Nach den Bombenanschlägen vom 11. März in Casablanca, 10. und 11. April (Casablanca /Algier) und vom 14. April (Casablanca)

Bewaffneter Islamismus in Nordafrika (Teil 1)
Djihadismus in Marokko  


von
Bernard Schmid

04/07

trend
onlinezeitung

Erfindungsreichtum ist nicht immer eine feine Sache. Insbesondere dann nicht, wenn er zum Ersinnen von Tötungsinstrumenten benutzt wird. Was zuvörderst für Mitarbeiter von Staatsapparaten und Grobfirmen gilt, trifft auch für das Improvisationstalent der terroristischen „Handwerker“ kleinerer Gruppen zu. Um Tetanusbakterien zu züchten und mit diesen Bakterienkulturen imprägnierte Nägel in ihren Bomben zu platzieren, erdachten sich die, nun ja, Hobbybastler einer dijhadistischen Gruppe in Marokko ein Gebräu mit toten Ratten. Wer von den Splittern getroffen worden wäre, sollte innerhalb von 24 Stunden lebensgefährlich erkranken, falls ihm kein Impfmittel gespritzt würde.

Dies hatten - glaubt man den Angaben der marokkanischen Sicherheitsbehörden - die Mitglieder einer rund 30köpfigen Dijhadistengruppe ersonnen, die in der letzten Märzwoche in mehreren marokkanischen Städten ausgehoben worden ist. Die Verhaftungsaktion folgte auf die Bombenexplosion vom 11. März 2007 in einem Internetcafé in Casablanca, bei der eine Person – der Träger des Bombengürtels selbst (Abdelfettah Raydià – starb. Ein Komplize des Getöteten, Youssef Khoudri, wurde bei der Detonation leicht verletzt und konnte entkommen, wurde jedoch alsbald verhaftet. Ferner wurden drei Gäste des Internetcafés bei der Explosion verletzt.

11. März: Explosion in einem Internetcafé in Casablanca

Was zunächst wie ein gezieltes Attentat zum dritten Jahrestag der Anschläge von Madrid aussah, entpuppte sich freilich schnell als eine Art Unfall. Die beiden jungen Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren wollten zwar durchaus Attentate begehen, aber nicht zu dem Zeitpunkt und an dem Ort, wo die Bombe explodierte. Vielmehr hatten sie auf dijhadistischen Homepages herumsurfen wollen, waren dabei jedoch im Internetcafé vom Sohn des Besitzers entdeckt und zur Rede gestellt worden. Es kam zum Streit zwischen den jungen Männern, und der Sohn des Inhabers schickte sich an, die Polizei herbeizurufen. Abdelfettah Raydi, der nach bisherigen Erkenntnissen bereits seit vier Tagen mit seinem Bombengürtel durch die Gegend spazierte, wollte jedoch unbedingt seiner Verhaftung entgehen. Deshalb betätigte er den Auslöser.

Nunmehr gehen die marokkanischen Behörden davon aus, dass die beiden Besucher des Internetcafés einer 30köpfigen Gruppierung angehörten, deren Mitglieder fast alle aus Sidi Moumem stammten. Es handelt sich um  ein Slumviertel in der marokkanischen Wirtschaftmetropole Casablanca, wo auch die Explosion in dem Café erfolgte. Der Gruppe gehörten demnach mindestens sieben Selbstmordattentäter an, die sich darauf vorbereiteten, sich in fünf marokkanischen Städten hochgehen zu lassen, von Tanger im Norden bis zum Touristenort Agadir im Süden des Landes. Ziele sollten ausländische Schiffen im Hafen von Casablanca, Touristenhotel sowie Symbole der marokkanischen Staatsmacht sein. Es hätte sich um die ersten Bombenanschläge in Marokko seit den Attentaten vom Mai 2003 auf Touristeneinrichtungen und Gebäude der jüdischen Gemeinde in Casablanca gehandelt. (Die damaligen Anschlägen kosteten 45 Tote, unter ihnen mutmablich 12 Selbstmord-Attentäter. Im Zusammenhang mit den Attentaten von Casablanca 2003 wurden am 18. August desselben Jahres insgesamt 87 Personen als Komplizen bestraft.  Unter ihnen wurden 4 zum Tode und 37 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Tausende Verdächtigte waren zuvor verhaftet worden.) 

Am 27. März 2007 wurden im Zuge der Ermittlungen 24 Personen festgenommen. Nunmehr dementierten die Strafverfolgungsbehörden jedoch den zuvor von ihnen vermuteten Zusammenhang zwischen den djihadistischen Aktivitäten in Marokko und dem transnationalen Netzwerk Al-Qaïda. Vielmehr handele es sich um eine rein inländische Kleingruppe, deren „harter Kern“ aus Islamisten bestehe, die sich – nach ihrer zeitweiligen Verhaftung bei den Festnahmewellen infolge der  Attentate von vor vier Jahren - im Gefängnis radikalisiert hätten. Unter ihnen befand sich auch der am 11. März zu Tode gekommene Abdelfettah Raydi, der im Zusammenhang mit den Anschlägen von 2003 festgenommen, aber infolge eines königlichen Gnadenakts aus der Haft entlassen worden war. Beobachter meinen, die Inhaftierung in überfüllten Gefängniszellen zusammen mit einer gröberen Anzahl anderer (tatsächlicher sowie vermeintliche) Djihadisten habe vielen Anwärtern auf den bewaffneten Kampf im Ergebnis eher als „Crashkurs“ gedient. In der Zelle hätten sie etwa den Umgang mit Sprengstoff, auf der theoretischen Ebene, beigebracht bekommen. 

Neue Anschlagswelle: April 2007 in Casablanca 

Am Dienstag, 10. April ging es in der marokkanischen Wirtschaftsmetropole mit neuen Bombenexplosionen wieder los. Es fing am frühen Morgen dieses Dienstags an: Im Morgengrauen hatten umfangreiche Polizeikräfte ein Haus in Hay Farah, einem Unterschichts-Stadtviertel von Casablanca, umstellt. In ihm hatten vier Männer die Nacht verbracht, die verdächtigt wurden, neue Attentate vorzubereiten. 

Um 5 Uhr früh kam ein erster Mann aus dem Haus, bewaffnet mit einem Säbel und einem Sprengstoffgürtel von vier Kilogramm Gewicht um die Hüften. Nachdem er die Polizisten bedroht und nachdem diese einen Warnschuss abgegeben hatten, wurde er durch einen gezielten Schuss niedergestreckt und getötet. Ein zweiter Mann stieg in den darauffolgenden Minuten auf das Dach des Hauses, sprang von dort auf die Terrasse eines Nachbargebäudes und drückte auf den Auslöser seines Sprengstoffgürtels, wohl um dem Zugriff der Polizisten zu entgehen. Die beiden Männer wurden als Mohamed Mentala und Mohamed Rachidi identifiziert. Beiden waren verdächtigt worden, an den Vorbereitungen zu den 2003er Attentaten von Casablanca teilgenommen zu haben. 

Am Nachmittag des Tages lieb sich unweit vom Ort des frühmorgendlichen Geschehens ein dritter Verdächtiger, dem zunächst die Flucht geglückt war, in die Luft gehen. Das Stadtviertel war zu diesem Zeitpunkt durch die Polizei umstellt. Ein Beamter wurde bei der Explosion schwer verletzt und starb auf dem Transport zum Krankenhaus. Der tote Terrorist wurde als Ayoub Raydi, der Bruder des Selbstmordattentäters aus dem Internetcafé vom 11. März, identifiziert. Am Abend desselben Dienstags näherte sich ein vierter Mann aus der Gruppe einem Pulk von Polizisten und sprengte sich daraufhin selbst in die Luft. Drei Passanten und zwei Beamte wurden dabei verletzt. 

Insgesamt wurden am vergangenen Dienstag in Casablanca 21 Personen verletzt, zieht man den getöteten Polizisten und die umgekommenen Attentäter von der Liste ab. Am folgenden Tag, dem Mittwoch, verkündete der marokkanische Innenminister Chakib Benmoussa daraufhin, im Zusammenhang mit den Ereignissen des Vortags würden jetzt noch drei oder vier Mitglieder derselben Gruppe gesucht.   

Am Samstag, 14. April ereigneten sich am Vormittag kurz vor neun Uhr erneut zwei Bombenexplosionen in Casablanca, in zehn Sekunden Abstand zueinander. Zwei Suizidattentäter hatten zunächst versucht, in das US-Konsulat sowie in das ‚American Language Center’ der marokkanischen Wirtschaftsmetropole einzudringen. Nachdem die Polizisten sie aber daran gehindert und etwas eindringlicher Nachfragen zu den Gründen ihrer Anwesenheit an dem Ort gestellt hatten, sprengten die beiden Bombengürtelträger sich jeweils vor der Tür in die Luft. Eine Frau wurde dabei verletzt. Es handelte sich laut der marokkanischen Nachrichtenagentur MAP (die sich wiederum auf polizeiliche Angaben berief) um zwei Brüider, Mohamed und Omar Maha, die 1975 bzw. 1984 in Casablanca geboren waren. Die Polizei sperrte die Örtlichkeiten der Anschläge (an der Place de la Fraternité, im wohlhabenden Viertel von Casablanca) grobräumig ab. Dabei konnte sie vor Ort drei weitere Verdächtige, von denen einer einen Bombengürtel an seinem Körper trug, festnehmen. Ferner wurde ein weiterer Sprengstoffgürtel in unmittelbarer Nähe vor dem Vier-Sterne-Hotel Kandara aufgefunden.  

Die marokkanische Polizei spricht im Nachhinein in strategischer Hinsicht von einem Verzweiflungsakt, (sinngemäb:) da die dahinter stehende Djihadistengruppe in den Tagen zuvor erfolgreich ausgehoben worden sei und die Attentäter daher in Überstürzung gehandelt hatten. (Vgl. dazu: http://www.corusnouvelles.com) Das marokkanische Innenministerium gibt an, die Sprengstoffgürtel wiesen Ähnlichkeit zu jenen auf, die am vergangenen Dienstag benutzt worden waren. Am Samstag Nachmittag kündigte es an, den Chef und die „Nummer Zwei“ der Gruppierung von Selbstmordattentätern festgenommen sowie Sprengstoffverstecke entdeckt zu haben. Die beiden Anführer der Djihadistengruppe hätten die Namen weiterer Mitglieder sowie neue Anschlagsziele verraten.  

Diskussion: Internationaler Hintergrund oder hausgemachter Terrorismus? 

Handelt es sich um rein lokale Grüppchen, wie die marokkanischen Behörden selbst anzunehmen scheinen, oder aber um Aktionen eines international tätigen Netzwerks?  

„Al-Qaïda in Nordafrika“ ist seit längerer Zeit ein Schreckgespenst sowohl der Regierungen im Maghreb als auch europäischer Staaten wie insbesondere Spanien und Frankreich geworden, nachdem sich Ende Januar die algerische Salafistengruppe GSPC offiziell in „Al-Qaïda im Maghreb“ umbenannt hat. Es handelt sich um die letzte verbliebene bewaffnete Islamistengruppe in Algerien. Bei ihrer Umwandlung in eine Sektion des transnationalen Netzwerks Al-Qaïda handelt es sich jedoch um eine Art Flucht nach vorn, da die Gruppe durch ihre „Internationalisierung“ das völlige Scheitern ihrer Pläne zu einer innenpolitischen Umwälzung in Algerien zu kaschieren versucht. Vgl. auch: http://www.trend.infopartisan.net  Mit den  jüngsten Attentaten in Marokko war sie zunächst in Verbindung gebracht worden, dies wird aber nun von offizieller Seite dementiert.

Das marokkanische Innenministerium sprach seinerseits von einer „rein marokkanischen Gruppe“. Allerdings möchte die algerische Zeitung ‚La Nouvelle République’ einen Brief des marokkanischen Monarchen Mohammed VI., den dieser nach den Attentaten von Algier vom 11. April an den Staatspräsidenten Algeriens Abdelaziz Bouteflika sandte, in dieser Hinsicht als Dementi von oben verstehen. Mohammed VI. hatte in dem Schreiben betont, dass „Marokko von (denselben) Terroristen ins Visier genommen wird, die am Mittwoch Algerien getroffen haben“. (Vgl. http://www.lanouvellerepublique.com) Dies ist zunächst einmal eine Botschaft der Solidarität zwischen den betroffenen Staaten und ihren Apparaten, wird aber durch die algerische Intellektuenzeitung als Hinweis darauf gewertet, dass doch maghrebweite Verbindungen zwischen den islamistischen Terroristenzellen und ihren Netzwerken bestünden.   

 Der marokkanische Politologieprofessor und Islamismusspezialist, der in diesen Tagen (von ‚Le Monde’ bis ‚taz’) vielfach interviewt wird und vielerorts zu Wort kommt, geht seinerseits davon aus, dass „die denkenden Köpfe des Netzwerks“, das in Marokko operiere, „Verbindungen zum Ausland“ hätten. Hingegen zitiert die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ den Herausgeber der marokkanischen Wochenzeitung ‚Le Journal’, Ali Amar, mit folgenden Worten: „Diese Selbstmordattentäter (Anm.: von Casablanca) haben keinerlei politische Forderungen vorgetragen. Sie kommen aus den Bidonvilles (Anm.: ‚Kanisterstädten’, also Slums) und sind eher Produkte der sozialen Verwerfungen der marokkanischen Gesellschaft als eines organisierten politischen Willens. Al-Qaïda gibt ihnen einen Operationsmodus vor, den sie über das Fernsehen und dank der Satellitenschüsseln wahrgenommen haben. Sie handeln auf eigene Faust, und benutzen das Etikett des undurchschaubaren terroristischen (Netzwerks) wie ‚Franchisingnehmer’.“

Lumpenhaft ist hingegen, was der marokkanischen Staatsapparat hinsichtlich angeblicher Kontakte zwischen dem transnationalen Netzwerk Al-Qaïda und der (gegen Marokko kämpfenden) Westsahara-Befreiungsfront Polisario behauptet. Und so wird es durch die konservative französische Tageszeitung ‚Le Figaro’ vom 13. März 2007 zitiert: „Al-Qaïda soll ebenfalls versuchen, die marokkanische Monarchie zu destabilisieren, indem sie mit der Polisariofront (...) zusammenarbeitet. Laut dem marokkanischen Justizminister Mohammed Bouzoubaa läuft diese Kooperation, ‚die durch die Berichter internationaler Nachrichtendienste bestätigt wird’, über die algerische Salafistengruppe GSPC und die marokkanische Gruppe ‚Salafiya Djihadiya’ als Zwischenstationen ab.“ Der Terrorismus-Vorwurf als Waffe gegen den jeweiligen innenpolitischen Hauptfeind, egal ob sich die behauptete Verbindung zu Al-Qaïda rational nachweisen lässt oder nicht: Dieses skrupellose Rezept ähnelt dem haltlosen Geschwafel der damaligen spanischen konservativen Regierungspartei PP, die nach den Bombenanschlägen von Madrid vom 11. März 2004 über eine angebliche Connection zwischen Al-Qaïda und der ETA daher schwadronierte. Den spanischen PP unter Ex-Premierminister José Maria Aznar haben diese dreisten Lügen wenigstens den Wahlsieg im März 2004 gekostet...

Dijhadisten und „etablierter“ Islamismus: Der marokkanische Fall  

Das Abdriften junger Männer in den Djihadismus hängt aber auch mit der Ungeduld jener aktivistischen Elemente, die von den etablierten islamistischen Parteien und Bewegungen nicht mehr integriert werden können, zusammen. Die bedeutendste Kraft des politischen Islam in Marokko, die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (le PJD) mit der Ölfunzel als Parteisymbol, verfolgt eine rein legalistische Strategie. Bei ihrer Gründung war sie von den ägyptischen Muslimbrüdern inspiriert, die ihrerseits in der längsten Phase ihrer Geschichte eine so genannte „Strategie der Selbstbeschränkung“ verfolgten: Die etablierte Staatsmacht soll nicht herausgefordert werden, solange die Gesellschaft dafür „nicht reif“, also nicht genügend ideologisch vorbereitet und islamisiert worden ist. Heute ähnelt die Strategie des PJD tendenziell jener der „moderat islamistischen“ und wirtschaftsliberalen  türkischen Regierungspartei AKP. Diese Kräfte repräsentieren vor allem das sozial konservative Antlitz des politischen Islam - also den Ansatz, dass eine erfolgreiche „Bewahrung der Sitten, der Moral und der kulturellen Identität“ der Gesellschaften, in denen sie wirken, auf Dauer die Lösung der sozialen Probleme verspreche, da „Korruption und Laster“ verschwänden und so keine Gelder mehr verschwendet würden.  

Die moderate Islamistenpartei PJD könnte für ihre Strategie des Legalismus und des geduldigen Abwartens in näherer Zukunft belohnt werden. Politische Beobachter und Umfragen versprechen ihr jedenfalls einen starken Erfolg bei den kommenden Parlamentswahlen, die im September 2007 stattfinden sollen – bei denen von vor fünf Jahren hatte die Partei freiwillig nur in einem Teil der Wahlkreise Kandidaten präsentiert, um die offene Konfrontation mit der Monarchie zu vermeiden. Im Moment würde sie neben der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) und den Sozialdemokraten der USFP zur dritten führenden Kraft aufsteigen. Auch ihr Eintritt in die Regierung wird für möglich gehalten. Die Anhänger der aggressiven Variante des politischen Islam, deren Anhängern der Umsturz des Etablierten als „gottlose Ordnung“ versprochen wird, können sich mit einem solchen Vorgehen jedoch auf Dauer nicht abfinden.  

Zwischen beiden Varianten des politischen Islam steht in Marokko die Vereinigung des greisen „Scheikhs“ Abdessalam Yassine, die Djamaa Al-Adl wa Al-Ihsane (ungefähr: „Gruppe Gerechtigkeit und gute Taten“). Diese gewaltlose Gruppierung, deren Anhänger auch kurz „Adlisten“ genannt werden, ist in Wirklichkeit eine doppelköpfige Bewegung. Auf der einen Seite tritt sie wie eine normale politische Partei, die Reformen und darunter die Beseitigung der Monarchie – die der PJD ausdrücklich nicht antasten möchte – verspricht. Andererseits findet sich innerhalb der Al-Adl-Bewegung auch ein harter Kern, der mindestens ebenso stark mystisch wie politisch motiviert ist. Seine Anhänger werden in ein striktes Programm der Alltagsgestaltung gedrängt, mit der Verpflichtung zum Aufstehen eine Stunde vor Sonnenaufgang – um besondere Gebete zu verrichten -, zum Fasten an zwei Tagen in der Woche und ähnlichen Vorschriften. Das mag sich wie eine religiöse Gehirnwäsche auf die Anhänger auswirken, allerdings steht kein gewalttätiger Aktivismus auf dem Programm. Zwischen den Mystikern und den „Politikern“ finden sich noch Anhänger einer „Wiedererrichtung des Kalifats“ in der Bewegung, ohne dass eine Strategie zur Umsetzung dieser Idee erkennbar wäre.  

Al-Adl wirkt vielmehr, mit insgesamt an die 100.000 geschätzten Mitgliedern, wie ein kopfloser Riese, der nicht richtig weib, wohin mit seiner Kraft. Der greise „Scheikh“ Yassine (nicht zu verwechseln mit seinem durch die israelische Armee getöteten palästinensischen Namensvetter!) gibt sich unterdessen den Träumen hin, die ihm durch exzessives Fasten und ähnliche Züge eines aufreibenden Lebensstils eingeflöbt werden. Im vorigen Jahr soll der 79jährige so einen Traum besonders hoher symbolischer Bedeutung gehabt haben. In diesem Traum sah er die spanische Armee, die Marokko erobert hatte, woraufhin die bestehende alawitische Monarchie zusammenbrach. Abdessalam Yassine führte in dem Traum eine Armee marokkanischer Aufständischer an, die schlussendlich siegreich war und „das Kalifat wieder herstellte“. Das Problem ist jedoch, dass dieses Ereignis (Yassines Vision zufolge) ohne Zweifel bereits im Jahr 2006 hätte stattfinden sollen. Und dieses ist nun inzwischen vorüber... 

Die marokkanischen Behörden, so berichtete jedenfalls die französische Afrikazeitschrift Jeune Afrique vom 18. März 2007, betrachteten die (wie alle die Monarchie nicht befürwortende Kräfte) verbotene, dabei aber tolerierte Bewegung inzwischen gar als „besten Damm gegen die dijhadistischen Gruppen“. Denn aufgrund des starken sozialen Integrationsdrucks dieser Bewegung auf ihre Anhänger fänden kaum Übergange zu anderen Gruppen statt, etwa solchen, die den bewaffneten Kampf aufnehmen möchten.  

Ähnlich äubert sich der marokkanische Politologie-Professor Mohammed Darif gegenüber der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ (vom 12. April 07) auch über die Rolle des PJD. Dessen Aufstieg könne zu einem Bestandteil der Einbindungs- und Eindämmmungsstrategie der Monarchie gegenüber den unkontrollierbarne Djihadisten werden. Zwischen dem PJD und letzteren Gruppen gibt es aber allem Anschein nach mehr Übergänge (d.h. Überläufer in Form junger, unzufriedener und ungeduldiger Aktivisten) als zwischen al-Adl und den Djihadgruppen. 

Die jüngst tätig gewordene Djihadistengruppierung ist nicht die einzige solche (Klein)gruppe, die in Marokko aktiv war oder ist. Neben dem GICM (islamische Gruppe marokkanischer Kämpfer), der mit den Attentaten von Madrid vom 11. März 2004 in Verbindung gebracht worden ist, bestehen oder bestanden noch weitere offenkundig autonome Zelle. Am 31. August 2006 gaben die marrokanischen Behörden bekannt, dass sie 56 Angehörige eines „terroristischen Netzwerks“ unter dem Namen Ansar al-Mahdi (Anhänger des Mahdi) verhaftet hätten. Unter ihnen befanden sich auch Berufsmilitärs.  

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 15.4. vom Verfasser.  Es folgt demnächst Teil (2): Jenseits des Bürgerkriegs: Bewaffnete Radikalislamisten in Algerien heute. Am 18.4.2007 erscheint dazu, insbesondere zu den Attentaten von Algier, ein Artikel in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’

KLEINER LESETIPP zu diesem Thema auch: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24905/1.html

Wahlen in Frankreich
Eine AK-Veranstaltung mit dem Bernard Schmid

Am 22. April beginnen die französischen Präsidentschaftswahlen, 14 Tage später folgt der zweite Wahlgang, die Stichwahl zwischen den beiden führenden KandidatInnen. Im Juni wird es dann Parlamentswahlen geben. Der langjährige ak-Korrespondent Bernhard Schmid wird am 26. April in Hamburg nicht nur über den aktuellen Stand der Dinge berichten, sondern auch die Politik der linken Opposition und die Entwicklungen im rechten Lager behandeln. Letzteres ist auch das Thema seines dieser Tage im Pahl-Rugenstein-Verlag erscheinenden neuen Buches "Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus".

Hamburg-Altona, Donnerstag, 26.4.2007 20 Uhr, Motte, Eulenstraße 43, Seminarraum 1: Sarkozy, Bayrou, Royal, Le Pen - Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Vortrag und Diskussion