Abschied von Lenin - Anmerkungen zu Klaus Steinitz „Das Scheitern des Realsozialismus“

von Helmut Rehbock

04/07

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1. Der Autor

In seinem neuen Buch untersucht Klaus Steinitz die Ursachen für das Scheitern des ersten Versuchs, in Deutschland die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu überwinden und durch eine bessere soziale Ordnung zu ersetzen.  

Klaus Steinitz, Jahrgang 1932, kam 1934 durch die Emigration seiner Eltern in die UdSSR (der Vater, Wolfgang Steinitz, Experte für finn.- ugr. Sprachen und Völkerkunde, war KPD-Mitglied), kehrte 1946 mit ihnen nach Berlin zurück, wurde 1948 SED-Mitglied, studierte Ökonomie und habilitierte sich 1963. Danach wurde er Mitarbeiter der staatlichen Planungskommission. 1980 – 1989 war er stellvertretender Leiter des Zentralen Instituts der Akademie der Wissen­schaften der DDR. Im Jahr 1990 war er von März bis Oktober Abgeordneter der Volkskammer und von Oktober bis Dezember Abgeordneter des Bundestags. Von 1991 bis 2003 leitete er die AG Wirtschaftspolitik der PDS (nach „Wer war wer in der DDR?“, Berlin 2006). 

2. Die Schwierigkeiten der DDR-Wirtschaft

Im Zentrum von Steinitz’ Analyse stehen ökonomische Zusammenhänge. Er beschreibt das System der staatlichen Wirtschaftsplanung mit seiner Funktions­weise und seinen Ausgangsbedingungen. Dazu gehörten zu Beginn die umfang­reichen Reparationen an die Sowjetunion, die zunächst als Demontagen, später als Entnahmen aus der Produktion durchgeführt wurden. Das schwächte die DDR-Wirtschaft in ihren ersten Jahren entscheidend im Vergleich zur BRD und ist eine wichtige Ursache für den nie aufgeholten Produktionsrückstand. 

Die zu niedrige Produktivität und der technologische Rückstand erlaubten den zur Devisenbeschaffung nötigen Export in das kapitalistische Ausland nur mit einem überhöhten Einsatz von Arbeitszeit und Ressourcen und schmälerte das im Inland verwendbare Nationaleinkommen. Politisch gewollte Preissubventio­nen für Waren des Grundbedarfs, für Mieten, Verkehr und Energie kamen als finanzielle Belastungen hinzu. Durch die Preissteigerungen und Mengenreduzie­rungen von sowjetischem Erdöl zu Beginn der 80er Jahre kam es zu massiven Investitionen in die Braunkohle. Dadurch entstanden beträchtliche Umweltschä­den, und es wurden Finanzmittel gebunden, die nicht mehr für zukunftsorien­tierte Investitionen zur Verfügung standen. 

Steinitz erwähnt unter den „historischen oder äußeren, nicht direkt beeinfluss­baren Bedingungen“ (S.57) als einen negativen Faktor für die DDR-Wirtschaft die Abwanderung „gut ausgebildeter Menschen im Arbeitsalter in die Bundes­republik“ (S. 58). Die Abwanderung war nicht nur eine Folge von besseren Verdienstmöglichkeiten in der BRD, sondern auch in einem hohen Maße eine Folge von Unzufriedenheit über die mangelnden individuellen Freiheiten im angeblichen Sozialismus der DDR und ist damit auch als Auswirkung von strukturellen Fehlentwicklungen dieses Systems zu betrachten. Dort ist auch der finanzielle Aufwand einzuordnen für die politische Überwachung der DDR-Bürger und für die Grenzanlagen, die sie an der Ausreise hinderten. 

Die Volkswirtschaft der DDR erreichte beim Brutto-Inlandsprodukt je Einwoh­ner nur 56% des westdeutschen Niveaus (S.17). Der Schuldenstand der DDR gegenüber dem kapitalistischen Ausland lag 1989 bei 20 Milliarden DM (S.31). Das war hoch, aber pro Einwohner noch weniger als in Ungarn oder Polen (S.32). Aber nicht die Schuldenlast oder die zu niedrige Produktivität führten laut Steinitz zum Zusammenbruch der DDR, sondern die politische Entwicklung. 1989/90 stand die UdSSR nicht mehr hinter der DDR-Führung und es fehlte auch eine „Vertrauensbasis der Bevölkerung“ (S.40) für einen eigenständigen politischen Weg als Alternative zum Beitritt zur BRD. 

3. Vom Oktober-Umsturz 1917 bis zum Imperium einer neuen Klasse

Warum die SED den Rückhalt in der Bevölkerung verloren und sich „politisch und moralisch völlig diskreditiert“ (Christa Luft, zitiert auf S. 35) hatte, deutet Steinitz nur sehr zurückhaltend an. Seine Darstellung müsste deshalb durch historische und soziologische Analysen der „realsozialistischen“ Gesellschaften ergänzt werden. Ich kann dazu nur die wichtigsten Aspekte kurz skizzieren und leite das mit einigen Zitaten aus seinem Buch ein. 

„Die Entwicklung des Realsozialismus in der DDR ist nur im Zusammenhang mit dem Staats-, Wirtschafts- und Planungsmodell der Sowjetunion und der politischen und ökonomischen Entwicklung in der UdSSR (...) zu verstehen und realistisch zu bewerten.“ (S.10)

„Die sowjetische Partei- und Staatsführung übte einen entscheidenden Einfluss auf die politische und ökonomische Entwicklung in der DDR aus.“ (S.11)

„In der Sowjetunion begann der sozialistische Versuch mit einer gewaltsamen Umwälzung, einer revolutionären Machteroberung durch eine Vorhut/Elite (Partei, führende Gruppe innerhalb der Partei). Er war von Beginn an mit der Diktatur der Partei, mit der Unterdrückung jeglicher demokratischen Opposition und einer Zentralisierung der Macht verbunden. Dies war nur möglich, weil sich die Partei der Bolschewiki auf große Teile des Industrieproletariats, der Dorfarmut und der Kleinbauern sowie der mit dem Volk verbundenen Intelligenz stützen konnte.“ (S.51)  

Dem ist für 1917 noch die Unzufriedenheit mit der Politik der Kerenski-Regierung (Fortsetzung des Krieges, keine Landreform, keine Autonomie für die nationalen Minderheiten) hinzu zu fügen. Anders als Kerenskis Mensche­wiki konnten in Deutschland 1918/19 die Sozialdemokraten alle Umsturzver­suche von links abwehren, sich als stärkste Arbeiterpartei behaupten und gleich­zeitig eine eindeutig anti-sozialistische Politik praktizieren. Lenin und andere führende Bolschewiki hatten auf eine sozialistische Revolution in Deutschland gehofft, die dem politisch rückständigen Russland als Rückhalt und Orientierung hätte dienen können. 

Die wirtschaftliche und politische Rückständigkeit hatte auch eine soziale Basis, „die den Bolschewiki nach ihrem Sieg gegenübertrat: 100 Millionen Bauern und 15 Millionen Kleinbürger ihrer proletarischen Basis von 5 oder 6 Millionen.“ (Rudolf Bahro, Die Alternative, S.105) Eine sozialistische Demokratie konnte auf dieser schmalen Basis nicht etabliert werden. Selbst die Unterstützung der Arbeiter war für die KP-Führung nicht sicher, erst recht nicht nach dem Kronstädter Aufstand 1921. 

„Das heißt, die Sowjetmacht, die Diktatur des Proletariats beruhte bereits auf der Herrschaft der Kommunistischen Partei allein. (...) Die Avantgarde hat nur noch die ‚historischen’, die Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse hinter sich, ihre unmittelbaren Interessen nicht mehr. Von nun an galt nicht mehr die Frage, ob die Arbeiterklasse der Partei, sondern ob die Partei der Arbeiterklasse vertrauen kann.“ (Bahro S.132) 

„Alle die Parteikämpfe der zwanziger Jahre zwischen ‚Linken’ und ‚Rechten’ waren nichts als die Geburtswehen der Despotie. (...) Was negativ als Vernich­tung der innerparteilichen Demokratie erschien, war die Kehrseite jenes Prozes­ses, in dem die eindeutigen hierarchischen Unterordnungsverhältnisse für die eigentliche ökonomische Revolution von oben geschaffen und fixiert wurden.“ (Bahro S.136) 

In jenem Prozess wurde auch eine homogene soziale Basis als Träger dieser Revolution von oben geschaffen, unter maßgeblicher Mitwirkung von Stalin als Generalsekretär des ZK der KPdSU seit 1922. Ihm unterstand die Auswahl und Kontrolle der führenden Kader der Partei, des Staates und der Wirtschaft. Stalins Gefolgsleute hatten aber Anfang der 1930er Jahre noch nicht die Mehrheit der Schlüsselstellungen in der Partei besetzt. Das wesentliche Hindernis waren die alten Bolschewiki, die in der Partei über große moralische Autorität verfügten und dadurch auch konträre Meinungen vertreten konnten. Erst durch den von Stalin veranlassten Terror von 1934-38 mittels Geheimpolizei und Willkür-Justiz konnten die alten Bolschewiki ausgeschaltet oder zuverlässig in Stalins Machtapparat integriert werden. Dem Stalinschen Terror fielen auch später noch Millionen von Menschen zum Opfer, sogar deutsche Kommunisten, die vor Hitler in die UdSSR geflohen waren. 

So bildete sich eine neue Klasse von führenden Funktionären in Partei, Staat und Wirtschaft. Nach Stalins Tod wurden zwar der „Personenkult“ und die Verurtei­lung von Unschuldigen kritisiert, z.B. 1956 von Chruschtschow, aber die Herr­schaft der neuen Klasse blieb erhalten. Machtkämpfe innerhalb der neuen Klasse wurden unblutig ausgetragen. So konnten Molotow und Chruschtschow nach ihrem jeweiligen Machtverlust noch einen ruhigen Lebensabend genießen.  

Die neue Klasse der UdSSR verfügte über das von der Gesellschaft produzierte Mehrprodukt durch ihre Machtpositionen in Politik, Wirtschaft, Armee und Geheimpolizei. Nicht Geld, sondern Privilegien auf Staatskosten (Spezial-Läden und -Restaurants, große Wohnungen, Datschen, Sanatorien) waren äußere Anzeichen ihrer Sonderstellung. Da die Justiz und die Medien von ihr kontrol­liert wurden, brauchte die neue Klasse keine Kritik an ihren Privilegien zu fürchten. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die herrschende Klasse der UdSSR ihre Macht auf große Teile Osteuropas ausdehnen. Die Teilung Deutschlands nach den Vereinbarungen der Siegermächte gab der UdSSR die Möglichkeit, ihr politisches System in ihrer Besatzungszone zu etablieren. Von daher hatte ein wirklich demokratischer Sozialismus in der DDR von Anfang an keine Chance. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei 1967/68 zeigen, dass jede Entwicklung in diese Richtung mit allen Machtmittel der UdSSR verhindert wurde. In der DDR wurden auch linke Kritiker wie Robert Havemann oder Rudolf Bahro an der Verbreitung ihrer Meinung gehindert und kriminalisiert. 

Diese knappe und unvollständige Skizzierung der politischen Entwicklung in der Sowjetunion und in ihrem Machtbereich war notwendig, um deutlich zu machen, wie katastrophal sich „strukturelle oder genetische Schwächen und Fehlentwicklungen des Staatssozialismus“ (Steinitz S.56) ausgewirkt haben. Bei der Gründung der KPD 1918/19 bestand in Deutschland noch eine Perspektive für eine linke Alternative zur SPD, die den Sozialismus nur in Sonntagsreden beschwor und in der Praxis eine Politik für das Kapital machte. Diese Alternati­ve wurde nicht nur durch die Machtergreifung der Nazis, sondern auch durch Stalin und seine Nachfolger und ihr System von Lüge und Gewalt zerstört.  

4. Lehren aus dem Scheitern des Realsozialismus

Klaus Steinitz wollte in seinem Buch Konsequenzen aus dem Scheitern des Realsozialismus ziehen. Er hat durchaus einige wichtige Schritte in diese Richtung getan. Seine Darlegung von positiven Ergebnissen in bestimmten Bereichen der DDR-Politik und die Darstellung von ungünstigen äußeren Faktoren (NATO-Aufrüstung etc.), die sich auf Politik und Wirtschaft der DDR negativ ausgewirkt haben, ergänzen das Bild. Sie relativieren nicht die von den „realsozialistischen“ Parteien selbst verschuldeten Deformationen sozialistischer Politik-Ansätze. Auf Steinitz’ „Prioritätenliste für zu vermeidende Fehlentwick­lungen“ steht ganz oben:

„Es darf keinen Wahrheits-, Führungs- und Machtanspruch einer Partei geben. Sozialismus und Demokratie dürfen nicht voneinander getrennt werden. Dies schließt die Notwendigkeit ein, die mit der These der ‚Diktatur des Proletariats’ verbundenen Entstellungen des Wesens eines menschlichen und demokratischen Sozialismus nicht wieder zuzulassen.“ (S.62) 

Damit wird implizit das Leninsche Konzept einer Avantgarde-Partei verworfen. Auch in der westdeutschen Linken nach 1968 hatte dieses (damals schon historisch gescheiterte) Konzept Einfluss gewonnen und diente Menschen in verschiedenen Organisationen, von der DKP bis zu den Maoisten, als Basis für ihre Politik. So wurden Kräfte gebunden, die nicht für die Ausarbeitung einer zeitgemäßen, konsequent sozialistischen Theorie und Praxis und den Aufbau der dazu nötigen Organisationen zur Verfügung standen. Diese Aufgabe ist jetzt erneut anzupacken, daran arbeitet in Oldenburg auch das Linke Forum. 

Für das alternative Konzept einer pluralistischen sozialistischen Demokratie gibt es kaum Vorbilder. In Chile gewann 1970 ein Bündnis aus sechs linken Parteien die Präsidentschaftswahl, die Unidad Popular unter Salvador Allende. In den drei Jahren seiner Regierung vor dem Putsch 1973 konnten nur erste Schritte in Richtung Sozialismus unternommen werden, u.a. Agrarreform und Schaffung eines staatlichen Sektors in der Industrie.  

Seit einigen Jahren gibt es in Südamerika wieder linke Regierungen, die zum Teil einen bürgerlich-sozialdemokratischen Kurs fahren, zum Teil aber durchaus Schritte in Richtung einer sozialistischen Transformation getan haben. In Vene­zuela konnte sich Hugo Chavez mit seiner Regierung aus mehreren Parteien seit einigen Jahren gegen einen Putschversuch und den politischen Druck der USA behaupten. Seine „bolivarianische Revolution“ steht zwar erst am Anfang ihrer Entwicklung, konnte aber erste Erfolge erzielen. Diese Beispiele zeigen, dass erste Schritte in Richtung Sozialismus auch ohne eine leninistische Avantgarde-Partei möglich sind.  

In Südamerika kann man auch die „Herausbildung eines breiten antineoliberalen Blocks“ (Steinitz S. 89) beobachten. Ein derartiges Bündnis besteht in Ansätzen innerhalb bestimmter Länder, aber auch als Verständigung zwischen Staaten mit unterschiedlich zusammengesetzten Regierungen. Damit werden die internatio­nalen Kräfteverhältnisse zwischen den G7-Staaten unter Führung der USA und dem Rest der Welt positiv verändert. 

In Deutschland stößt die Formierung eines breiten anti-neoliberalen Bündnisses auf die objektive Schwierigkeit, dass das deutsche Kapital vom Neoliberalismus profitiert und die materiellen Vorteile dieser Position an Manager, gut ausge­bildete Experten und andere für das Kapital wichtige Gruppen weitergeben kann. Diese Gruppen haben kein objektives Interesse an einer anti-neoliberalen Politik. Auf sie stützen sich auch die meisten politischen Parteien und der überwiegende Teil der Medien. Trotzdem gibt es einen wachsenden Anteil von Lohnabhängigen und formal Selbständigen, der z.B. aufgrund prekärer Arbeits­verhältnisse eine anti-neoliberale Politik tragen und mitgestalten könnte. 

Spannend und schwierig wird ein solches Bündnis durch die Verbindung und gleichzeitige Auseinandersetzung mit keynesianischen Strömungen. Derartige Ideen sind nicht auf „alternative“ Wirtschaftsprofessoren beschränkt, sondern auch unter Arbeitnehmern weit verbreitet, z.B. in der Form: „Wenn die Löhne steigen, dann wird mehr gekauft, dann nehmen Staat und Unternehmen mehr ein“. Marxisten müssen da nicht nur Aufklärung über die ökonomischen Zusam­menhänge leisten, sondern auch Konzepte entwickeln, die breite Akzeptanz erhalten und konkrete Verbesserungen erreichen. So könnte man auch praktisch-politisch den Einfluss der keynesianischen Denkweise zugunsten sozialistischer Ideen zurückdrängen.

Klaus Steinitz
Das Scheitern des Realsozialismus
Schlussfolgerungen für die Linke im 21. Jahrhundert
120 Seiten   (Februar 2007)
EUR 11.80   sFr 21.40
ISBN 978-3-89965-235-2

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor über einen Leser am 31.3.2007.