenrede, der Widerlegung des Gegners durch die Vernichtung seiner Behauptungen und Beweise, die Hervorhebung der Widersprüche und Gegensätze. Sieht man sich diese Art des Diskutierens genauer an, so erscheint sie — trotz ihrer Widerlegungen und scheinbar negativer (vernichtender) Denkarbeit — doch als sehr nützlich, denn sie bringt aus dem gegensätzlichen Zusammenstoß der Meinungen die Wahrheit hervor und regt zu weiterem Denken an. G. W. F. Hegel (geb. in Stuttgart 1770, gest. in Berlin 1831), ein deutscher Philosoph und Mystiker, der die Idee der Entwicklung in die Logik einführte, griff jenen Ausdruck Dialektik auf und benannte nach ihr seine Denkmethode. Nach dieser Methode hat jeder unserer Begriffe seinen Gegensatz oder Widerspruch oder — mit Fremdworten ausgedrückt: jedes Positive hat seine Negation. Dies entgeht der oberflächlichen Betrachtung sehr leicht. Diese merkt zwar, daß die Welt mit verschiedenen Dingen gefüllt ist, denn wo etwas ist, findet sich auch sein Gegensatz, z. B.: Sein — Nichtsein, Kälte—Hitze, Licht — Finsternis, Müde — Härte, Lust — Schmerz, Reichtum — Armut, Kapital — Arbeit, Leben — Tod, Tugend — Laster, Idealismus — Materialismus, Realismus — Nominalismus, Klassizismus— Romantik usw., aber das einfache Denken legt sich keine Rechenschaft davon ab, daß es eine Welt von Widersprüchen und Gegensätzen vor sich hat. Erst die denkende und kritische Vernunft spitzt die bloße Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zu Gegensätzen, zu Widersprüchen, zu einem Zusammenstoß des Negativen mit dem Positiven zu. Erst wenn dieser Zusammenstoß, dieser gegensätzliche Kampf ausgefochten ist, entsteht etwas Höheres. Was Hegel unter Widerspruch versteht, ist nicht das Ergebnis der Konfusion: es ist nicht unklares, sich widersprechendes Denken, sondern äußere Gegensätze: wenn im Laufe der Zeiten aus Recht Unrecht wird, aus Vernunft Unvernunft, aus Nützlichkeit Schädlichkeit: wenn Gesetze und Einrichtungen veralten und in Widerspruch mit den lebendigen Interessen und neuen Ideen der Gesellschaft geraten: wenn also soziale Kämpfe entstehen, um die Gesetze und Einrichtungen mit den neuen Interessen und Ideen in Einklang zu bringen und eine höhere soziale Stufe zu erreichen. Diese höhere Stufe nennt Hegel: Negation der Negation oder Synthese.

Man kann diese ganze Methode noch deutlicher fassen und wie folgt veranschaulichen: Betrachten wir ein Ei. Es ist etwas Positives. Aber es birgt in sich einen Keim, der, zum Leben geweckt, den Inhalt des Eies nach und nach verzehrt (negiert). Diese Negation ist jedoch kein einfaches Zerstören und Vernichten; sie hat vielmehr zum Ergebnis, daß der Keim sich zu einem lebenden Wesen entwickelt. Ist die Negation vollendet, so durchbricht das entstandene Küchlein die Eierschale. Das ist die Negation der Negation (oder die Synthese), wodurch etwas organisch Höheres entstanden ist.

Nach Hegel ist das wichtigste Moment im Lebensprozeß (oder in der Entwicklung der Gedanken und Dinge und Wesen) das Erwachen der negativen Kräfte, das Auftreten der widersprechenden, gegensätzlichen Faktoren. „Der Widerspruch ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit" — so sagt Hegel wörtlich. Erst durch die Auseinandersetzung zwischen dem Positiven und der Negation wird der weitere Entwicklungsprozeß möglich und zu einer höheren Stufe emporgetrieben. Wo aber, sagt Hegel, die Kraft zur Entfaltung und Zuspitzung des Widerspruchs fehlt, geht der Gedanke, das Ding, das Wesen am Widerspruch zugrunde.

Wenn wir diese dialektische Betrachtung der Welt richtig verstehen, so haben wir auch den Kern des Marxismus verstanden.

Es versteht sich von selbst, daß Hegel, der größte und deutscheste aller deutschen Philosophen, seine Methode nicht mit so einfachen Worten dargestellt hat, wie wir sie hier geben. Denn Hegel war Idealist: die Idee, das Geistige, das Absolute, das Göttliche war ihm die ursprüngliche (primäre), sich selbst bewegende Kraft, die sich und die Welt gleichsam als äußeres Kleid von Stufe zu Stufe höher entfaltet, bis sie im Menschen zur Gottheit wird, — nach Hegel sind alle Gestaltungen der Welt- und Menschheitsgeschichte ein Prozeß der Entfaltung des Weltgeistes von der Stufe der Idee (des einfachen Gedankens) bis zur Gottheit, so daß man — nach Hegel — vom Werden Gottes in der Geschichte sprechen darf, d. h. Gott selbst ist in der Entwicklung begriffen und äußert sich am höchsten im Menschen. Das ist der Gipfel der deutschen Mystik. Aber all das geht uns hier nicht an. Wir haben hier nur die dialektische Methode Hegels richtig zu begreifen, denn sie wird uns das Wirken von Marx erschließen.

Mit der ganzen deutschen Richtung, die seit 1830 sich vom Idealismus abzuwenden begann und nach und nach materialistisch wurde, ging auch Marx in den Jahren 1840—1841 zum Materialismus über: Nicht das Geistige war das Ursprüngliche und das Bewegende, sondern das Materielle und die ihm innewohnenden Kräfte bildeten das Ursprüngliche und das sich Entfaltende. Und diese Entfaltung vollzieht sich durch gegensätzliche Auseinandersetzungen. Mit diesen Ideen kam Marx nach Paris. Er warf sich mit aller Kraft auf das Studium des französischen Sozialismus und der französischen Arbeiterbewegung. Mit Hilfe der Dialektik erblickte er sofort im Proletariat die Negation des Bestehenden und in dessen Kämpfen um den Sozialismus die höhere Synthese. Das Positive war offenbar die auf Privateigentum und Konkurrenz begründete Wirtschaftsordnung, gegen die der Kampf, der Gegensatz, der Widerspruch sich richtete. Daß dieser Kampf zu fördern war, daß aus diesem Kampfe, wenn zugespitzt und bis ans Ende geführt, eine höhere Stufe des Gesellschaftslebens hervorgehen muß, das wußte Marx aus der Dialektik.

Hier haben wir bereits die soziologischen Grundlehren von Marx: unüberbrückbarer Gegensatz zwischen den Anhängern der alten Ordnung (des Positiven, des Privateigentums) und den Anhängern der werdenden Ordnung (der Synthese, des Sozialismus). Aber wer waren diese Anhänger? Nicht etwa hervorragende Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen, die aus idealen Gründen (aus gedanklichen Schlußfolgerungen oder aus sittlichen Motiven) zu der einen oder der ändern Ansicht neigten, sondern Klassen

mit besonderen Wirtschaftsinteressen, die zueinander in Widerspruch stehen, die nicht zu überbrücken sind, die ausgelochten werden müssen. Erinnern wir uns, wie man schon 1837 in Frankreich dachte, wie dort schon der Ökonomismus die Ideologie zu verdrängen suchte (siehe Teil IV, S. 474) und wie schon damals der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und „Volk" (Proletariat), zwischen Kapital und Arbeit bekannt war, schließlich wie schon damals die Erscheinung der Kapitalskonzentration und des Verschwindens des gewerbstätigen Mittelstandes den Sozialisten nichts Neues mehr war, — wenn wir all das bedenken, so werden wir leichter begreifen, wie Marx mit Hilfe seiner Dialektik diesem Komplex von Erscheinungen einen festen sozialphilosophischen Zusammenhang gab und die Grundlage seines Systems schuf. Noch mehr: diese Arbeit, einmal geleistet, gab ihm eine sichere Marschroute: Studium der Volkswirtschaft, Zergliederung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, Erforschung der Rolle des Proletariats und der Kräfte, die sich im Schöße der alten Gesellschaft vorbereiten und zur höheren Stufe führen.

In Marx' Aufsätzen in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" (1844) sind die Grundzüge seines späteren Wirkens bereits gegeben. Er entwickelte sie ein Jahr später in der „Heiligen Familie", und recht klar und bestimmt in der gegen Proudhon gerichteten „Misere de la Philosophie" (Brüssel 1847) und bald darauf im „Kommunistischen Manifest", das er im Dezember 1847 und Januar 1848 verfaßte.

3. Materialistische Geschichtsauffassung(1).

Mehr und mehr wurde das Studium der Volkswirtschaft, der Entstehung und Entwicklung des Kapitals in Angriff genommen, denn Marx hatte die Überzeugung gewonnen, daß die Ökonomie die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist und daß die geistigen Bewegungen den Ausdruck der wirtschaftlichen Bewegungen bilden. Wir wollen diese Geschichtsauffassung näher beleuchten:

Ein Blick auf die menschliche Geschichte genügt, um uns zu belehren, daß die Menschen von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt verschiedene Ansichten über Recht, Sittlichkeit, Religion, Staat, Philosophie, Landwirtschaft, Handel, Gewerbe usw. für wahr oder falsch hielten, daß sie verschiedene wirtschaftliche Einrichtungen, Gesellschafts- und Staatsformen hatten, daß sie eine endlose Reihe von Kämpfen und Kriegen und Wanderungen durchmachten. Woher stammt diese verwirrende Mannigfaltigkeit des menschlichen Denkens und Tuns? Marx stellt sich diese Frage, wobei es sich ihm nicht in erster Linie darum handelte, die Entstehung des D enkens, des Rechts, der Religion, der Gesellschaft, des Handels usw. zu entdecken; diese nahm er als geschichtlich gegeben an. Ihm handelte es sich vielmehr darum, die Ursachen, die Beweggründe oder die Triebfedern zu entdecken, die die Änderungen und Umwälzungen in den Inhalten und Formen der geistigen und gesellschaftlichen Erscheinungen hervorrufen oder die Tendenzen hierzu erzeugen. Mit einem Wort: Marx interessierte hier nicht der Ursprung, sondern die Dialektik (Entwicklung und Änderung) der Dinge — das revolutionäre Element der Geschichte.

Marx antwortet: Die Triebkräfte der menschlichen Gesellschaft, die die wechselnden Inhalte des Füh-lens, Denkens, also des menschlichen Bewußtseins hervorrufen, oder die verschiedenen gesellschaftlichen Einrichtungen und Konflikte entstehen lassen, entstammen nicht in erster Linie dem Denken, der Idee, der Weltvernunft oder dem Weltgeist, sondern den materiellen Lebensverhältnissen. Die Grundlage der Menschheitsgeschichte ist also materiell. Materielle Lebensverhältnisse — das heißt: die Art, wie die Menschen als gesellschaftliche Wesen mit Hilfe der sie umgebenden Natur und mit Hilfe der ihnen selber innewohnenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten ihr materielles Leben gestalten, ihren Lebensunterhalt schaffen, die notwendigen Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse herstellen, verteilen und austauschen.

Von sämtlichen Kategorien des materiellen Lebens ist die Produktion, die Herstellung der Lebensmittel, die wichtigste. Und diese wird bestimmt durch die Produktionskräfte. Diese sind zweierlei Art: sachliche und persönliche. Die sachlichen Produktionskräfte (Produktionsmittel) sind: Grund und Boden, Wasser, Klima, Rohstoffe, Werkzeuge und Maschinen. Die persönlichen Produktionskräfte sind: die Arbeiter, die naturwissenschaftlichen Forscher, die Techniker, endlich die Rasse: die geschichtlich erworbenen, arbeitsfördernden Eigenschaften bestimmter Menschheitsgruppen.

Unter sämtlichen Produktionskräften nehmen die Arbeiter die erste Stelle ein: sie sind die einzigen Kräfte, die in der kapitalistischen Gesellschaft Werte schaffen. Die nächstwichtige Stelle nimmt die Technologie ein; sie ist eine eminent umwälzende und umschichtende Kraft in der Gesellschaft (Kapital, L, 12., 13. und 14. Kapitel; Elend der Philosophie, 188, Seite 100 - 101).

Dehnen sich die Produktivkräfte aus: durch größere Geschicklichkeit der Arbeiter, durch Entdeckungen neuer Rohstoffe, Mineralschätze und Absatzgebiete, durch Erfindung neuer Methoden, Werkzeuge und Maschinen, durch Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion, durch bessere Organisation und Erweiterung des Handels und Verkehrs, — also ändert sich die materielle Grundlage oder der wirtschaftliche Unterbau der Gesellschaft, so hören die alten Produktionsverhältnisse auf, den Interessen der Produktion zu dienen. Denn diese Produktionsverhältnisse: die gesellschaftliche Schichtung, die Eigentumsgesetze, staatliche Einrichtungen und geistige Systeme waren einem Zustande von Produktionskräften angepaßt, der im Verschwinden begriffen ist oder bereits nicht mehr existiert. Der gesellschaftliche und geistige Überbau entspricht dann nicht mehr dem wirtschaftlichen Unterbau. Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse geraten in einen Gegensatz zueinander.

Dieser Gegensatz zwischen neuem Wesen und alter Form, dieser Konflikt zwischen neuen Ursachen und den veralteten Wirkungen verschwundener Ursachen, beginnt nach und nach auf das Denken der Menschen zu wirken. Die Menschen beginnen zu fühlen, daß sie  einer neuen äußeren Welt gegenüberstehen, daß eine neue Aera eröffnet ist. Die gesellschaftliche Schichtung wird eine andere; früher verachtete Stände und Klassen gewinnen an wirtschaftlicher und sozialer ' Bedeutung; früher hochgeachtete Stände versinken. Während diese Umwälzung des sozialen Unterbaues vor sich geht, klammern sich die alten religiösen, rechtlichen, philosophischen und politischen Systeme an ihre überlieferten Stellungen und wollen noch weiter bestehen, obwohl sie veraltet sind und die geistigen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können. Denn das menschliche Denken ist konservativ: es folgt nur langsam den äußeren Geschehnissen, ebenso wie unser Auge die Sonne in einem Winkel erblickt, in dem sie sich in Wirklichkeit nicht mehr befindet, denn die Strahlen brauchen einige Minuten Zeit, um unseren Sehnerv zu treffen. Erinnern wir uns an das schöne Bild Hegels: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." Verspätet zwar, aber sie beginnt ihn doch. Nach und nach entstehen große Denker, die die neue Lage erklären, neue Begriffe und Gedankengänge schaffen, die der neuen Lage entsprechen. Es entstehen im menschlichen Bewußtsein beängstigende Zweifel und Fragen, dann neue Wahrheiten; es kommt zu Meinungsverschiedenheiten, Disputationen, Zerwürfnissen, Spaltungen, Klassenkämpfen und Revolutionen.

4. Klassenkampf.

Einer der wichtigsten Beiträge Marx' zur Erkenntnis geschichtlicher Vorgänge ist sein Gedanke der gesellschaftlichen Klasse und der Klassenkämpfe. Eine bestimmte gesellschaftliche Menschengruppe, die gemeinsame wirtschaftliche Merkmale aufweist, bildet eine Klasse. Diejenige Menschengruppe, deren hauptsächliche Lebensquelle der Arbeitslohn ist, bildet die Arbeiterklasse. Diejenigen Menschen, deren wichtigste Lebensquelle der Profit, die Zinsen und die Grundrente ist, bilden die kapitalistische Klasse. Zwischen diesen beiden Klassen bestehen tiefe, unüberbrückbare Gegensätze wirtschaftlicher Natur, sowohl in bezug auf Entlohnung wie auf die Organisation der Gesellschaft, denn aus dem ursprünglichen Gegensatz wegen Lohn und Arbeitszeit entwickelt sich mit der Zeit und mit der Zunahme der Intelligenz des Proletariats ein leidenschaftliches Ringen der beiden Klassen um die Wirtschaftsordnung; die kapitalistische Klasse strebt nach Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, das Proletariat strebt nach einer Umwälzung des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens im sozialistischen Sinne. Große soziale Klassenkämpfe werden unvermeidlich zu politischen Kämpfen. Das unmittelbare Kampfziel ist der Besitz der Staatsmacht, mit deren Hilfe die kapitalistische Klasse ihre Position zu behaupten sucht, während die proletarische Klasse auf die Ergreifung der Staatsmacht abzielt, um mit deren Hilfe ihre weiteren Ziele zu verwirklichen.

Nach Marx muß dieser Kampf früher oder später mit einem Siege der Arbeiterklasse endigen, die während der Übergangszeit vom Privateigentum zur sozialistischen Ordnung eine diktatorische Regierung bildet und stufenweise die Gesellschaft umwälzt.

Marx war der erste, der den Ausdruck „proletarische Diktatur" gebrauchte (Klassenkämpfe in Frankreich 1848, Seite 98 ff., Berlin 1895 und 1920), geschrieben 1850; zwei Jahre später (in einem Briefe an Weydemeyer, Neu York) erklärte sich Marx für den Urheber der Idee, „daß der Klassenkampf zur Diktatur des Proletariats führe" (Neue Zeit, Band XXV, 2, Seite 164); schließlich in der Kritik des Gothaer Programms (die er in einem Briefe vom Jahre 1875 an den Vorstand der deutschen Sozialdemokratie richtete) hält er die Diktatur des Proletariats für die Staatsgewalt der Übergangszeit oder der eigentlichen Revolutionsperiode (abgedruckt Marx-Engels, Programmkritiken [1930] S. 37 [Elementarbücher des Kommunismus Bd. 12]).

5. Der Kern seiner Ökonomik.

Das wirtschaftliche Hauptproblem Marx' war: Was ist die Triebkraft und das Ziel der kapitalistischen Wirtschaft und woher das ungeheure Wachsen des Reichtums? Dieses Problem behandelte er in seinem „Kapital" (3 Bde., 1867—1894).

Er antwortete: Reichtum ist die Masse von Gebrauchsgütern, die ein Volk erzeugt. Normalerweise erzeugt die kapitalistische Wirtschaft in jedem Jahre mehr Güter als im vorhergegangenen Jahre. Dieses Mehr sammelt sich an, erzeugt wieder ein Mehr usw.; auf diese Weise wächst der Reichtum.

Wer erzeugt aber dieses Mehr? Welche Menschengruppe, welche Klasse ist es, die den Reichtum vermehrt?

Um diese Frage beantworten zu können, untersucht Marx, was Wert ist. Der Reichtum wird doch nach Werten gemessen. Was aber ist Wert? Marx spekuliert nicht ins Blaue hinein, sondern sieht sich im Kontor des Fabrikanten um, wie dort die Werte festgestellt werden. Und er sieht, daß der Fabrikant die Produktionskosten zur Grundlage der Werte macht. Was sind aber Produktionskosten ? Produktionskosten sind die Ausgaben für Rohstoffe, Abnutzung der Baulichkeiten, Maschinen und Werkzeuge, Gehälter und Löhne, schließlich der „übliche" Profit, der anscheinend auf die Ware geschlagen wird. Nach Marx ist nur die in der Produktion und im Transport der Rohstoffe und Waren verwandte körperliche und geistige Arbeit wertschaffend. Die sozial notwendige Hand- und Kopfarbeit, verwandt auf die Produktion und Beförderung der Rohstoffe zur Produktionsstätte, ist die Quelle und das Maß des Wertes. Die Entlohnung, die diese wertschaffende Arbeit — marxistisch gesprochen die Arbeitskraft — erhält, ist stets geringer als die geschaffenen Werte, so daß die produktiv tätige Arbeitskraft in der Regel dem Fabrikanten mehr Werte erzeugt, als er ihr in Form von Entlohnung zukommen läßt. Dieser Unterschied ist die Quelle des Mehrwerts, woraus der Fabrikant seinen Profit, der Bankier seine Zinsen, der Grundbesitzer seinen Mietzins, die Zwischenhändler ihre Gewinne ziehen.

Der Einzelfabrikant erhält jedoch nicht immer den in seiner Fabrik erzeugten Mehrwert, denn er hat sich nach dem Weltmarkt, nach der Konkurrenz zu richten. Beträgt zum Beispiel der in seiner Fabrik erzeugte Mehrwert 50 v. H., während der Mehrwert der übrigen Fabrikanten 60, 40, 30 usw. Prozent beträgt, so wird auf dem Markte ein Durchschnittsprofit von etwa 45 Prozent entstehen.

Bildet also die produktive Arbeit das Maß des Wertes, so ist es klar, daß je weniger produktive Hand- und Kopfarbeit in einem Warenartikel steckt, desto geringer der Wert ist. Dies ist tatsächlich der Fall, wenn an Stelle der menschlichen Arbeit die Maschinenarbeit tritt: die Waren werden — in normalen Zeiten — billiger. Aber da das in Produktionsmitteln angelegte Kapital entsprechend vorher gewachsen ist, so verrechnet sich der erzeugte Profit auf ein größeres Gesamtkapital, d. h. die Profitrate sinkt. Um diesem Sinken entgegenzuarbeiten, wird zur monopolistischen Steigerung des Mehrwerts, zur Vermehrung der Ausbeutung (Rationalisierung), zu Methoden zur Verbilligung der Produktionsmittel gegriffen. Diese Möglichkeiten können sich nur große Kapitalisten oder Aktiengesellschaften leisten, während die kapitalarmen Kleinindustriellen und Handwerker zugrunde gehen. Ein Prozeß der Konzentration und Zentralisation erfaßt das Wirtschaftsleben, der die Kluft zwischen den Klassen vertieft und verbreitert, die Gesellschaft in eine Handvoll Magnaten und eine große Mehrheit von Besitzlosen polarisiert, Massen von Proletariern in Industriezentren zusammenfaßt und dadurch deren Organisation und deren Klassenbewußtsein stärkt, den Klassenkampf verschärft, bis er sich zur revolutionären Hitze steigert. Der letzte Akt dieses Dramas ist die Enteignung der Kapitalisten durch die Volksmassen, die die Produktionsmittel unter die Leitung und Verwaltung der ganzen Nation stellen und die wirtschaftliche Demokratie verwirklichen. Nur muß, wie oben erwähnt, eine Zwischenstufe eingeschoben werden, auf welcher die proletarische Diktatur den Umwälzungsprozeß bewußt leitet und alle Hindernisse, die sich dem Umwälzungsprozeß entgegenstellen, hinwegräumt.

6. Evolution und Revolution.

Bei Marx gibt es keinen Gegensatz zwischen Revolution und Evolution. Ebensowenig wie bei Hegel. Die Hegelsche Dialektik ist ebenso einheitlich und ge-

schlossen wie die ganze Lebensarbeit von Marx. Das „Kommunistische Manifest" ist nicht minder evolutionär wie das „Kapital" oder die „Kritik der politischen Ökonomie", und umgekehrt: das „Kapital" ist nicht minder revolutionär wie das „Kommunistische Manifest".

Wie ist das zu verstehen?

Die Hegelsche Dialektik bedeutet Entwickelung der Menschheit durch den Kampf und die Zuspitzung der Widersprüche durch die denkende Vernunft. Kein automatisches, friedliches und stilles Werden, Wachsen, Anpassen, sondern eine Herausarbeitung der Negation, die das Positive zerstörend umgestaltet. Die ganze Arbeit der Negation ist eine revolutionäre bis zum Hervortreten der Negation der Negation. Das ist der Kern der Hegelschen Logik: die Entdeckung der Widersprüche (Gegensätze) im kosmischen und sozialen Werden, der Kampf dieser Widersprüche, in welchem das alte Positive sich auflöst. Die Hegelsche Dialektik ist eine Evolution mit revolutionären Mitteln.

Und so ist die sozialistische Dialektik Marxens. Wer ein Marxsches Werk liest, muß sich vor allem darüber klar sein, um was es sich hierbei handelt: um einen objektiven Prozeß — wirtschaftliche Entwicklung, Analyse der kapitalistischen Produktion und Zirkulation — oder um die Tätigkeit des Proletariats.

Der Wirtschaftsprozeß ist das evolutionäre Material, die Tätigkeit des Proletariats und seiner Führer ist das revolutionäre Umgestalten.

Im „Kommunistischen Manifest" oder in den An-sprachen an den Kommunistenbund ist das Proletariat der Gegenstand der Behandlung. Das revolutionäre Moment wird deshalb scharf hervorgehoben. Marx erscheint hierin als Denker der Revolution.

Im „Kapital" ist die kapitalistische Wirtschaft der Gegenstand der Behandlung. Das evolutionäre Moment tritt deshalb in den Vordergrund. Marx erscheint hierin als Zergliederer der Wirtschaftsentwicklung.

Die Rolle, die Hegel in seiner „Logik" der denkenden Vernunft zuschreibt, nämlich: Zuspitzung der Widersprüche, diese Rolle überantwortet Marx der klassenbewußten, aufopfernden Vorhut — diese hat den aus den Produktionsbedingungen hervorgehenden Klassenkampf des Proletariats auf die Spitze zu treiben.

Denn sowohl bei Hegel wie bei Marx sind der Zusammenstoß der Widersprüche und die Zuspitzung der Gegensätze die wirksamsten Mittel zur Entfaltung des Lebens, zur Herausarbeitung der Fülle der Kräfte des Universums.

Evolution mit Hilfe revolutionärer Mittel: sozialökonomische Erkenntnis und Sozialrevolutionäre Aktion — das ist das Testament von Karl Marx (2).

7. Freundschaft mit Friedrich Engels.

Der Adjutant Marx' war Engels — ein Mann von großem Wissen und Können, ein Talent, das die Heß, Grün, Lüning, Proudhon, Blanc usw. weit überragte. Seine bedeutende Stellung in der Geschichte des Sozialismus verdankt Engels seinem frühzeitigen Anschluß an Marx, dessen Genie er sofort würdigte, dessen Arbeiten er während seines langen Lebens geistig und materiell mit großer Aufopferung förderte und dessen Freundschaft er mit einer Eifersucht festhielt, die aus tiefer intellektueller Liebe entsprang.

Engels wurde 1820 in Barmen-Elberfeld geboren; sein Vater war Fabrikant und frommer evangelischer Christ. Er genoß eine sehr gute Gymnasialbildung, wurde Kaufmann, beschäftigte sich kritisch mit theologischen Fragen, besonders mit den Arbeiten von Strauß und Feuerbach. Die ersten Anregungen, sich mit den Fragen des Sozialismus auseinanderzusetzen, erhielt er (1842) nach seinem eigenen Bekenntnis durch Moses Heß. Schon frühzeitig — seit 1839 — betätigte er sich schriftstellerisch zuerst im Sinne der jungdeutschen Schule. Als er 1842 in väterlichem Auftrag in Manchester kaufmännische Tätigkeit übernahm, war er bereits überzeugter Sozialist und schrieb über die sozialen Zustände Englands Berichte für die Rheinische Zeitung, 1843 wurde er mit chartistischen und owenistischen Führern bekannt, begann für deren Organe zu schreiben; gleichzeitig arbeitete er — vom sozialistischen Standpunkt — eine „Kritik der Nationalökonomie" aus, die in Marx' „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" (1844) erschienen ist und zur lebenslangen Freundschaft beider führte. 1845 bis 1848 lebte er wie Marx abwechselnd in Paris und Brüssel. Bereits 1845 erschien sein berühmtes Werk über „Die Lage der arbeitenden Klassen in England", dessen schonungslose sozialkritische Untersuchungen vorbildlich geworden sind. Dieses Buch wird für die Zeit des heranwachsenden Kapitalismus auch von der bürgerlichen Ökonomie als grundlegendes Quellenwerk angesehen. 1847 schrieb er auf Anregung der Zentralbehörde des Kommunistenbundes den Entwurf eines Kommunistischen Glaubensbekenntnisses „Grundsätze des Kommunismus" (wieder veröffentlicht mit Einleitung von Hermann Duncker in den Elementarbüchern Band 11).

Das Büchlein, das in Anlehnung an frühere revolutionäre Katechismen in Frage und Antwort gehalten wurde, bildet die Grundlage des Kommunistischen Manifests und ist noch heute eine der besten Einführungsschriften in die Gedanken des revolutionären Sozialismus. 1848—49 war Engels Mitarbeiter der „Neuen Rheinischen Zeitung". 1849 beteiligte er sich als Adjutant von Willich am badischen Aufstand und erwarb hier die praktischen Kenntnisse für seine späteren militärkritischen Arbeiten (gesammelt als Band i der militärpolitischen Schriften von Engels und Lenin, (Elementarbücher Band 15) und Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, eine Reihe von 60 Aufsätzen, die Engels im Auftrage der bürgerlichen Pall Mall Gazette schrieb). 1850 arbeitete er an der „Neuen Rheinischen Revue" in London. Noch einmal betätigte er sich von 1850—69 in der kaufmännischen Leitung einer dem Vater mitgehörenden Fabrik in Manchester und beschäftigte sich während dieser Zeit eingehend mit Kriegs- und Naturwissenschaft. Von

1870 an lebte er in London. Er beobachtete 'mit scharfem Auge die gesamte Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung und griff überall als Helfer und Berater ein. Besonders seine Kritik an den Programmen und Resolutionen der deutschen Sozialdemokratie („Programmkritiken" Band 12 der Elementarbücher) liefert uns wertvolles Material und besitzt noch heute lebendige Aktualität. Kurz vor seinem Tode gab Engels mit der Einleitung zu Karl Marx' „Klassenkämpfe in Frankreich" sein politisches Testament. Mit Erbitterung kämpfte er noch von seinem Totenbette aus gegen die Verfälschung dieser grundlegenden Lehren für die Klassenkämpfe des Proletariats, die die deutsche Parteileitung durch Weglassung der wichtigsten Stellen vornahm. Er konnte sie nicht mehr verhindern. 1895 ist Friedrich Engels gestorben.

Engels' grundlegende Bedeutung besteht in der theoretischen Durchdringung des gesamten Lehrgebäudes des Revolutionären Sozialismus. Er hat in beispielloser Bescheidenheit sich selbst stets nur als Mitarbeiter seines großen Freundes Karl Marx gefühlt. Aber weit darüber hinaus hat er für alle Zeiten die Lehre des historischen Materialismus mitbegründet und auf sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen, die erst in dieser eine Einheit bilden, ausgedehnt. Der erste Versuch einer grundlegenden Theorie ist die von Marx und Engels gemeinsam verfaßte „Deutsche Ideologie", die bisher überhaupt nur teilweise veröffentlicht ist und erst jetzt vom Marx-Engels-Institut in Moskau herausgegeben wird. Kürzer, aber nicht minder gründlich hat Engels dieselbe Arbeit noch einmal in „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" (Anti-Dühring) geleistet. Wesentliche Teile dieser Schrift — über politische Ökonomie — stammen von Marx. Drei Kapitel aus dem Abschnitt über „Sozialismus" arbeitete Engels später zu dem berühmten Bändchen „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" aus. Wie ernst Engels die Aufgabe einer theoretischen Fundierung des Sozialismus nahm, zeigen „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (1884) und die „Naturdialektik", in denen er die Methoden des dialektischen Materialismus auf völkerkundliche Forschungen und die durch Darwin und Haeckel revolutionierte Naturwissenschaft anwendet. Gewiß sind manche Teile, besonders der ersteren Schrift, für die Engels als Unterlagen fast nur die Forschungen des Amerikaners Lewis H. Morgan benutzen konnte, überholt. Trotzdem bieten sie noch heute reiches Material. Nach dem Tode von Marx gab Engels den II. und III. Band des „Kapital" heraus.

8. Gründung und Statuten des Kommunistenbundes.

Seit 1845 verbreiteten Marx und Engels ihre neugewonnenen Auffassungen unter den Mitgliedern des Bundes der Gerechten. Das Neue bestand darin, daß der Kommunismus kein fertiger Plan für eine Gesellschaftsordnung sei, die mit Hilfe von mächtigen Menschenfreunden oder von Koloniegründungen herzustellen wäre, sondern daß der Kommunismus die Organisation der Arbeiterklasse zur selbständigen politischen Partei bedeute, die durch revolutionäre Mittel die Staatsgewalt zu ergreifen hätte, um mit ihrer Hilfe die kapitalistische Wirtschaftsordnung umzuwälzen, im kommunistischen Sinne umzugestalten.

Diese Ideen schlugen am frühesten in London ein, wo die Chartisten bereits durch die Demokratie zur Sozialreform zu gelangen strebten.

Ende Januar 1847 entsandte die Zentralbehörde des Bundes Josef Moll nach Brüssel, um Marx und Engels zum Eintritt in den Bund einzuladen und sich mit ihnen über die Lage auszusprechen. Der Bund berief einen Kongreß auf den i. Juni 1847 nach London, an dem Engels und Wilhelm Wolff (als Vertreter von Marx) teilnahmen. Im September gab die Zentralbehörde unter Redaktion Karl Schappers die erste Nummer der „Kommunistischen Zeitschrift" heraus, die das Motto trug: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!" Der Bund der Gerechten verwandelte sich in den Bund der Kommunisten, hielt seinen Kongreß vom 30. November bis zum 8. Dezember 1847. Marx war anwesend und wurde zusammen mit Engels beauftragt, das Kommunistische Manifest zu schreiben.

Der wichtigste Punkt der damals entworfenen und angenommenen Statuten lautete:

Art. 1. Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassenherrschaft beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.

Art. 2. Die Bedingungen der Mitgliedschaft sind:

a) diesem Zweck entsprechende Lebensweise und Wirksamkeit;

b) revolutionäre Energie und Eifer in der Propaganda;

c) Bekenntnis zum Kommunismus;

d) Enthaltung von der Teilnahme an jeder antikommunistischen, politischen oder nationalen Gesellschaft;

e) Unterwerfung unter die Beschlüsse des Bundes;

f) Verschwiegenheit über alle Bundesangelegenheiten;

g) einstimmige Aufnahme in die Gemeinde.

Art. 3. Alle Mitglieder sind gleich und Brüder, und als solche sich Hilfe in jeder Lage schuldig.

Marx fuhr zurück nach Brüssel, schrieb das Manifest, sandte das Manuskript nach London, wo es gedruckt wurde. Kaum war es aus der Presse, da brach in Paris die Revolution aus, die bald einen Widerhall in allen deutschen Staaten fand.

9. Kommunistische Rückwirkung auf Deutschland; Stefan Born, Prozeß Mentel-Berlin.

Deutsche Arbeiter, die in Brüssel, Paris und London gearbeitet hatten, brachten die neue Botschaft nach der Heimat. Berlin, Köln und Breslau waren die ersten deutschen Städte, in die die kommunistischen Gedanken Eingang fanden. Die von der Wanderschaft zurückgekehrten Gesellen wurden Mitglieder der Handwerker- und der Gesellenvereine, und bemühten sich, die neuen Gedanken zu verbreiten. Über diese Tätigkeit in Berlin wissen wir durch den Prozeß Mentel, der 1846/47 in Berlin stattfand, sowie durch Born, der 1848/49 zum Teil im Sinne von Marx in Berlin und Leipzig wirkte.

Stefan Born wurde als Sohn jüdischer Eltern in Lissa im Dezember 1824 geboren. Er besuchte vorerst das Gymnasium, mußte jedoch infolge der ungünstigen materiellen Lage seines Vaters zum Handwerk greifen und trat 1840 als Schriftsetzerlehrling in eine Berliner Buchdruckerei ein, benutzte jedoch seine freie Zeit zur Fortsetzung seiner Studien, so daß er gegen Ende 1846, als er ausgelernt hatte, auch ein guter Schriftsteller und allgemein gebildeter Mann war. Angeregt durch die neuen kommunistischen Gedanken, begab er sich nach Paris, dann nach Brüssel, wo er in der Offizin der „Deutschen Brüsseler Zeitung" Beschäftigung fand. Hier lernte er Marx kennen, nahm einen Teil seiner Lehren an, trat jedoch im Programm der von ihm geführten „Arbeiterverbrüderung" für Produktivgenossenschaften und Bildung von Kreditbanken zu ihrer Unterstützung ein. Born war ein guter Redner und Organisator und ein sehr mutiger Barrikadenkämpfer, blieb aber zeit seines Lebens der Meinung, daß die Interessen der Arbeiter „mit den Interessen der Kapitalisten zusammenlaufen. Wir dürsten ebenso wie sie nach Frieden". 1848 war er, wie wir bald sehen werden, die bedeutendste Persönlichkeit unter den Arbeitern Berlins, Leipzigsund Dresdens. Nach 1849 zog er sich von der Bewegung zurück, lebte in der Schweiz als Buchdrucker, Genossenschaftler, Redakteur und Professor der französischen Literatur in Basel und veröffentlichte in den letzten Jahren seines Lebens die „Erinnerungen eines Achtundvierzigers" (1898).

Die erste kommunistische Anregung erhielt Born 1846 vom Schneidergesellen Christian Friedrich Mentel, einem geborenen Berliner, der von 1840 bis 1845 in verschiedenen Städten Westeuropas in seinem Fache tätig gewesen war und 1846 nach seiner Vaterstadt zurückkehrte. Mentel trat bald in den Handwerkerverein ein und suchte im geheimen nach Genossen, denen er seine neue Lehre mitteilen könnte. Wie er dort wirkte, erzählt Born (Erinnerungen eines Achtundvierzigers, 8.30—31): „Vorsichtig tastend, suchte ein solcher Sendung, namens Mentel, Mitglieder für seine geheime Verbindung zu werben... Durch den Schuhmacher Haetzel, einen unruhigen Kopf, den er gewonnen hatte, wurde ich in seine Geheimnisse eingeweiht. Er gehörte nicht der Richtung des in der Schweiz aufgetretenen Schneiders Weitling an; er sprach vielmehr von einer geheimen Arbeiterverbindung, welche auf dem Boden der zunächst zu erlangenden politischen Freiheit die Befreiung des Proletariats von den Fesseln des Kapitalismus sich zur Aufgabe gestellt habe. Ich fühlte aus dem, was Mentel ziemlich verworren darlegte, den Grundgedanken heraus, daß er die Ansicht vertrat, der historische Werdegang einer sich ankündenden neuen Zeit solle im Auge behalten werden, es handle sich nicht um einen aus dem Haupte eines Schneidergesellen wie Weitling hervorgegangenen neuen Staat, sondern um die Unterstützung einer aus den gegebenen Verhältnissen mit historischer Notwendigkeit entstehenden Partei, welche in ihrer Weltanschauung den Alltags-Liberalismus nur als eine zu überwindende Zwischenstufe ansah und ihn theoretisch überholt hatte. Das leuchtete mir vollkommen ein." Die von Mentel gegründete Organisation wurde bald denunziert und Ende 1846 von der Polizei aufgehoben, die leitenden Personen wurden verhaftet und unter Anklage gestellt. Nach längerer Untersuchungshaft wurden Mentel, Haetzel und Genossen im Juni 1847 vom Berliner Kammergericht teils zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt, teils freigesprochen(3).

Anmerkungen

1) Vgl. Marx-Engels, Über historischen Materialismus. Ein Quellenbuch, Teil I und II (1930), Elementarbücher des Kommunismus Bd. 13 und 14.

2) Die weitere Lebensgeschichte Marx' ist so bekannt, daß folgende Angaben genügen dürften: Marx lebte in Paris bis 1845, wurde ausgewiesen, ließ sich in Brüssel nieder, wo er bis I.März 1848 wohnte. Von Anfang März bis Ende Mai 1848 war er in Paris, 1848/49 als Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung" in Köln, dann einige Monate in Paris; Ende 1849 suchte er Zuflucht in London, wo er bis zu seinem Tode (14. März 1883) verblieb. Hier schrieb er sein ökonomisches Werk „Das Kapital".

3) Wermuth und Stieber, a. a. O. Teil I, S. 36 ff.

 

Editorische Anmerkung

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.524-544

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html