MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
04/07

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onlinezeitung
KAPITEL VII
ERNST BLOCH
RUTH GROSSMASS
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A. ZUR REZEPTION DER BLOCHSCHEN DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit den Texten Blochs

Eine Darstellung der Blochsen Dialektik-Konzeption, die dem Anspruch wissenschaftlicher Genauigkeit gerecht werden und zugleich einführend sein, d.h. das Vertrautsein mit dem Denken Blochs nicht bereits voraussetzen will, hat mit spezifischen Schwierigkeiten zu kämpfen, die weniger mit inhaltlichen Problemen seiner Dialektik-Auffassung zu tun haben, als vielmehr durch das Spezifikum seiner Texte, seiner Theoriebildung bzw. seiner Begrifflichkeit hervorgerufen werden. Exemplarisch läßt sich diese Schwierigkeit von der Seite der Rezeption her erläutern:

Reaktionen auf Texte Blochs sind häufig - und dies gilt bis in die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinein - emotional eingefärbt. Welche Emotionen dabei eine Rolle spielen, hängt oft eher vom Leser und seinem Leseinteresse ab als von den jeweiligen Texten. Daß jedoch Emotionen angesprochen werden, hängt unmittelbar mit der Blochschen Theoriebildung, seiner Begrifflichkeit, bzw. mit Blochs Denkstil zusammen. Und zwar insofern, als Bloch durchaus das Ziel hat, auch auf der Ebene der Theorie sowohl (emotional) zu „bewegen" als auch ,,in die Phantasie zu greifen.44

Ob er Analysen kultureller Phänomene, theoriegeschichtlicher Entwicklungen oder politischer Tendenzen unternimmt oder seinen philosophischen Standort zu explizieren sucht, immer wählt er in Theoriestatus und Begrifflichkeit die Ebene relativ allgemeiner (philosophischer) Reflexion mit der Möglichkeit, durch Bilder Tendenzen anzudeuten, Zusammenhänge zu umreißen und emotional-persönliches Engagement (Parteilichkeit) sowohl durchscheinen zu lassen als auch anzusprechen.

Diese Intention wird in den Arbeiten Blochs angemessen realisiert. Sein Verfahren hat jedoch auch zum Resultat, daß seine Aussagen einer analytisch präzisen und begrifflich eindeutigen Auseinandersetzung Widerstand entgegensetzen. Diese „Widerständigkeit" ist häufig Anlaß, die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Theorie Blochs abzubrechen.

So zu verfahren scheint mir jedoch falsch zu sein. Denn zum einen gibt es zwischen diesem „Denkstil" und dem Sachthema Blochs einen engen Zusammenhang: Bloch will das Noch-Nicht-Vorhandene, das „nur" Mögliche in seinem Denken mit erfassen können. Damit beschreitet er - in seiner eigenen Metaphorik ausgedrückt - offenes, noch nicht wegsam gemachtes Gelände. Unwegsames betreten, heißt aber gerade, keine festen Wege vorzufinden (auch nicht die Wege der begrifflichen Eindeutigkeit). Wo die Sache noch unentschieden ist, kann der Begriff nicht fest sein. So ergibt sich im Denken Blochs die Offenheit seiner Begrifflichkeit von der Sache her mit einer gewissen Notwendigkeit.

Zum anderen sind das sachliche Anliegen Blochs und die in seiner Realisierung entwickelte Dialektik-Konzeption inhaltlich interessant genug, um sich den Schwierigkeiten zu stellen, die sich für eine Klarheit und Eindeutigkeit anstrebende Auseinandersetzung ergeben.

Im folgenden wird deshalb versucht, die Dialektik-Konzeption Blochs herauszuarbeiten und darzustellen. Dabei soll sowohl das Spezifikum deutlich werden als auch der Versuch gemacht werden, größere Klarheit dadurch zu gewinnen, daß „Wege" eindeutig nachgezeichnet und „Unwegsamkeiten" ausgegrenzt werden.

Um dies zu erreichen, bedarf es auf der methodischen Ebene zweier Kunstgriffe:

a) Die Gliederungsstruktur der Darstellung folgt nicht dem Gedankengang Blochs, sondern einem abstrakt-analytischen Ableitungszusammenhang und verläuft in folgenden Schritten:

Philosophiebegriff Blochs
Blochs Dialektikkonzeption
Grundkonzeption und Anknüpfungspunkte
Elemente von Dialektik
Materialisierung der Dialektik (bzw. dialektische Fassung der Materie)
Umsetzung von Dialektik im eigenen Denken
Rückbezug auf Blochs philosophische Gesamtkonzeption

b) Die drei Ebenen, auf denen Bloch sich zur Dialektik (bzw. dialektisch) äußert - allgemeine Aussagen zur Bedeutung von Dialektik, Detailexplikationen, methodische Wendungen - und die von Bloch selbst nicht explizit aufeinander bezogen werden, werden in einen direkten inhaltlichen Zusammenhang gestellt, wobei der leitende Bezugspunkt das Grundanliegen Blochs ist.

Bevor die so angelegte Darstellung beginnt, ist noch kurz auf die Beurteilung Blochs in der Sekundärliteratur und auf die Textgrundlage der Darstellung einzugehen:

2. Die Beurteilung der Theorie Blochs in der Sekundärliteratur: Kaum Beiträge zur Dialektik-Konzeption

Die Auseinandersetzung um Blochs Philosophie, wie sie in der Sekundärliteratur geführt wird, orientiert sich vor allem an den großen Themen seines Denkens: Hoffnung, Antizipation, Utopie bzw. die Beurteilung politischer und kultureller Entwicklungen und Phänomene. Im Mittelpunkt der Diskussionen um Bloch stehen dadurch immer wieder Gesamteinschätzungen seiner philosophischen Reflexion und - damit verbunden - Versuche, sein Denken bestimmten Richtungen oder Lagern zuzuordnen. Zu einem eindeutigen Ergebnis haben diese Versuche bis jetzt nicht geführt.

Die Einschätzungen reichen von der Einordnung Blochs als genuin marxistischem Theoretiker(1) bis zur Kritik seiner Philosophie als revisionistisch und der Zuordnung seiner Konzeption zum Existenzialismus.(2)

Daneben gibt es zahlreiche Versuche, Blochs Philosophie, ihren utopisch-eschatologischen Ausgangspunkt verabsolutierend, theologisch-christlichen Konzeptionen zuzuordnen,(3) oder aber sein Anliegen zu „domestizieren" und seine Theorie dadurch für einen demokratischen Sozialismus im Sinne der westdeutschen Sozialdemokratie nutzbar zu machen.(4) Gemessen an solchen Einschätzungsversuchen, sind die Ansätze zu einer differenzierteren Untersuchung und Kritik Blochs auch in Einzelaspekten wenig zahlreich. Genannt werden sollen hier, da sie auch für unser im weiteren zentrales Thema, die Dialektik-Konzeption Blochs, wichtige Hinweise enthalten:

- Die Analyse von H. H. Holz,(5) die versucht, den Ansatzpunkt Blochs ernstzunehmen und von da aus die Bedeutung und die Grenzen seiner philosophischen Spekulation zu verdeutlichen. (In Zusammenhang damit gibt Holz wichtige Hinweise für die Beurteilung der Gemeinsamkeiten und der Differenzen zwischen Marxismus und der Philosophie des „Prinzips Hoffnung."(6)

- J. v. Kempskis kurzer Beitrag „Hoffnung als Kritik,"(7) der Blochs traditionskritische Haltung untersucht und in Bezug auf Marx problemati-siert;

- Th. W. Adornos Artikel „Große Blechmusik,"(8) der Blochs Sprach- und Denkstil zu erläutern versucht.

Zur Dialektik-Konzeption Blochs schließlich, die auch er selbst nie zum Thema einer Arbeit gemacht hat, liegen kaum Untersuchungen vor, auf die sich die folgende Darstellung stützen kann. H. Mehringers und G. Mergners Bemerkungen über „Ernst Bloch und die Dialektik der Natur"(9) sind eher merkwürdig als instruktiv, wird hier doch der Versuch gemacht, Blochs Rekurs auf Engels' Dialektik-Konzeption ohne Auseinandersetzung mit der sachlichen Fragestellung auf eine charakterliche intellektuelle Verwandtschaft zurückzuführen.

M. Buhrs Kritik, Blochs Dialektik-Verständnis sei unzulässig Ideologisch,(10) geht über diese Feststellung nicht hinaus. Wichtige Ansatzpunkte zur Klärung eines Aspektes der Dialektik-Konzeption Blochs, nämlich des Verhältnisses von Naturdialektik und gesellschaftlicher Dialektik liefert dagegen H. Kimmeries Aufsatz „Materie und Dialektik,"(11) der allerdings gerade in seinen weiterführenden kritischen Überlegungen über die Explikation der Blochschen Position hinausgeht.

Auf Grund dieses Standes der Untersuchung der Blochschen Dialektik-Konzeption kann die folgende Darstellung nur der erste Schritt einer Explikation sein. Der Anspruch einer systematischen Rekonstruktion kann nicht erhoben werden, es werden vielmehr notwendig Lücken bleiben, insbesondere im Detail konkreter dialektischer Analysen.

Obwohl die Frage der Zugehörigkeit Blochs zur marxistischen Tradition umstritten ist, geht die folgende Untersuchung davon aus, daß es sich bei Blochs Beitrag zur materialistischen Dialektik um einen Beitrag innerhalb der marxistischen Theorie handelt. Denn Bloch hat sich eindeutig dem Marxismus zugeordnet, und auch seine Ausführungen zur materialistischen Dialektik ordnen sich in die marxistische Debatte um Dialektik ein, sind Explikationen der marxistischen Dialektik mit jeweils deutlichem Rückbezug auf Marx.

Eine Darstellung der Blochschen Dialektik-Konzeption hat diesen Anspruch zunächst ernstzunehmen und davon ausgehend, seine Position zu verdeutlichen.

3.Textgrundlage für die Darstellung der Dialektik-Konzeption Blochs (1951 ff.)

Da Bloch das Thema Dialektik nicht zum Gegenstand einer eigenständigen Arbeit gemacht hat, muß sich die folgende Darstellung auf einzelne Passagen in den zentralen philosophischen Arbeiten Blochs stützen.

Einzubeziehen sind: „Subjekt-Objekt (1951). das Erläuterungen zu Hegel bietet, „Das Prinzip Hoffnung" (1954-59), in dem Bloch seine philosophische Gesamtkonzeption entwickelt, „Tübinger Einleitung in die Philosophie" (1963/64), die zur Philosophie hinführen und in das Philosophieren Blochs einführen soll, und „Das Materialismusproblem" (1972), in dem Bloch diesen zentralen Aspekt seiner Konzeption aufgreift, um ihn detailliert aufzuarbeiten.

Thematisch einzubeziehen wäre auch Blochs 1975 erschienenes Werk „Experimentum Mundi," das am Leitfaden der Frage nach der kategorialen Strukturierung des Denkens eine Metareflexion seiner Gesamtkonzeption leistet. Für die Fragestellung der Dialektik finden sich darin insofern neue Überlegungen, als auch die dialektischen Bestimmungen auf der Ebene der Metareflexion unter dem Gesichtspunkt ihrer kategorialen Einordnung neu bedacht werden. Dieser Aspekt der Blochschen Konzeption kann im Rahmen einer ersten Explikation seines Dialektik-Modells indessen nicht berücksichtigt werden. . - . '..-..

B. DER THEORIESTATUS DER BLOCHSCHEN ANALYSEN

Für ein angemessenes Verständnis des Blochschen Beitrages zur materialistischen Dialektik ist es zunächst notwendig, Klarheit darüber zu gewinnen, welchen theoretischen Status seine Arbeiten haben. Die Beantwortung der sich daraus ergebenden Fragen nach der Abstraktions- bzw. Konkretionsebene seiner Reflexion, nach dem Theoriekontext, in den sein Denken eingreift, und nach der Argumentationsstruktur seiner Analysen soll im folgenden durch eine Klärung des Philosophiebegriffs bei Bloch sowie der Sprach- und Denkstruktur seiner Philosophie versucht werden.

1. Zum Philosophiebegriff

Blochs Theorie ist - von ihm selbst auch so benannt - Philosophie. In der Vorbemerkung zur „Tübinger Einleitung in die Philosophie" beschreibt er die Tätigkeit des Philosophierens als Nachdenken und Reflexion über die „Sachverhalte ... des (uns betreffenden) noch unentschiedenen Prozesses."(12) Dieses Nachdenken versetzt mitten in den Prozeß, greift in ihn ein, erfolgt also nicht von einem quasi-neutralen Standort aus, der sich als „erst recht befangen" erweist, sondern ist standpunktgebunden, die Person und Perspektive des Nachdenkenden einbeziehend, d.h. parteilich.

Gegenstand dieses Nachdenkens sind die Welt als prozessierender Gesamtzusammenhang und die Rolle des Menschen in ihr.

Aufgabe der Philosophie ist es, dem Menschen (als immer Lernendem) in der Welt Orientierung zu liefern und den Entwicklungszusammenhang Welt als einen Versuch zu erhellen.

Bereits diese vorläufige Bestimmung des Gegenstandes und der Aufgabe von Philosophie macht ein Charakteristikum des Blochschen Denkens deutlich: Im Mittelpunkt stehen Prozessualität und Offenheit des noch unabgeschlossenen Experiments Welt. Ein solches Denken muß nicht nur den Prozeß in seiner bisherigen Entwicklung begreifen, sondern auch die Offenheit und Tendenz des Prozesses auf die Zukunft bezogen erfassen können.

Es kann nicht mit „positivistischer Unterernährung" beim unmittelbar Gegebenen stehen bleiben, sondern muß über dieses hinausweisen. Dieses Moment verbindet das Denken Blochs mit der klassischen Metaphysik (ein Begriff, den Bloch im Gegensatz zu Engels' negativem Gebrauch positiv gegen positivistische Verarmung wendet.(13) Genauso wichtig wie diese Gemeinsamkeit ist die Differenz, die das Blochsche Denken der klassischen Metaphysik gegenüber auszeichnet: Blochs Denken ist nicht statisch, versucht nicht ein hinter dem Seienden liegendes unveränderliches Sein zu erfassen, sondern ist, seinem Gegenstand entsprechend, prozessual und experimentell. Das Anliegen, Offenheit denkend zu erfassen, ist sachlich der Punkt, an dem Bloch marxistische Positionen aufgreift. Der Marxismus ist für Bloch die Philosophie, die Veränderung und Offenheit des Prozesses zum Programm erhebt: Mit Marx beginnt „die Veränderung der Philosophie zur Philosophie der Weltveränderung.(14) Damit ist die Verbindung von Marxismus und Philosophie für die Seite der Philosophie notwendig geworden. Sie ist es aber umgekehrt auch für den Marxismus, will er seinen revolutionären Impetus nicht verlieren: „dialektischer Materialismus ist keiner, wenn er nicht philosophisch ist, d.h., einschreitend in große offene Horizonte."(15)

Die damit bereits angedeutete herausragende Bedeutung des Philosophischen für den dialektischen Materialismus knüpft sich für Bloch an die Interpretation der II. Feuerbach-These, die für ihn das „Losungswort" für die Marxsche Philosophie und von da an für marxistische Philosophie überhaupt ist.

Er versteht die n. Feuerbach-These („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern."') als zweipolige Aussage, deren erste Hälfte gegen die Epigonen der Kontemplation gerichtet ist (gegen das nur Interpretieren) und deren zweite Hälfte das Ziel der Erkenntnis und des Handelns angibt: Veränderung. Veränderung im von Marx gewollten Sinne kann aber nur stattfinden, wenn sie ziel- und erkenntnisgeleitet ist. Sie bedarf der Philosophie, die das Real-Mögliche in den Tendenzen des Gegebenen expliziert und so Zielorientierungen zu geben vermag.(16)

Mit dieser Hervorhebung des philosophischen Moments des Marxismus nimmt Bloch zugleich pointiert zu einem zentralen Punkt der ideologischen Auseinandersetzung innerhalb des Marxismus Stellung. (Die Frage nach der Möglichkeit, Bedeutung und politischen Funktion der Philosophie im Marxismus ist spätestens seit der Kritik der II. Internationalen ein Auseinandersetzungspunkt, an dem sich auch politische Linienkämpfe festmachen.(17) Für Bloch führt die Vernachlässigung des philosophischen Moments des Marxismus zu Vulgärmaterialismus, Ökonomismus und Schematismus, oder wie er diese Erscheinungen zusammenfaßt, zur Banalität.

Er selbst hat dieses Problem mehrfach durch die Metapher vom Kälte- und Wärmestrom des Marxismus zu beschreiben versucht: „Vor allem müssen zwei Begriffe unterschieden werden im Marxismus. Der Kältestrom ist dedektivisch, eiskalt."(18) Er umfaßt die ökonomische Analyse, die Ideologiekritik. „Die zweite Seite, der Wärmestrom, ist das, was in die Phantasie greift, was moralisch bewegt, und zwar bewegt in dem Sinne, daß die Intelligenz einen Klassenverrat begeht, zum großen Teil, indem sie gegen die Klasse denkt, aus der sie stammt."(19)

Beide Momente gehören für Bloch notwendig zusammen. In einer Situation aber, in der weite Teile der marxistischen Theorie die eine Seite, den Kältestrom, einseitig zum Mittelpunkt machen, sieht Bloch seine Aufgabe darin, den anderen Pol zu akzentuieren: „Und da wird in meinem Philosophieren nun sehr oft der Anspruch erhoben, moralischen Hintergrund zu haben und in die Phantasie zu greifen, während dieser Akt das andere, den Kältestrom, nicht aufhebt, sondern vervollständigt."(20) Von diesem Selbstverständnis aus - Akzentuierung des Wärmestroms gegenüber dem verabsolutierten Kältestrom - sind Blochs philosophische Beiträge zur marxistischen Theorie zu sehen.

2. Zur Sprach- und Argumentationsstruktur

Die Argumentations- und Sprachstruktur der Texte Blochs hebt sich deutlich vom analytisch-logischen bzw. begrifflich-eindeutigen Vorgehen anderer philosophischer Texte ab. Auffällig ist die Fülle der Bilder, die häufig bewußte Nähe zu literarischen Ausdrucksformen, die teils in begrifflich präzise Bestimmungen übergeht, teils das Gemeinte umreißt, ohne es eindeutig zu benennen. Dies hat man durch Blochs intellektuelle Nähe zum Expressionismus oder aus der inhaltlichen Verwandtschaft des antizipatorischen Denkens mitder Prophetie zu erklären versucht.(21)

Obwohl zumindest die These vom expressionistischen Denker Bloch einen theoriegeschichtlich wichtigen Hinweis enthält, ist demgegenüber auf den Zusammenhang zwischen sachlich-inhaltlichem Anliegen und sprachlich-argumentativem Ausdruck zu verweisen. Blochs Philosophie will Offenheit und Prozessualität denken und auch die im Prozeß enthaltene Tendenz und Latenz begreifbar machen. Entsprechend hat Bloch seine Reflexion als „modellhaftes Denken"(22) und „Offenhalten zentraler Kategorien"(23) bestimmt und ihre Struktur als „Überschreiten"(24) gekennzeichnet.

Dies setzt sich z.B. in den der Intentionsforschung zuzuordnenden Passagen des „Prinzips Hoffnung" in eine Argumentationsstruktur um, die Bilder des Alltagsdenkens aufgreift, die darin enthaltenen Schichten herauskristallisiert (um so das aufgegriffene Bild zu präzisieren), dann zu einer begrifflichen Fassung des Bildlichen übergeht, um schließlich den Begriff auf den noch offenen Inhalt hin zu durchleuchten.

In der Auseinandersetzung mit Theoremen des dialektischen Materialismus bedient sich Bloch, seinem Anliegen entsprechend, eines Verfahrens der Polarisierung und Akzentuierung, dessen Ziel die Verdeutlichung von Prozessualität, Veränderung und Offenheit ist. Dabei führt die Hervorhebung des „Wärmestroms" als des „in die Phantasie Greifenden" zu metaphorischen Umschreibungen. Die Ansätze zur Präzisierung des Noch-Nicht (als dem im Prozeß enthaltenen Real-Möglichen) können von der Sache her, das noch nicht Gegebene noch nicht benennen. Was sie leisten können, ist seine kategoriale Eingrenzung. Dies hat Bloch - an einigen Stellen mit erstaunlicher Präzision - versucht.

C. BLOCHS DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Bezugspunkte der Dialektik-Konzeption

Da für Bloch dialektisches Denken der gründliche und lebendige Nachvollzug der Inhalte und Möglichkeiten realer Bewegung ist,(25) findet er Momente dialektischen Denkens (d.h. Ansätze, den Widerspruch und die Möglichkeit des Neuen im Alten zu denken) bei allen großen Denkern der philosophischen Tradition.

Sokrates, Platon, Aristoteles, Heraklit, Nikolaus von Kues, Jakob Böhme, Leibniz, Kant, Schelling und Fichte gelten ihm, an dieser allgemeinen Bestimmung gemessen, in einzelnen Gedankengängen, Grundprinzipien oder methodischen Momenten als dialektisch oder „krypto"-dialektisch. So bedient sich Bloch auch in der Erläuterung einzelner Gedankengänge durchaus der Theoreme und Formulierungen dieser Autoren.

Die systematische Entfaltung und Begründung dialektischen Denkens setzt jedoch auch Bloch am „Umschlagspunkt" Hegel - Marx an. Entsprechend sind diese beiden Autoren der zentrale Bezugspunkt für seine Ausführungen zur materialistischen Dialektik. Dabei liegt der Ansatzpunkt zunächst immer bei Hegel, der Dialektik zwar auf idealistischer Grundlage, aber systematisch entwickelt hat und dessen Theorie alle zentralen Bestimmungen von Dialektik enthält. Die Marxsche Kritik der Hegeischen Dialektik ist weder Ablehnung der von Hegel erarbeiteten Kategorien noch die schlichte Übertragung dieser Kategorien von einem idealistischen Weltverständnis auf die verschiedenen Bereiche einer materialistisch begriffenen Realität, sie führt vielmehr zu einer qualitativ neuen inhaltlichen Füllung der Hegelschen Kategorien.

Um es in einem für Bloch charakteristischen Bild auszudrücken: Bei der „Hochzeit der Dame Dialektik (aus so vornehmen idealistischen Hause) mit dem plebejischen oder plebejisch gewordenen Burschen Materialismus"(26) stellt die Marxsche Kritik der Hegeischen Dialektik den Akt der Vermählung dar. Das Resultat ist nicht nur eine „begriffhafte Verbindung," sondern: „Dialektik und Materie wurden nun als gleichen Stammes gelehrt; ohne das rein Geisthafte der Konflikte hier, ohne das rein Klotzhafte von Materie dort."(27)

2. Zentrale Bestimmungen der Hegelschen Dialektik

Die Hegelsche Dialektik ist für Bloch deshalb der zentrale Ansatzpunkt, weil bei Hegel das „unruhige," „bewegliche," „flüssige," „märzhafte" Element der Dialektik auf die Realität insgesamt bezogen wird: Hegel „totalisiert in seinem System die ganze bis dahin entwickelte Objektdialektik überhaupt."(28) Dialektik wird hierdurch bei Hegel zur Prozeßstruktur der Sache selbst, zum Entwicklungsmotor des Zusammenhangs der Realität.(29) Dies jedoch - und hier liegt die Schwäche der Hegeischen „Logik" wie seiner realphilosophischen Analysen - geschieht auf idealistischer Grundlage durch Ver"geist"igung der Realität.

Trotz dieser Einschränkung kann Hegel, da er die Bestimmungen des Prozesses in der Sache selbst aufzufinden sucht, die zentralen allgemeinen Prozeßstrukturen bestimmen und als „flüssige" Begriffe entfalten: Widerspruch, Negation, Sprung, Totum. Blochs Explikation dieser Hegeischen Begriffe wird im folgenden dargelegt.

Der dialektische Widerspruch

Die Kategorie des dialektischen Widerspruchs setzt sich in Gegensatz zu einer zentralen Bestimmung der formalen Logik, die besagt, „das A nicht /ugleich Nicht-A sein könne." Das Verbot des Widerspruchs als Regel des vernünftigen Redens ist damit nicht in Frage gestellt, denn „ein Mensch, der dauernd widerspricht, ist dadurch noch kein Dialektiker, nur ein Faseler. "(30)

Aber als Aussage über die Realität setzt Bloch dieser Bestimmung der formalen Logik dann entgegen: „Es gibt zugleich seienden Widerspruch durchaus."(31) Bei dieser Feststellung ist jedoch nicht stehenzubleiben, da der Widerspruch selbst über sich hinausweist: „Der Widerspruch ist bei Hegel ... gerade das, was es nicht bei sich aushält, und das Überalterte, Einengende, drückend Widerstandshafte am Status, das den Widerspruch unvermeidlich macht, ist das Unhaltbare schlechthin."(32) Und so ist der Widerspruch Quelle und Motor von Veränderung und Bewegung. Der Widerspruch (als der Widerspruch der Einheit und des Widerspruches) hat nichts Ruhendes, Bleibendes, ist vielmehr Kampf, Konflikt, Entzweiung und trägt das Moment seiner Negation in sich.

Als lebendiger Prozeß der Reflexion über die Realität ist auch das Denken widersprüchlich strukturiert - nicht im Sinne von „Sich-Widersprechen," wohl aber insofern, als es den Widerspruch in der Sache erfaßt und durch Entgegensetzung und „Widerständiges" zur konkreten Erfassung des Sachverhaltes fortschreitet. Dabei ist es für Bloch wichtig, hervorzuheben, daß der Hegelsche Dreischritt (Setzen der These - Entgegensetzung - Synthese) nicht jeden Denkprozeß zureichend beschreibt. Komplexere Prozesse können notwendig sein, und Unabgeschlossenheit des Denkens ist geradezu notwendig, wenn die Sache selbst unabgeschlossen ist.

Die dialektische Negation

Da jeder Widerspruch, jede widersprüchliche Einheit das Negative, Veränderungsbedürftige in sich enthält, ist die Negation das Treibende des Prozesses. In einer „erreichten Gewordenheit selber reift ihr Widerspruch, reift die Negation des Gewordenen, die es aufhebt."(33) Erst die Aufhebung des Negativen im Widerspruch (= Negation) führt zur Veränderung des widersprüchlichen Sachverhaltes (bzw. Prozesses). Ergebnis dieses Veränderungsprozesses ist wiederum eine widersprüchliche Einheit, die ihr Negatives enthält und zur Veränderung drängt: Negation der Negation.

Seine volle, für die Richtung des Gesamtprozesses wesentliche Bedeutung erhält diese Prozeßstruktur für Bloch erst mit dem Auftreten des Menschen, d.h. für den gesellschaftlichen Bereich. Denn mit dem Menschen, der die neue Qualität des antizipierenden Bewußtseins in den Entwicklungsprozeß der Materie einbringt, ist aktives Gestalten, aktives Aufgreifen des Wider-Spruches möglich geworden. Die menschliche Geschichte ermöglicht Negation der Negation mit Richtung auf Besserung, ja Optimierung des Gesamtprozesses.

Die dialektische Analyse hat jedoch die Einheit des Prozesses zu berücksichtigen, denn nicht alles, was widersprüchlich scheint, Negatives enthält, ist Moment einer dialektischen Entwicklung. Auch bei Hegel gibt es „bereits ... gewisse Unterschiede, will sagen, er notiert auch untauglich Negatives. Er notiert gerade in der menschlichen Geschichte auch Nihilisierungen schlechthin verwüstender Art, ohne sichtbare dialektische Funktion."(34)

Zur Präzisierung dieses Sachverhaltes hat Bloch den Begriff des Negativen durch die Kategorien Nicht und Nichts zu differenzieren versucht. Dabei bestimmt er als Nicht das im dialektischen Entwicklungsprozeß begriffene Negative, das auf Veränderung drängt und sowohl das Alles wie das Nichts als Möglichkeit enthält, deshalb auch als Noch-Nicht zu beschreiben ist. Als Nichts wird demgegenüber das bloße Vernichten, das bloße Unglück z.B. des Dreißigjährigen Krieges bestimmt, die tendenzielle Verfehlung des Alles im Aufheben des (Noch-)Nicht.(35)

Der dialektische Sprung

Die Form des Prozesses ist in ihrem Ablauf nicht kontinuierlich. Veränderung verläuft abrupt, Neues zeigt sich plötzlich, entwickelt sich in „Durchbrüchen." Quantitative Veränderungen, Verschiebungen im Verhältnis der Pole des Widerspruchcs können kontinuierlich verlaufen, das Entstehen einer neuen Qualität, wie Bloch es formuliert: die Geburt des Neuen jedoch, erfolgt in einem Sprung: „Plötzliche Qualitätsveränderung greift Platz, die Welle bricht, wenn ein bestimmtes Quantum erreicht ist, sie schlägt um."(36)

Die Hegelsche Kategorie der „Knotenlinie von Maßverhältnissen" -Bloch übersetzt sie (mit Engels) materialistisch als „qualitativen Umschlag quantitativer Verhältnisse, von einem bestimmten Maß ab" - hat diese Prozeßstruktur präzise beschrieben.

Die dialektische Kategorie Totalität /Totum

Eine besondere Bedeutung gewinnt für Bloch die Hegelsche Kategorie der Totalität. Totalität ist bei Hegel logisch zunächst die Einheit von Allgemeinem und Besonderem, sie umfaßt die durch die Arbeit des Begriffes vermittelten Bestimmungen des Absoluten. Realphilosophisch meint Totalität das konkrete Ganze, in dem die vollendete Idee mit dem konkreten Einzelnen vermittelt ist. Bloch schließt an diese Bestimmung folgende Überlegung an: Wenn die konkrete Ganzheit das Vollendete ist, „so ist ihr Gegenteil das Stückwerk, das Unvollendete, das Endliche,"(37) das vollendet werden will. „Die dialektische Aufhebung des Endlichen wird (von Hegel) mit der Erhebung über das Endliche gleichgesetzt, und die Unruhe des Endlichen, die es verzehrt, die es eben dazu bestimmt, verzehrt zu werden, erscheint als letzter Motor der dialektischen Bewegung."(38) Dieser mythische Inhalt des Begriffes ..Totalität" - wie ihn Bloch bei Hegel expliziert - ist auf matenalistischer Grundlage nicht haltbar. Dennoch ist darin für Bloch ein Moment von Dialektik angesprochen, das festzuhalten ist, weil auf ihm die Intensität der dialektischen Bewegung beruht.

Angesprochen wird darin die Unangemessenheit des Gegebenen (bei Hegel: Endlichen) gegenüber dem Möglichen (bei Hegel: Unendlichen). Das Mögliche ist das im Noch-Nicht als Möglichkeit enthaltene Alles, das potentielle Totum des Gesamtprozesses. Wichtig ist es Bloch, hervorzuheben, daß dieses Totum dem Prozeß der Materie immanent ist. Um dies zum Ausdruck zu bringen, scheint ihm der Leibnizsche Begriff „Tendenz" - so übersetzt Bloch „appctitus" - treffender zu sein als die Hegelsche „Erhebung über das Endliche," denn der Leibnizsche Begriff beinhaltet ein Streben, das an konkrete Bedürfnisse gebunden und auf die Zukunft gerichtet ist, also materielle geschichtliche Entwicklung begreifbar macht.

3. Materialisierung der Dialektik durch Marx

Der zentrale Mangel der Hegelschen Dialektik ist ihre idealistische „Verbegrifflichung," die letzlich dazu führt, daß die wirkliche Bewegung in ihren konkreten Widersprüchen vernachlässigt wird zugunsten eines begrifflichen Schematismus, der reale Möglichkeiten und Zukünftiges nicht erfassen kann. Materialistische Dialektik als „Realdialektik der Welt"(39) hebt diesen Mangel auf: In der materialistischen Dialektik wird das Dialektische „in die Unruhe des wirklich Konkreten gebracht, ins Gegenwärtige wie Zukünftige des Wirklichen, des materiellen Prozesses. Das ist der Sinn der Marxschen ,Umstülpung,' zum Zweck, die stete Neuerzeugung der Widersprüche und ihren weltverändernden Ausbruch vom bloßen Reflex im Kopf endlich auf die Füße zu stellen."(40) Diese Materialisierung der Dialektik muß notwendig auch die inhaltliche Bestimmung der Kategorien ´Dialektik' und ´Materie' verändern.

Materialistische Fassung von Dialektik

Die Bindung der Dialektik an den materiellen Prozeß verändert sie nicht in ihren einzelnen Bestimmungen, sondern in ihrer grundsätzlichen Bedeutung: Die Welt kann nicht mehr als bereits abgeschlossen gelten, sie ist offen mit der Anlage zu etwas, das noch nicht ist, dessen Möglichkeit aber bereits sichtbar ist.

So ist Dialektik als Realdialektik der Prozeß der Entfaltung dieser Möglichkeiten. Das dialektische Denken hat die Aufgabe, „schöpferische Offenheitsrelationen" im materiellen Prozeß aufzuweisen und ergreifbar zu machen. Dem so veränderten Blick zeigen sich Widersprüche, Aufbrüche zu Neuem (mit verschärfter Diskontinuität), Sprünge in allen Bereichen der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit: in der Entwicklung des Lebens aus der anorganischen Materie, in der elektromagnetischen Bewegung des Wellikels (Welle/Partikel), in zwischenmenschlichen Konflikten, im Kampf zwischen Abhängigen und Herrschenden, im ökonomischen Grundwiderspruch antagonistischer Gesellschaften - als „Reflex und experimenteller Austrag solcher Widersprüche" z.B. in der Tragödie oder den Beethovenschen Symphonien.

Dialektik, materialistisch gefaßt, bleibt jedoch bei dem so veränderten Blick nicht stehen, sondern hebt zugleich den alten Hiatus zwischen Subjekt und Objekt in einer Richtung auf, die passive Kontemplation ausschließt. Dem objektiven Widerspruch wird der "subjekthaft-aktive" gegenübergestellt, beide sind Momente des materiellen Prozesses und miteinander zu vermitteln.

Grundmodell dieser Vermittlung ist der materielle Arbeitsprozeß, in dem Objekt und Subjekt, bzw. Natur und Mensch in Stoffwechsel miteinander treten: Kenntnis der objektiven Widersprüche, Antizipation des zu erreichenden Produktes und tätig-eingreifende Veränderung führen im gegenständlichen Erzeugungsakt (= Produktion) des Subjekts zur konkreten Vermittlung von Subjekt und Objekt. Der so verstandene Arbeitsprozeß ist die Grundlage der materialistischen Theorie-Praxis, denn jeder Theorie-Praxis-Zusammenhang enthält die beschriebene Struktur (Begreifen des objektiven Prozesses in seiner Widersprüchlichkeit - Antizipation des materiell möglichen Ziels - tätig-eingreifende Veränderung) und basiert auf ihr.(41)

Bloch akzentuiert in seiner Konzeption der Subjekt-Objekt-Dialektik die tätig-aktive Seite des Subjektes gegenüber dem Aspekt der Bestimmung des Subjektes durch die objektive Realität. Dies beinhaltet weder eine Negation dieser Bestimmung noch eine Hervorhebung des Geistes gegenüber dem materiellen Prozeß. Vielmehr ist für Bloch in der Subjekt-Objekt-Dialektik der Widerspruch zwischen tätigem Geist und mechanisch-toter Materie aufgehoben: das geschichtlich wirksame Subjekt (der wirtschaftende gesellschaftliche Mensch) ist selbst materiell, das Bewußtsein dieses Subjekts ist das höchste Produkt der Materie.

Die Hervorhebung der aktiv-subjektiven Seite des Verhältnisses von Subjekt und Objekt hat für Bloch die Funktion, den revolutionären Inhalt materialistischer Dialektik (wieder) lebendig zu machen und für das „Ergreifen" des objektiven Widerspruchs zu motivieren:

Der Gedanke, „sofern er ein mit der geschehenden Wirklichkeit vermittelter ist, (wird) selber ... Faktor der Umwälzungsprozesse: nur dann, dann aber unbedingt, wird er geschichtserzeugend. Wird als Klassenbewußtsein als revolutionäre Wissenschaft eine besonders mächtige, auf Produktion und Basis zurückwirkende Kraft, gehört zum Subjekt der Geschichtserzeugung, der mit Bewußtsein gemachten Geschichte."(42)

Der historische Prozeß, soll er zu positiver Weiterentwicklung führen, bedarf allerdings auch des aktiven Eingriffs des Subjekts. Denn die Negation als auslöschende kann ohne den Eingriff des subjektiv-aktiven Widerspruchs zum Scheitern, zum „Umsonst" führen. Beispiel für ein solches „Umsonst" ist für Bloch der deutsche Faschismus.

Dialektische Fassung der Materie

Die Materialisierung der Dialektik verändert auch den Materiebegriff qualitativ. Materie ist nicht mehr das statische, nur quantitativ bestimmbare „Klotzhafte." Vielmehr tritt das Quale,(43) die sinnliche Fülle der Entfaltungsmöglichkeiten der Materie in den Vordergrund. Dabei ist die quantitative, technisch nutzbare Seite der Materie nicht negiert, sondern in der dialektischen Bestimmung des Verhältnisses von Quantität und Qualität aufgehoben: Jede qualitative Stufe der Materie hat ihre quantitativen Bestimmungen, deren Veränderung (nach dem der Qualität zugehörenden Maß) sprunghaft zu einer neuen Qualität führt.

So wird Materie, dialektisch gefaßt, Prozeßmaterie, die ihr Ende, ihre endgültige Gestalt noch nicht gefunden hat. Sie ist nach vorn hin offen, voller objektiv-realer Möglichkeiten und hat die Tendenz, diese zu entfalten.

Im Vordergrund steht für Bloch bei dieser Explikation die Einheit der sich entfaltenden Prozeßmaterie, der materielle Gesamtzusammenhang, innerhalb dessen und durch den Entwicklung sich vollzieht.

Dennoch sind Schichten, Sprünge, Sphären der Entfaltung der Materie sichtbar, die zwar nicht isolierbar sind, aber gesondert betrachtet und untersucht werden können.

Solche Schichten der dialektisch prozessierenden Materie sind der mechanische, der chemische, der organische und der ökonomisch-historische Bereich der Realität - Bewegungsformen der Materie, wie Engels sie nennt.

Sie entstehen in einem hierarchisch strukturierten Entfaltungsprozeß, lösen sich jedoch nicht jeweils ab, sondern führen zu einem strukturierten Ganzen mit zunehmender Komplexität. Dies geschieht nicht „trotz des dialektischen durchgängigen Flusses, sondern kraft seiner."(44) Daß auch die außermenschliche Natur dialektisch strukturiert ist, steht damit für Bloch außer Frage. Wichtigstes Moment des „dialektischen Flusses" in der Naturmaterie ist der „qualitative Umschlag quantitativer Verhältnisse, von einem bestimmten Maß ab," wobei das dialektisch Neue nicht die Seite der Quantität ist - sie ist das Hauptfeld des mechanischen Materialismus -sondern das Entstehen neuer Qualitäten.

Daß für die dialektische Erfassung von Naturqualitäten auch in der modernen Physik Ansatzpunkte und aufzugreifende Brüche gegeben sind, hat Bloch zu zeigen versucht,(45) wirklich bestimmbar sind sie für ihn aber nur in einer philosophischen Analyse, die die Vermittlung von qualitativer Naturmaterie und historische Materie zu denken vermag:

Die erste, bereits vollzogene Vermittlung von Natur und Geschichte liegt in der Einheit der prozessierenden Materie, denn Natur und Geschichte sind unterschiedliche Stufen desselben Prozesses: „die Dialektik der Natur springt über in die Dialektik der menschlichen Geschichte; Leben wie Denken sind Bcwegungsformen einer höher qualifizierten Materie und der Geist kein total Anderes, gar dualistisch Entgegengesetztes, sondern deren .höchste Blüte'."(46) Ihren konkret-praktischen Ausdruck findet diese Einheit darin, daß der Stoffwechsel Mensch-Natur Grundlage jeder gesellschaftlichen Reproduktion des Menschen ist.

Diese grundlegende Vermittlung in der Subjekt-Objekt-Dialektik enthält über sich hinausweisend die Möglichkeit für eine zweite, umfassende (aber noch ausstehende) Vermittlung von Natur und Gesellschaft, in der der Widerspruch Mensch-Natur wirklich aufgehoben ist. Sie kann unter der Bedingung der Realisierung des Sozialismus vollzogen werden durch die Entfaltung der natürlichen Möglichkeiten des Menschen und der konkretqualitativen Potenzen der Natur, oder, wie Bloch, eine Antizipation von Marx aufgreifend, formuliert: durch Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur.

Will, man die Blochsche Bestimmung von „materialistischer Dialektik" und „dialektischer Materie" zusammenfassen, so ist „Dialektik" als Logik des materiellen Prozesses zu bestimmen und „Materie" als materielles Substrat dieses Prozesses. Beide Kategorien beschreiben denselben Prozeß, der Natur, Gesellschaft und Denken umfaßt. Als voneinander unterscheidbare Kategorien heben sie jeweils unterschiedliche Aspekte derselben Einheit hervor.

Um diese Einheit zum Ausdruck zu bringen, verwendet Bloch häufig Begriffe wie: „Dialektik-Materie," „Prozeßmaterie," „dialektisch-historischer Materialismus."

4. Blochs Verfahren der dialektischen Akzentuierung

Das bisher Dargestellte des Blochschen Dialektik-Modells umfaßt seine Grundkonzeption zur materialistischen Dialektik. Sie gründet sich auf die von Marx und Engels in Anschluß an Hegel entwickelten Grundpositionen dialektischen Denkens. Spezifisch für das Denken Blochs ist bei seinem Rekurs auf Grundpositionen der marxistischen Tradition eine Hervorhebung der darin enthaltenen Momente, die sich mit den Stichtworten Offenheit, unabgeschlossener Versuch, Entfaltung objektiv-realer Möglichkeit umschreiben lassen. Dieses akzentuierende Aufgreifen marxistischer Theoreme ergibt sich als methodisches Element unmittelbar aus der inhaltlichen Ziel- und Aufgabenbestimmung seines Denkens; Stärkung des „Wärmestroms" des Marxismus gegenüber dem (in der gegenwärtigen marxistischen Philosophie) verabsolutierten „Kältestrom."

Dieses Anliegen Blochs wird nicht nur in seiner Grundkonzeption deutlich, sondern drückt sich auch in seinen Versuchen zur Präzisierung einzelner Kategorien und Bestimmungen materialistischer Dialektik aus, wiederum durch ein deutlich akzentuierendes Aufgreifen und Verarbeiten von Fragestellungen.

Um dies zu verdeutlichen, sollen modellhaft zwei solcher Präzisierungsversuche im folgenden skizziert werden:

a) Offenheit von Dialektik und Unabgeschlossenheit der Erklärungsleistung dialektischen Denkens

Im „Materialismusproblem" versucht Bloch durch die Vertiefung dreier kategorialer Bestimmungen aufzuzeigen, daß Dialektik, materialistisch gefaßt, selbst noch unabgeschlossen, offen ist.(47) Symptomatisch hierfür scheinen ihm „Unwegsamkeiten," d.h. nicht geklärte und unerprobte Wege materialistischen Denkens zu sein, die aber gerade ein sich dialektisch verstehender Materialismus begehbar zu machen hat.

Wichtige „Unwegsamkeiten" solcher Art sind: die „Crux" des Verhältnisses Allgemeines - Einzelnes, die „Antinomie" des Sprungs Quantität -Qualität und die „Aporie" des Verhältnisses Sein - bewußtes Sein (wobei Crux, Antinomie, Aporie in dieser Reihenfolge Bezeichnungen für jeweils gesteigerte Formen von Unwegsamkeiten des Denkens sind).

Die Crux Allgemeines-Einzelnes

Im Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen steckt das alte philosophische Problem, wie das wahrnehmbare Sinnlich-Einzelne mit dem gedachten Begrifflich-Allgemeinen in Beziehung zu setzen sei. In der quantitativ bestimmten neuzeitlichen Wissenschaft hat das bürgerliche Denken diese Relation in das Verhältnis von empirischer Tatsache und mathematisch ausdrückbarem Gesetz übersetzt und das Problem ihres Zusammenhanges abstrakt durch die Einführung des Funktionsbegriffes gelöst: die einzelnen empirischen Tatsachen stehen in einem funktionalen Zusammenhang, der sich verallgemeinern und abstraktiv als Gesetz formulieren läßt.

Damit ist jedoch nur die quantitative Seite der Relation Allgemeines -Einzelnes erfaßt. Der qualitative sinnliche Gehalt des Einzeldings wird genauso vernachlässigt wie das inhaltliche Beziehungsgefüge, das die verschiedenen Einzelnen mit dem Allgemeinen vermittelt.

So ist die gefundene Lösung nur eine scheinbare, denn das Problem des Verhältnisses des Allgemeinen zum Einzelnen bleibt in der Form bestehen, daß die zugeordneten Kategorien ihren jeweiligen Inhalt (an sinnlich konkretem Material) nicht erschöpfen können. Das quantitativ beschreibbare Faktum erfaßt nicht die qualitativen Eigenschaften des konkreten Einzeldings, der funktionale Zusammenhang beschreibt nicht die Totalität eines konkreten Allgemeinen. Damit bleibt das Verhältnis des begreifenden Subjekts zum erfaßten Objekt abstrakt.

Materialistische Dialektik führt zu einer grundsätzlichen Lösung dieser Crux, indem sie sie nicht mehr nur als Problem des Denkens faßt, sondern sie als Polarisierung von allgemein-begrifflicher Erfassung einerseits und qualitativer Materie in ihren realen Besonderheiten und Entwicklungsstufen andererseits begreift. Zwischen diesen beiden Polen sind in einem einheitlichen Theorie-Praxis-Prozeß Vermittlungsschritte durch konkret-sinnliche Erfahrung und praktische Veränderung möglich. So wird die Crux zunehmend auflösbar gemacht, d.h. das Unwegsame wird begehbar.

Aber gerade dadurch, daß diese grundsätzliche Lösung des Problems im Angeben einer Methode für seine jeweils konkrete Lösung besteht, ist die Crux des Verhältnisses des Allgemeinen zum Einzelnen damit nicht verschwunden, sondern stellt sich in jedem einzelnen Erkenntnisakt neu, eine eigene konkrete Lösung erfordernd.

Bloch schätzt dies als einen Gewinn ein, der das dialektische Denken offen hält für „das fruchtbar Unterbrechende, wie es genau vom lebhaft und bunt Einzelnen herkommen mag."(48)

Die Antinomie des Umschlages Quantität-Qualität

Qualitative Materie entfaltet sich in diskontinuierlicher Kontinuität zu einer Hierarchie von Daseinsformen. Dies vollzieht sich durch quantitative Veränderungen, die, wenn ihr Maß erreicht ist, in einem Sprung zu einer neuen Qualität führen.

In dieser dialektischen Bestimmung des Umschlages von Quantität in Qualität sieht Bloch zwar die Struktur des Prozesses richtig beschrieben, er findet jedoch auch hier eine dialektische Crux insofern, als durch „Sprung" zwar das qualitativ Neue der entstehenden Materieform hervorgehoben

wird, nicht aber die Frage beantwortet ist, auf Grund welcher Kontinuität genau diese Qualität aus der vorhergehenden entsteht und was es eigentlich ist, das die einheitliche Prozeßmaterie von einer Qualität in die nächste treibt. Dieses Treibende kann nicht nur quantitativer Art sein, es muß selbst qualitativ sein. Um es mit Blochschen Termini auszudrücken: das Daß ist in der dialektischen Bestimmung zureichend beschrieben, das Was bedarf der Präzisierung.

Es kann jedoch nicht begrifflich-allgemein präzisiert werden, denn das Was des jeweiligen Prozesses ist selbst noch offen. Festzuhalten ist jedoch, daß das Treibende zu einem neuen Was selbst eine Qualität der Materie sein muß. Bloch faßt es mit dem Grenzbegriff Tendenz.

Die Aporie des Umschlages vom Sein zum bewußten Sein

Innerhalb der Entwicklungsstufen der Materie hat schon Engels zwei qualitative Sprünge als besonders bedeutend hervorgehoben (starting points): die Entstehung des Lebens und die Entstehung des Bewußtseins. Der zweite enthält für Bloch die Aporie des Verhältnisses Sein - Bewußtsein und stellt eine dritte Crux dialektischen Denkens dar.

Bloch schreibt: „der dialektische Sprung vom Atom zur Zelle, von einem physischen Quantum zu einem organischen Quäle ist via Aminosäure nicht schwer nachdenkbar, aber freilich von der Zelle zum Gedanken, von einem noch so organisch gewordenen Quantum zu einem psychisch sich selbst reflektierenden Quäle schwierig, dergestalt daß, auch wenn man in einem Gehirn umhergehen könnte wie in einer Mühle, man nicht daraufkäme, daß hier Gedanken erzeugt werden.(49)

Materielles und Ideelles als Formen ein und derselben Prozeßmaterie bedürfen der Vermittlung, die durch aus beidem gemischten Vermittlungsschritten jeweils konkret geleistet werden kann.

Philosophisch ergibt sich die notwendige Vermittlung, wenn man hinzunimmt, daß Bewußtsein (die „höchste Blüte der Materie") als bewußtes Sein Ietzlich sich selbst reflektierende Materie ist. Diese Reflexion bezieht sowohl den bisherigen Prozeß ein als auch die Tendenz der sich qualifizierenden Materie. Mit Auftreten des Bewußtseins ist Antizipation und Zielbestimmung des Prozesses möglich geworden. Eine vom Bewußtsein geleitete menschliche Praxis ermöglicht darüber hinaus die subjektiv-aktive Negation (s. Blochs Bestimmung der dialektischen Negation). Materielle Dialektik erreicht damit in der menschlichen Gesellschaft die Stufe einer möglichen offenen Teleologie des Prozesses (von Bloch mit dem Begriff der Entelechie der Materie bezeichnet). Die Aporie des Verhältnisses Sein - Bewußtsein erweist sich, dialektisch gefaßt, als Aporie des noch unentschiedenen Weltprozesses selbst.

Anzumerken bleibt, daß die Aporie Sein - Bewußtsein, die sich abstrakt als ein Spezialfall der Antinomie Quantität - Qualität darstellt, konkret diese Antinomie erst erfaßbar macht, denn die Wahrnehmung qualitativer Veränderungen und Überschüsse ist an die Anwesenheit menschlichen Bewußtseins gebunden.

b) Stellenwert des subjektiv-aktiven Moments der Dialektik

Im „Prinzip Hoffnung" leistet Bloch an zentraler Stelle (Fundierung des antizipierenden Bewußtseins) eine Strukturierung und Interpretation der Feuerbachthesen von Marx, die für ihn ein Kernstück des historischen Materialismus sind.(50)

Bereits in der Gruppierung der Thesen werden die für Bloch zentralen Themen historisch-materialistischer Dialektik deutlich. Er faßt die Thesen zu drei Gruppen zusammen:

1. erkenntnistheoretische Gruppe (Thesen 5,1,3) mit dem Thema „Anschauung und Tätigkeit"

2. anthropologisch-historische Gruppe (Thesen 4,6,7,9,10) mit dem Thema „Selbstentfremdung, ihre wirkliche Ursache und der wahre Materialismus"

3. Theorie-Praxis-Gruppe (Thesen 2,8) mit dem Thema „Beweis und Bewährung."(51)

In der Auseinandersetzung mit Feuerbach (bisheriger Materialismus) und Hegel (Idealismus) formuliert Marx, wie Blochs Gruppierung und seine thematische Festlegung der Gruppen ergeben, grundsätzliche Positionen zu den Fragen:

1. Wie ist das Verhältnis des Subjekts zum Objekt dialektisch-materialistisch zu bestimmen?

2. Welche Ursachen hat die menschliche Selbstentfremdung und wie ist sie aufzuheben?

3. Wie ist das Verhältnis von Theorie (Wahrheit) und Praxis dialektischmaterialistisch zu bestimmen?

In der Kommentierung der Thesengruppen arbeitet Bloch die jeweilige Marxsche Antwort auf die gestellten Fragen als Vermittlung zwischen zwei extremen Polen heraus; Grundlage hierfür ist das Marxsche Verfahren der Kritik antithetisch entgegen gesetzter Positionen (des Idealismus und des bisherigen Materialismus).

Marx' Antwort auf die erste Frage setzt sich sowohl gegen eine mechanistische Milieutheorie (bisheriger Materialismus) als auch gegen die idealistische Subjekttheorie ab und bestimmt das Verhältnis von Subjekt und Objekt als wechselwirkende Vermittlung nach dem Grundmodell der sinnlich-gegenständlichen Arbeit. Die Gleichberechtigung der beiden Pole in diesem Vermittlungsprozeß stellt nicht das Prius des Seins über das Bewußtsein in Frage, sondern basiert vielmehr darauf, daß im historisch-gesellschaftlichen Sein objektiviertes Bewußtsein enthalten ist. Bloch legt, gegen Vulgärmaterialismus gewendet, den Akzent seiner Explikation auf die subjektive Seite dieses Wechselwirkungsverhältnisses und betont: Die Tätigkeit des Subjekts, die durch Bewußtsein gesteuert ist, wird in der lebendigen Subjekt-Objekt-Beziehung selbst materielle Kraft.

In seiner Beantwortung der zweiten Frage geht Marx vom Faktum der menschlichen Selbstentfremdung aus. Dieses Faktum ergibt sich jedoch nicht, wie die Dichotomie Individuum - Gattung unterstellt, durch das Auseinanderfallen von Individuum und Gattung. Das Individuum ist vielmehr gerade in der konkreten Gesellschaft, die seine Selbstentfremdung produziert, mit der konkret-gesellschaftlich zu verstehenden, sich historisch entwickelnden Gattung vermittelt. Selbstentfremdung muß also ihre Ursache in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst haben: „Die Menschen verdoppeln ihre Welt nicht nur deshalb, weil sie ein zerrissenes, wünschendes Bewußtsein haben (so hatte Feuerbach die Entfremdung in der Religion erklärt, d. V.). Vielmehr entspringt dieses Bewußtsein, samt seinem religiösen Widerschein, einer viel näheren Entzweiung, nämlich einer gesellschaftlichen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selber sind zerrissen und geteilt, zeigen ein Unten und Oben, Kämpfe zwischen beiden Klassen und dunstreiche Ideologien des Oben, von denen die religiöse nur eine unter mehreren ist."(52) Ist Selbstentfremdung gesellschaftlich produziert, dann kann ihre Aufhebung nur durch die praktische Kritik der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse gelingen.

Damit ist aber das in der Entgegensetzung Individuum - Gattung enthaltene zweite Moment, die abstrakte Fassung der menschlichen Gattung als Humanität nicht völlig hinfällig.

Humanum oder Humanität als Wertbegriff, der das dem Menschen Mögliche bezeichnet und als Kriterium der Kritik des Gegebenen dienen kann, bleibt - so Bloch - auch für Marx erhalten. Es schwingt als Zielbestimmung für die Aufhebung der Selbstentfremdung mit und ist als reale Möglichkeit Moment des Veränderungsprozesses selbst.

Gegenüber marxistischen Positionen, die in diesem Punkt die wissenschaftlich-nüchterne Seite der Marxschen Position - Entlarvung und Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen für Entfremdung - verabsolutieren, akzentuiert Bloch gerade die andere Seite, den „Wertbegriff Humanismus": „je wissenschaftlicher der Sozialismus, desto konkreter hat er gerade die Sorge um den Menschen im Mittelpunkt, die reale Aufhebung seiner Selbstentfremdung im Ziel."(53)

Zur Klärung des Verhältnisses von Theorie und Praxis greift Marx die Antithese von sinnlicher Anschauung und Gedanken auf, die sich bei der Hegel-Kritik Feuerbachs ergibt. In der Gegenüberstellung von Denken und sinnlicher Anschauung läßt sich jedoch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Erkenntnis nicht lösen.

Kritisch nimmt Marx von der Seite des Denkens das tätige Moment und von der Seite der Anschauung das sinnlich-konkrete Moment auf. Materialistisch gefaßt, führt das tätige Moment zur konkret-gegenständlichen Praxis, die sinnlich-konkrete Anschauung wird erster Schritt zur Theoriebildung, der durch das begriffliche Denken zu ergänzen ist. So ergeben sich die beiden Pole Theorie und Praxis, die Marx als Momente eines einheit-' liehen Prozesses bestimmt, dessen Ziel die konkret-praktische Veränderung der Wirklichkeit ist (was Parteilichkeit für Theorie und Praxis einschließt).

Bloch ist es in seinen Explikationen zur dritten Thesengruppe besonders wichtig, herauszustellen, daß ein gelungener Theorie-Praxis-Prozeß aller drei Momente bedarf, der Betroffenheit des Klassenstandpunktes, der rational klärenden Kraft des Denkens und der verändernden Tat.

Versucht man, das Verfahren der hier als Beispiel skizzierten Analysen zu verallgemeinern, so ergibt sich als Grobstruktur folgende Schrittfolge:

1. Aufgreifen eines antithetischen Gegensatzes (z.B. Quantität - Qualität)

2. Analyse der beiden Entgegengesetzten auf ihre materialistische Bedeutung hin (z.B. Quantität und Qualität als Bestimmungen der sich entwickelnden Prozeßmaterie)

3. Begreifen der Entgegengesetzten als Pole innerhalb einer dialektisch vermittelten Einheit, die prozessual ist. (z.B. Umschlag von Quantität in Qualität)

4. Herausarbeitung des neuen „Widerständigen" in dieser Einheit (z.B. Tendenz)

Diese Schrittfolge ist in ihren Grundzügcn mit dem identisch, was Bloch Klbst in seiner Bestimmung des Widerspruchs als konstruktive Entfaltung von Widersprüchen herausgestellt hat, sie beschreibt, was Bloch als Grundstruktur dialektischen Denkens eher global umrissen hat, wenn er formuliert: „Dialektisches Denken schreitet durch auftretende Widersprüche im Sachverhalt des Denkens fort."(54)

Anzumerken bleibt, daß Bloch diese Struktur in vielen Fällen nur andeutet oder durch Exkurse und philosophiegeschichtliche Globalskizzen verdeckt. Detailliert ausgearbeitet ist sie nur in den Fällen, in denen er sich (wie

in unseren Beispielen) auf vorliegende Analysen von.Marx und Engels stützen kann.

D. EINORDNUNG DER DIALEKTIK-KONZEPTION BLOCHS IN SEINE PHILOSOPHIE

Die vorausgegangene Darstellung der Dialektik-Konzeption Blochs hat versucht, einen Aspekt seines Denkens, nämlich das von ihm herausgearbeitete Modell materialistischer Dialektik, aus seinen philosophischen Arbeiten herauszukristallisieren und zu explizieren. Es ist nun darauf zurückzukommen, daß Bloch selbst die Frage der Dialektik nie isoliert thematisiert hat, sondern seine Stellungnahmen zu diesem Thema immer im Zusammenhang mit übergreifenden Themen verdeutlicht hat. Es bleibt deshalb die Frage zu beantworten, welchen Stellenwert dieses Moment seines Denkens in seiner Gesamtkonzeption hat.

Zu Beginn unserer Untersuchung war deutlich geworden, daß das zentrale theoretische Motiv, das Bloch zur materialistischen Dialektik führt, die Suche nach einer philosophischen Grundlage für das Denken von Veränderung, Bewegung und Offenheit ist. Dieses Motiv hält sich auch in seiner Rezeption der marxistischen Dialektik und in der Ausarbeitung seiner eigenen Konzeption als Leitgedanke durch. Immer wieder war - das hat sich gezeigt - das unruhige, bewegende, auf Veränderung ausgerichtete Momeni von Dialektik das für Bloch wesentliche. Dialektisches Denken ist für Bloch. so läßt sich die Bedeutung von Dialektik zusammenfassen, der Ansatz, der das Denken des noch unentschiedenen Experiments Welt und Mensch wissenschaftlich fundiert möglich und notwendig macht.

Übergreifend gefaßt, bietet der dialektisch-historische Materialismus als Gesamtkonzeption die theoretische Grundlage für Entwicklung nach vorn, die wissenschaftliche Basis für die Antizipation gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkciten und die politisch-praktische Begründung für aktives Einschreiten in gesellschaftliche Prozesse. Um diesen Stellenwert des dialektischen Materialismus bzw. der materialistischen Dialektik hervorzuheben, muß Bloch gegenüber Formen eines kodifizierten Marxismus gerade die offene Seite der Dialektik akzentuieren. Die feststehenden, ausgearbeiteten Bestandteile des dialektischen Materialismus, z.B. die Kritik der politischen Ökonomie oder die Systematisierung bereits geleisteter begrifflicher Bestimmungen werden dabei nicht negiert, sondern vorausgesetzt.

Blochs Anliegen ist es, den „Wärmestrom" des Marxismus, seine emotional und moralisch motivierende Seite wieder lebendig zu machen, denn - die ist ihm selbstverständlich - ohne dieses Moment ist die revolutionäre Aktivierung des subjektiven Faktors gesellschaftlicher Veränderung nicht möglich. Gerade der subjektive Faktor wird aber, sind die gesellschaftlichen Widersprüche erst einmal entfaltet, zum entscheidenden.

Wichtigster Schritt für die Umsetzung dieses Anliegens ist für Bloch die Herausarbeitung konkreter Antizipation der noch offenen Entwicklung. Die Utopie, die seit Jahrhunderten philosophisch der Versuch solcher Antizipation ist, kann auf marxistischer Grundlage wissenschaftlich begründet und konkret mit der gegebenen Situation vermittelt werden, sie ist konkret geworden. Damit ist auch die menschliche Hoffnung nicht mehr darauf verwiesen, sich in abstrakten religiösen Nebelbildern zu verflüchtigen oder in der Kunst ihren nur künstlerischen Ausdruck zu suchen. Sie kann sich vielmehr immanent im materiell-gesellschaftlichen Prozeß selbst ausdrücken, ist aufklärend und begrifflich faßbar, wird zur docta spes.

Dies herauszuarbeiten und in konkreten Einzelanalysen für unterschiedliche Bereiche aufzuzeigen, ist das Ziel der Blochschen Philosophie.

ANMERKUNGEN

1) Als Beispiel hierfür sei die Einführung Detlef Horsters genannt: der versucht, den marxistischen Ansatzpunkt Blochs an Hand einer Beziehung zur Weltformanalyse des Kapitals zu verdeutlichen.

2) Diese Auffassung wird von der DDR-Philosophie spätestens seit 1957 vertreten, s. hierzu vor allem: R. O. Gropp u.a., Ernst Blochs Revision des Marxismus; M. Buhr, Der religiöse Ursprung und Charakter der Hoffnungspliilosophie Ernst Blochs.

3). hierzu z.B.: H. Gollwitzer, Die Existenz Gottes im Bekenntnis des christlichen Glaubens und J. Haar, Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung" Marxistische Eschatologie.

4). Werner Maihofer, „Ernst Blochs Evolution des Marxismus," in, G. Busch (Red.), über Ernst Bloch. Eine zureichende Kritik solcher Rezeption liefert H. H. Holz in. Lagos ipermalikos.S. 13-16.

5) H. H. Holz, Lagos spermatikos.

6) a.a.O., S. 9-10 und S. 216-221.

7) J. v. Kempski, „Hoffnung als Kritik," in, Neue Deutsche Hefte, vol. 5, S. 913-927.

8) Th. W. Adorno, „Große Blochmusik," in, Neue Deutsche Hefte, vol. 6, S. 14-26.

9)  H. Mehringer/G. Mergner, „Ernst Bloch und die Dialektik der Natur" (nicht gesondert gezeichneter Beitrag), in H. Mehringer/G. Mergner, Debatte um Engels, vol. 2, S. 98-

10)  M. Buhr, Der religiöse Ursprung, S. 591.

11) H. Kimmerle, „Materie und Dialektik," in H. Kimmerle, Die Zukunftsbedeutung der Hoffnung,J1974, S. 2l5-223.

12) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. i, S. 7 und 8; Einfügung im Zitat von der Verfasserin.

13) "Zu dem gegenüber Engels differenzierenden Sprachgebrauch äußert sich Bloch im Materialismusproblem, S. 360.

14) Bloch, Subjekt - Objekt, S. 519.

15) ebenda

16)  Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 271-278.

17 In diesem Punkt findet sich Bloch durchaus in der Tradition von Lukäcsund Korsch, die den Revisionismus der II. Internationale von einem ähnlichen Ansatzpunkt aus kritisiert haben. Für Bloch ist dies jedoch gleichermaßen ein Kriterium der Kritik gegenüber Verflachungen des Marxismus im realen Sozialismus Osteuropas wie gegenüber Verharmlosungen des Marxschcn Ansatzes in der westlichen Sozialdemokratie.

18) Gespräche mit Ernst Bloch, S. 132.

19)  Ebenda.

20) Gespräche mit Ernst Bloch, S. 133.

21) s. z.B. J. Moltmann, „Messianismus und Marxismus," in, G. Busch (Red.), über Ernst Bloch, S. 42-46.

22)  Bloch, Tübinger Einleitung, vol. l, S. 8.

23) a.a.O., vol. 2, S. 171.

24) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 2.

25) s. hierzu: Bloch, Subjekt-Objekt, S. 121-123.

26) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 63.

27) Ebenda.

28) a.a.O., S. 57-

29) Bloch, Subjekt- Objekt, S. 123.

30) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 53.

31) Bloch, Subjekt-Objekt, S. 126.

32) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 58.

33) Bloch, Subjekt - Objekt, S. 124.

34) "a.a.O.,S. 147. , .

35) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 360-364.

36) Bloch. Subjekt - Objekt, 8.125.

37) a.a.O., S. 138.

38) a.a.O., S. 139, Einfügung im Zitat von den Verfasserin.

39) Bloch, Experimenlum Mundi, S. 64.

40) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 61.

41) Bloch, Materialismusproblem, S. 83.

42) Bloch, Subjekt - Objekt, S. 412.

43) Bloch bezieht sich hier auf eine von Marx aufgenommene Kategorie J. Böhmes.

44) Bloch, Materialismusproblem, S. 367.

45) a.a.O., S. 316-358.

46) a.a.O., S. 412.

47) Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf: Bloch, Materialismusproblem, S. 304-315; 372-376; 456-469

48) a.a.O., S. 459.

49) a.a.O., S. 311 f-

50) Die folgende Analyse bezieht sich auf Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 288-318.

51)  Die 11. These wird von Bloch als Losungswort für die neue - dialektisch-materialistische - Philosophie eingeordnet, s. hierzu weiter oben Punkt B. l.

52) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 307.

53) a.a.O., S. 306.

54) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 53.

Editorische Anmerkung

Der Aufsatz ist das 7. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beitráge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 161-184

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