Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich im Monat vor den Wahlen (1):
Sans papiers in Wahlkampfzeiten: Zwischen Solidarität und Kriminalisierung
04/07

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Versuchte Strafverfolgung einer Kindergartendirektorin

Die Affäre zog in den letzten Märztagen immer breitere Kreise: Am Freitag, 23. März wurde die Direktorin des Kindergartens in der rue Rampal im Pariser Nordosten, im Stadtteil Belleville, sieben Stunden lang in Polizeigewahrsam genommen und verhört. Es handelt sich um Valérie Boukobza, ihre Vorfahren stammten einstmals aus Polen.

Ursprünglich war sie als Augenzeugin zum Kommissariat des 19. Bezirks vorgeladen, um über die Ereignisse vom vorhergehenden Dienstag auszusagen, bei denen es zu heftigen Reibereien zwischen Eltern des Kindergartens und Polizeikräften gekommen war. Doch die Vorladung zur vermeintlichen Zeugenaussage entpuppte sich als Falle: Von 9.10 Uhr bis 16.15 Uhr wurde sie unter Anklage verhört. Vorgeworfen wurden ihr „³Beamtenbeleidigung“ und „in Gemeinschaft begangene Beschädigung öffentlichen Eigentums“, da sie angeblich dabei gewesen sein soll, als auf das Dach eines Polizeiautos geklopft wurde.

Im Hintergrund stehen folgende Ereignisse: Am Montag und Dienstag, 19. und 20. März kam es zu Festnahmen von Sans papiers („illegalen“ Einwanderern) in unmittelbarer Nähe des Kindergartens in der rue Rampal. Der Stadtteil Belleville wird seit Monaten häufig zum Ziel von gezielten Festnahmeaktionen gegen Sans papiers, die durch Kritiker als „rafles“ (in Anlehnung an die Razzien und Massenfestnahmen im besetzen Frankreich im Zweiten Weltkrieg) bezeichnet werden. In der Regel werden dabei Personen aufgrund ihres Aussehens und ihrer vermutlichen geographischen Herkunft willkürlich aufgegriffen, um ihre Personalien festzustellen, auch wenn Kontrollen aufgrund „ethnischer“ oder „rassischer“ Kriterien im Prinzip nach französischem Gesetz absolut rechtswidrig sind. Oftmals richten sich die „Razzien“ gezielt gegen Personen bestimmter Nationalität oder jedenfalls von einem bestimmten Kontinent, da es dabei anscheinend darum geht, bei Abschiebeflügen die Flieger voll zu bekommen. So ging es zu Anfang jener Woche offenkundig darum, Asiaten – insbesondere Chinesen – mit „illegalem“ Aufenthalt aufzugreifen.

An jenem Montag wurde so eine Chinesin festgenommen, die ihre vierjährige Nichte von der Vorschule abholen wollte. Nach halbstündigen Verhandlungen zwischen der Leiterin des Kindergartens, Valérie Boukobza, und den Ordnungshütern kam sie jedoch wieder frei. Am folgenden Tag führten Polizeikräfte, um die Zeit des Unterrichtssschlusses im Kindergarten, eine Durchsuchungsaktion im direkt daneben gelegenen Café „Le petit Rampal“ durch. Angeblich ging es dabei darum, Messer und Drogen zu finden und zu beschlagnahmen – solche Durchsuchungsgründe dienen jedoch in aller Regel nur als Vorwände dazu, um in Wirklichkeit nach “illegalen Einwanderern” zu suchen, ohne dass der Durchschungsbeschluss vor Gericht aufgrund seines diskriminatorischen Charakters beanstandet werden könnte. (Denn eine Durchsuchung, bei der rein aufgrund äuberlider Merkmale nach Ausländern – gar einer bestimmten Herkunft – gesucht werden soll, wäre nach geltendem Gesetz schlicht illegal.). Nur, es wurden keine Waffen und auch keine Drigen gefunden, wohl aber wurde „bei dieser guten Gelegenheit“ ein älterer Mann chinesischer Herkunft festgenommen, der sich in oder neben dem Café befunden hatte und der keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzt. Er hatte seinerseits seine beiden kleinen Enkelkinder vom Kindergarten abholen wollen.

Kollektiver Widerstand gegen Abschiebungsdrohung

Aber dann passierte es: Dutzende von Eltern stellten sich dazwischen, forderten die Freilassung des Festgenommenen und hinderten die Polizeifahrzeuge am Abfahren. (Vgl. beistehendes achtminütiges Amateurvideo: http://www.latelelibre.fr  vgl auch:

http://www.20minutes.fr/
http://luc.deb.free.fr/rampal/Rampal-20-03-07.mp4
http://luc.deb.free.fr/rampal/070320rampla.mov

Mehrere Personen legten sich vor dem Polizeiauto, in dem der Einwanderer saß, quer über die Straße und wurden auf zum Teil ziemlich unsanfte Weise durch die Beamten geräumt. Dabei griffen die entnervten Beamten auch zum Knüppel, drohten damit, ihre beiden Hunde ohne Maulkorb auf die Menge loszulassen, und setzten (was auf dem Video nicht zu sehen ist) auch Tränengas ein – pünktlich zu dem Zeitpunkt, als die Kinder aus dem Kindergarten zu strömen anfingen. Mehrere Kinder bekamen Tränengas ab und/oder stehen aufgrund der für sie traumatisierenden Bilder unter Schock.

Valérie Boukobza, die Leiterin des Kindergartens, befand sich zu dem Zeitpunkt im Inneren und öffnete unter dem Eindruck des Geschehens erneut die Türen, um die Kinder wieder hinein zu lassen. Anscheinend stellte sich sie bei den Ereignissen auch zwischen die Polizisten und die Protestieren. Auf jeden Fall wurde ihr dies wenige Tage später dann zum Vorwurf gemacht.

Alle Lehrergewerkschaften, darunter die beiden größten Verbände (FSU und UNSA-Education) sowie die linke Basisgewerkschaft SUD Education, welcher Valérie Boukobza angehört, protestierten energisch gegen das Vorgehen der Polizei. Bereits während ihres Verhörs am Freitag, 23. März versammelten sich rund 100 Personen, darunter viele Lehrergewerkschafter/innen, vor dem Kommissariat im 19. Pariser Arrondissement

An eine kurzfristig anberaumten Protestdemonstration gegen die Verhaftung der Kindergartendirektorin Valérie Boukobza nahmen am Montag Abend, 26. März vor dem Pariser Rektorat dann rund 2.500 Menschen teil. (‚Le Monde’ schrieb von circa 2.000 TeilnehmerInnen, ‚Libération’ von 2.500.) Dabei sammelten sich Eltern, Angehörige fast aller Lehrergewerkschaften, Antirassisten und Sans papiers in einer bunten Mischung vor dem Pariser Rektorat, in der Nähe der Sorbonne. Hinzu kamen  Vertreter von KP und Sozialdemokraten mitsamt ihren (durch blau-weiß-rote Schärpen kenntlichen) Stadtverordneten. „Noch selten hat man so viele Sozialisten bei einer Demonstration für die Sans papiers gesehen“, konstatierte – in unmittelbarer Nähe des Autors die parteilose und auf einer KP-Liste gewählte Stadtverordnete Clémentine Autain gegenüber dem Alttrotzkisten Alain Krivine ironisch. Sollten Wahlkampfzeiten doch manchmal auch ihr Gutes haben? Der Pariser Stadtrat hatte sogar um 18 Uhr seine Sitzung unterbrochen, „um den Mitgliedern der (rosa-rot-grünen) Mehrheit die Teilnahme an der Kundgebung zu ermöglichen“, wie durchgesagt wurde. Der Versuch eines eher sozialdemokratischen Kundgebungsredners, die Marseillaise anstimmen zu lassen, scheiterte jedoch kläglich: Einige Teilnehmer/innen in den ersten Reihen pfiffen, andere sangen lieber die ‚Internationale’.

Eine Delegation wurde nach längerem Hin und Her (und bürokratischem Gerangel um die Frage, ob sie nun 10 oder 12 Personen umfassen dürfe) vom Rektorat empfangen. Die Delegierten forderten die Schulbehörde dazu auf, sich hinter ihre Untergebene Valérie Boukobza zu stellen, aber die Gespräche verliefen letztendlich ergebnislos. Abgesehen vom Austausch von Höflichkeitsfloskeln kam nichts dabei heraus. Ein einminütiges Video von der Protestversammlung findet sich (vgl.: http://abonnes.lemonde.fr  ) auf der Homepage der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’. 

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft jedoch mitgeteilt, es würde kein Strafverfahren gegen Valérie Boukobza eingeleitet bzw. weiterverfolgt. Diese Nachricht traf am vorigen Donnerstag ein. Dennoch riefen am Freitag, 30. März alle in den Grundschulen vertretenen Lehrer/innen-Gewerkschaften zu einem kollektiven Ausstand aus Protest gegen die vorherige Strafdrohung auf und hielten ihren Aufruf auch hernach noch aufrecht. Der Streik hat am Freitag tatsächlich stattgefunden und wurde vor allem im Pariser Osten (19./20. Arrondissement) befolgt. 

Reaktionen

Gleichzeitig haben zahlreiche Eltern des betroffenen Kindergartens angekündigt, Anzeige bei der Inspection Générale des Services (IGS, „Allgemeine Dienstinspektion“) erstattet. Die IGS ist eine für die Kontrolle möglicher rechtswidriger Praktiken der Polizei und für die Untersuchung von Vorwürfen bezüglich Polizeigewalt zuständige Behörde. Am vorigen Montag wollten Eltern und Erzieher/innen des Kindergartens vor dem Gebäude der IGS im 12. Pariser Bezirk Schlange stehen. Ihr Auftritt wurde jedoch vorschoben, um die Klage noch besser vorzubereiten, d.h. auf hieb- und stichfeste Beweise, auf Dokumente und Zeugenaussagen zu stützen. Unterdessen hat die rechtslastige Polizeigewerkschaft Alliance ihrerseits angekündigt, Strafanzeige gegen die Eltern wegen „Diffamierung“ ihrer Beamtenkollegen zu erstatten. Die Polizistengewerkschaft forderte das Innenministerium dazu auf, strafrechtlich gegen „falsche Vorwürfe“ vorzugehen. Ein solches Vorgehen ist in Fällen, in denen der Polizei Gewalttätigkeit und/oder illegale Verhaftungsaktionen nach Aussehen und Herkunft öffentlich vorgeworfen werden, durchaus üblich.

Auch die Politik reagierte überwiegend mit Empörung auf diese Ereignisse in unmittelbarer Nähe zu einem Kindergarten und das polizeiliche Vorgehen gegen Leiterin und Eltern. „Mit Ausnahme des (rechtsextremen) Front National und der (konservativen Regierungspartei) UMP“, so die Formulierung der bürgerlichen Sonntagszeitung JDD/Journal du dimanche, solidarisierten sich alle politischen Kräfte mit den Betroffenen. Von der radikalen Linken bis hin zum christdemokratischen Zentrumspolitiker und Präsidentschaftskandidaten François Bayrou – der erklärte, das von ihm gewünschte „Frankreich sieht nicht so aus“ wie der Polizeieinsatz von Belleville – verurteilten unterschiedliche politische Vertreter das Vorgehen der Uniformierten.

Der sozialdemokratische Bezirksbürgermeister des 19. Arrondissements, Roger Madec, und sein Parteikollege auf dem Oberbürgermeistersessel von Paris – Bertrand Delanoë – kritisierten den Polizeieinsatz vor einem Kindergarten. Delanoë bot Madame Boukobza an, ihr die Dienste von William Bourdon (eines prominenten linken Anwalts) zu bezahlen.

Der am Montag, 26. März nun „endlich“ (aufgrund des näherrückenden Wahltermins) aus dem Amt geschiedene Innenminister und konservative Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy hat seinerseits das Vorgehen der Polizei verteidigt. „Es ist interssant zu beobachten, dass die Linke mich immer dann auffordert, eine Entscheidung der Justiz nicht zu respektieren, wenn sie ihnen nicht passt“ kommentierte Sarkozy von den französischen Antilleninseln aus, wo er sich zu Wahlkampfzwecken aufhielt. Dass es sich um eine „Justizentscheidung“ handele, die dem Polizeieinsatz zugrunde liege, wurde zwei Tage später im ‚Journal du dimanche’ durch die Pariser Staatsanwaltschaft freilich dementiert: Man habe die Durchsuchung im Café (und die Verhaftung des Sans papiers im Anschluss daran) nicht angeordnet, sondern lediglich „autorisiert“. Das bedeutet wohl, dass sie der Polizei einen Blankoscheck für Einsätze in einer bestimmten Zone erhielt, die sie für nahezu beliebige Aufgriffe nutzen kann… Nichtsdestotrotz hat Sarkozy, trotz seine prinzipiellen Verteidigung des Einsatzes, auch schon zurückzurudern begonnen. Am Freitag, 23. März ordnete er ebenfalls an, dass keine Polizeieinsätze zur Verhaftung von Sans papiers mehr „in oder vor einem Schul- (oder Kindergarten)gebäude“ erfolgten dürften.

Im Nachhinein hat die die Affäre um die KindergartendirektorIN tatsächlich zu einer gewissen Polarisierung auch zwischen der etablierten  Linken  und dem konservativen Bürgerblock geführt. So verteilten am Sonntag (1. April) im 19. Pariser Arrondissement die Mitglieder und Wahlhelfer/innen der „Sozialistischen“ Partei Flugblätter, die immerhin den korrekten Titel trugen; „Schluss mit der Jagd auf Sans papiers!“ Hingegen verteilten die Herren von der UMP Zettel, auf denen ihr örtlicher Parlamentskandidat unter der Überschrift: „Ereignis in der rue Rampal: Schluss mit den Amalgamen (= missbräuchlichen Tatsachenvermischungen, Anm. d. Ü.), stellen wir die Wahrheit wieder her“ seine Sicht der Dinge darstellte. Dort heibt es unter anderem: „Seit langem sind die Straben von Belleville Schauplatz gewalttätiger Aggressionen. Im Rahmen ihrer Aufgaben (...) hat die Polizei auf Verlangen des Staatsanwalts hin Kontrollen in diesen Straben vorgenommen.Da(bei) hat hat nur ihre Arbeit verrichtet. Sans papiers (ohne Papiere) in Frankreich  zu sein, ist  bis zum Beweis des Gegenteils illegal; die Polizei, die eine Person ohne Papiere festnimmt, geht nur ihren Verpflichtungen im Rahmen ihrer Aufgaben nach.“ Usw. usf. Die UMP verteidigt so das Vorgehen der Polizei und stellt – assoziativ – einen Zusammenhang zwischen „illegaler“ Einwanderung und Kriminalität her; möge das Pack im Fegefeuer schmoren... 

Die Gegenoffensive von Rechts

Zu Anfang voriger Woche befand sich die politische Rechte, infolge der Solidaritätsmobilisierung für Valérie Boukobza, noch tendenziell in der Defensive. Und dann kam, schon ab dem Abend des folgenden Tages, der schwere Gegenschlag des Pendels, nachdem es am Dienstag am Pariser Nordbahnhof ziemlich gescheppert hatte. Das bedeutet nicht, dass die regierende Rechte die „Ereignisse“ etwa bestellt hätte, wie im Umlauf befindliche Gerüchte zumindest andeuten. Solche Geschehnisse lassen sich nicht auf Knopfdruck abrufen. Allerdings widerspiegeln sie ein tatsächlich vorhandenes Klima, das in hohem Mabe durch die politische Figur Nicolas Sarkozy geprägt worden ist. 

„Wir oder das Chaos“

„Die Autorität ist auf unserer Seite. Die Schwarzfahrer, Aufrührer und Gewalttäter finden sich auf der anderen Seite“, also auf der Linken. Mit diesen Worten machte der konservative Präsidentschaftskandidat  und frisch aus dem Amt geschiedene Innenminister Nicolas Sarkozy am vorigen Mittwoch (28. März) die innenpolitischen Fronten klar.  

Auf einer Grobveranstaltung im nordfranzösischen Lille reagierte Sarkozy - gar zu froh - so auf die Ereignisse vom Vorabend, bei denen rund 300 bis 400 überwiegend junge Leute mehrere Stunden lang im Pariser Nordbahnhof randaliert und sich Auseinandersetzungen mit starken Polizeikräften geliefert hatten. „Wenn Frau Royal alle Sans papiers legalisieren möchte und wenn die Linke auf der Seite derer stehen möchte, die ihre Fahrkarte nicht bezahlen, dann ist das ihre Sache“ tönte Sarkozy. „Die Ereignisse von der Gare du Nord lassen den Rechts-Links-Gegensatz wieder aufleben“ drückte die konservative Tageszeitung Le Figaro dieselbe Idee auf ihrer Titelseite aus. 

Passiert war folgendes: Am späten Nachmittag des vorigen Dienstag wurde der 32jährige kongolesische Staatsbürger Angelo H., der in der Pariser Vorstadt Sevran lebt, an der Gare du Nord von Fahrkartenkontrolleuren angehalten. Er trug keinen Fahrausweis bei sich. Daraufhin wurde er durch die Angestellten der Pariser Verkehrsbetriebe auf unsanfte Art festgenommen und zu ihrem  Kontrollposten innerhalb der Gare du Nord gebracht. (Nach Angaben der Kontrolleure freilich soll Angelo H. einem von ihnen einen Kopfstob versetzt haben, was durch ihn selbst und eine Reihe von Augenzeugen freilich dementiert wird.) Eine Reihe jüngerer Beobachter der Szene sammelten sich daraufhin vor dem Kontrollposten, protestierten und forderten die Freilassung des jungen Mannes. Dass die Angelegenheit in den folgenden Stunden mächtig eskalierte, hat mit den örtlichen Gegebenheiten zu tun: Die Gare du Nord, der drittgröbte Bahnhof der Welt, besteht in ihrem unterirdischen Teil aus einem mehrere hundert Meter langen Schlauch, der zwei Métrostationen miteinander verbindet. An diesen Schlauch sind die Ankunft- und Abfahrtbahnsteige mehrerer Vorortzüge, die in nördlichen und östlichen Pariser Banlieues fahren, angedockt. Deswegen ist der riesige Schlauch auch ein regelmäbiger Treffpunkt und Aufenthaltsort für viele migrantische Jugendliche, die hier im Pariser Stadtgebiet ankommen – und regelmäbiger Schauplatzen  von Kontrollen, die manchmal musclé (muskelbewehrt), also schlagkräftig, ausfallen.  

An diesem Abend versuchte eine gröbere Zahl von Anwesenden, ihrem Unmut endlich einmal Luft zu verschaffen. Der spontane Protest wurde zum Ventil für häufig erlittene Frustrationen. Die Spannung wuchs. Es wurden Parolen gegen Nicolas Sarkozy gerufen, der in den Augen vieler Jugendlicher aus den Unterklassen und aus Migrantenfamilien wie kein Zweiter zur Hassfigur geworden ist, in der eine Politik für die Reichen und die Verantwortlichen der Repression personifiziert werden: 1,8 Millionen bisherige Nichtwähler haben sich vor Ablauf des letzten Jahres nach entsprechenden Aufrufen von Bürgerrechtsvereinigungen neu in die Wählerlisten eingetragen, in den Banlieues mehr als andernorts. Es wird vermutet, dass es vielen von ihnen speziell darum gehe, gegen Sarkozy zu stimmen.   

Gleichzeitig wurden starke zusätzliche Polizeikräfte in den Bahnhof zusammengezogen. Die Situation eskalierte, es flogen Blumentöpfe und Wurfgeschosse auf die Beamten, die ihrerseits mit Tränengas schossen und Mühe hatten, den riesigen Bahnhof mit seinen verschachtelten Gängen komplett evakuieren zu lassen. Wie häufig in solchen unkontrollierten Situationen nutzten auch eine Reihe von Anwesenden die Gelegenheit, um einige Schaufenster einzuwerfen und zu plündern. Die Reaktion fiel hart aus, von den 22 Festgenommenen wurden die ersten beiden binnen 48 Stunden zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt. 

Wie sich Ende vergangener Woche herausstellte, hatten der ehemalige Innenminister und sein Amtsnachfolger François Baroin in den ersten Tagen gelogen, als sie behaupteten, Angelo H. sei „ein illegaler Einwanderer, der sich seit 15 Jahren gesetzeswidrig in Frankreich aufhält und 22 Vorstrafen hat“. Es wäre auch kaum vorstellbar, dass er in einem solchen Falle nicht längst abgeschoben worden sei. Infolge einer Intervention seines Anwalts wurde jedoch in den Zeitungen publik, dass er keineswegs „illegal“ nach Frankreich kam, sondern im Alter von zehn Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung gesetzmäbig hergekommen war. Zudem hatte er nicht 22 Vorstrafen, sondern ihrer sieben, von denen sechs – wegen kleinerer Diebstähle und Dummheiten im Jugendalter – schon deutlich mehr als ein Jahrzehnt zurücklagen. Die Assoziationskette aus „illegalen Einwanderern“, Gesetzesbruch, Gewalt und Aufruhr – manche Medien sprachen gar von „Stadtguerilla“ – war aber wohl in vielen Köpfen schon längst hergestellt worden.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor am 1.4.2007 zur Verfügung gestellt.