die Parole, denn unsere Befreier
waren inzwischen schon sehr nahe
gekommen. —
Die Stunde war vorbei, der Zeitpunkt des Antretens da, aber
kein Mensch stand auf dem Appellplatz.
Da betrat der SS-Kommandant selbst in Begleitung seines
Stabes das Lager und berief die Lagerältesten
zu sich, um von ihnen Rechenschaft
über das Verhalten der Lagerinsassen zu fordern. Diese wichen in
geschickter Form aus, worauf sämtliche Blockältesten
herbeigerufen wurden. Auch diese verstanden es, sich aus der
Affäre zu ziehen. Dann ordnete der Kommandant an, daß um zwei
Uhr nachmittags alles endgültig anzutreten habe, da er sonst
zweihundert bis an die Zähne bewaffnete SS ins Lager schicke,
die seinem Befehl Nachdruck verleihen würden.
Um zwei Uhr aber war der Appellplatz
so leer wie vordem. Kurz vorher war ich in den Franzosenblock
Nr. 14 gegangen, wo ein deutscher Kamerad Blockältester war. Ich
saß an einem der Tische und unterhielt mich mit einem
deutschsprechenden Franzosen, als die Tür aufgerissen wurde und
der Kommandant Pister höchstpersönlich in Begleitung seines
Adjutanten hereintrat und in schreiendem Ton den Blockältesten
verlangte. Dieser war gerade nicht da. Als er mich erblickte,
brüllte er midi an, den Leuten sofortiges Antreten zu befehlen.
Obgleich ich mit dem Block garnichts zu tun hatte, mußte ich
gehorchen. Dem Kommandanten den Rücken zuwendend, rief ich den
französisdien Kameraden zu:
„Rassemblement, camerades, depechez-vous im peu!" (Antreten,
Kameraden, aber ein bißchen sdinell!), wobei ich
mit den Augen zwinkerte. Die meisten verstanden mich sofort und
traten auf die Blockstraße hinaus, wo sie schnell verschwanden,
um sich irgendwo zu verstecken. Aber das Heraustreten ging
diesem SS-Banditen nicht schnell genug.
Er faßte einige der Nächststehenden bei den Ärmeln und stieß sie
zur Tür hinaus mit den Worten: „Seid doch
froh, daß Ihr aus dem Lager heraus und in geschützte
Verhältnisse kommt. Wir wollen doch nur das Beste!"
Er streifte mich (dabei mit einem Blick. Die Antwort, die ich
diesem Mörder mit den Augen gab, muß er wohl verstanden haben.
Vielleicht kam es ihm auch zu dumm vor,
die Leute selbst einzeln herauszujagen. Jedenfalls verließ er
den Raum und trat auf die Blockstraße, die aber völlig leer war.
Ich war ihm gefolgt. Wutschnaubend wandle er
sich an mich mit der Frage, wo denn
die Leute wären, worauf ich ihm erwiderte, daß ich es auch nicht
wüßte und im übrigen ja für diesen Block nicht zuständig sei.
Ich hielte mich nur zufällig hier auf.
In diesem Augenblick kehrte auch mein Kamerad, der
Blockälteste, zurück, den er sofort das gleiche fragte. Dieser
antwortete in geschickter Weise, daß er nicht verantwortlich
gemacht werden könne, wenn die Leute nervös geworden seien. Sie
hätten seinen, des Kommandanten
Worten, die er vor acht Tagen an die versammelten Häftlinge
richtete, geglaubt. Hier sei ihnen versprochen worden, das ganze
Lager, so wie es sei, im Falle des
weiteren Vordringens der Amerikaner chne Schaden an der Person
eines jeden Häftlings zu übergeben.
Wenn die Leute, da sie nun dennoch evakuiert werden sollten,
mißtrauisch geworden seien und den
gegebenen Befehlen nicht mehr gehorchten, so sei das nicht seine
Schuld.
Mit seinen eigenen Worten geschlagen, entfernte sich dieser
Strolch mit seinem Stabe, ging durch das
Lagertor dem Kommandanturgebäude zu, um andere
Gewaltmaßnahmen anzuordnen, die
auch nicht lange auf sich warten ließen.
Dieser Mörder hatte genau acht Tage vorher dem gesamten Lager
das erwähnte Versprechen gegeben, jedoch von vornherein niemals
die Absicht gehabt, es zu halten.
Er wollte hierdurch lediglich die vierzig und mehr
Kameraden, die am nächsten Tage
aufgerufen werden sollten, um ermordet zu werden, in Sicherheit
wiegen.
Wenige Minuten später stürzten zweihundert stark bewaffnete
SS, jeder dazu noch mit einem
dicken Knüppel in der Hand, ins Lager und trieben, was sie nur
an Häftlingen habhaft werden konnten, auf den Appellplatz.
Dort wurden dann „Evakuierungs-Transporte" zusammengestellt, die
einige Zeit darauf aus dem Tor marschierten, um das gleiche
Schicksal zu erleiden wie die vorher Evakuierten. Die anderen
mußten noch formiert im Lager
stehen bleiben und auf Abruf warten. Sie
blieben aber nicht stehen, da die Furcht, ermordet zu
werden, sie immer wieder in irgendwelche Verstecke trieb. Die in
diesen entscheidenden Tagen von den Lagerfunktionären
unter ständiger Bedrohung des eigenen Lebens gezeigte
sabotierende Haltung den SS-Befehlen gegenüber, um Zeit und
immer wieder Zeit zu gewinnen, hat vielen Tausenden von
Leidensgefährten das Leben gerettet.
So kam der 11. April.
In der vergangenen Nacht hatte kaum einer von uns ein Auge
zugetan, denn das Artilleriefeuer war so
stark, daß die Baracken davon erzitterten. Als der Morgen
graute, fühlte jeder, daß der
entscheidende Tag gekommen war.
Zu essen gab es schon den zweiten Tag nichts mehr. Die SS
hatte allen Proviant aus dem Lager herausgeholt. Es war ein Tag
banger Erwartung des Kommenden. Die wenigen Eingeweihten lagen
verteilt oder geschlossen in Bereitschaft und harrten der
Entwicklung der Dinge. Heute mußte die Entscheidung fallen. Was
würde uns der Tag bringen?
Die langersehnte Freiheit und das Leben oder — — — den Tod??
Wir waren jedenfalls bereit, unser Leben so teuer wie möglich zu
verkaufen. Es wurde neun, zehn, es wurde elf Uhr. Der Geschoßdonner
rollte näher. Noch war die SS im Lager, noch zeigte sich nichts
Auffälliges, woraus wir hätten schließen können, daß unsere
Vernichtung beginnen sollte. Eine dumpfe, drückende Stimmung lag
über dem Ganzen wie Gewitterschwüle. Die Lautsprecher in den
Blocks, die sonst die SS-Befehle vermittelten, hatten den ganzen
Vormittag geschwiegen. Es war einhalbzwölf Uhr.
Ich saß in meinem Block. Gerade vorher hatte midi ein Kamerad
nach kurzem Besuch verlassen, wobei wir uns nodi einmal die
Hände drückten, der eine in des anderen Augen las und jeder
wußte, was er bald zu tun haben würde.
Noch einmal überprüfte ich in Gedanken
die Situation. Jede Minute konnten die Würfel fallen. — — — Ja,
sie würden fallen, so oder so, ein jeder fühlte es. Würde man
uns noch vergasen?
Würde man uns mit Brandbomben belegen und uns niederknallen?
Was wird geschehen?
Aber komme, was da mag, die Rechnung würde teuer werden. — In
meinen Gedanken wurde ich durch das Aufheulen eines anhaltenden,
dumpfen Sirenentones unterbrochen.
Daraufhin ein Knacken im Lautsprecher, dann die öftere
Wiederholung eines Befehls:
„Alle SS-Angehörigen aus dem Lager!"
Das Heulen der Sirene, die das Herannahen amerikanischer
Panzer ankündigte, und dieser SS-Befehl zündeten. — Die Stunde
der Abrechnung war gekommen! —
Jeder wußte, was er für die Erhaltung des Lebens aller
Lagerinsassen zu tun hatte. Alles war bis ins kleinste
organisiert.
Die Luft war erfüllt vom Brummen der schweren
Panzermotoren, vom Bersten der Granaten,
vom Knattern der MG's, vom Lärm des Kampfes, der sidi in diesem
Augenblick um Buchenwald herum abspielte. Im Lager selbst ein
Raunen, ein Flüstern von Befehlen. Gut getarnte Verstecke wurden
aufgerissen und Waffen, Maschinengewehre, Karabiner, Pistolen,
Handgranaten, Panzerfäuste gingen von Hand zu Hand. Alles
blitzschnell.
Ein Schleichen auf den Lagerstraßen.
Von Block zu Block in Deckung .springend vor den pfeifenden
Kugeln der SS, die noch die Wachtürme
besetzt und das Lager
umschlossen hielt, arbeiteten sieh einzelne Trupps an unsere
Peiniger heran. Einige Kameraden, mit isolierten Drahtscheren
bewaffnet, hatten die Aufgabe, den mit mehreren tausend Volt
geladenen Stacheldrahtzaun zu durchschneiden.
Maschinengewehre hackten, Handgranaten zerplatzten,
Geschoßgarben prasselten immer wieder, und in nächster Nähe das
Brummen der Sherman-Panzer, die an Buchenwald vorbeifuhren.
Der Turmgürtel, der das untere Lager umschloß, war bereits
freigelegt. Die SS, die nicht mehr flüchten konnte und sich uns
ergab, wurde gefangen genommen. Einzelne
andere, deren Geschoßgarben uns den Tod bringen sollten, wurden
im Kampf niedergemacht.
Der erste Trupp von achtundfünfzig gefangener SS stand da mit
erhobenen Händen und wurde entwaffnet. Kalkweiß, mit
schlotternden Knien erwarteten sie das gleiche Schicksal, das
sie Millionen von uns in grausamster Weise bereitet hatten.
Jetjt würde, so glaubten sie, die Vergeltung über sie
hereinbrechen und sie alle in Grund und Boden stampfen. Aber
keiner von uns legte Hand an sie. . . .
Sie wurden abgeführt, um einem gerechten Urteil ausgeliefert
zu werden. Das SS-Lager selbst und die Umgebung von Buchenwald
wurden systematisch durchgekämmt und viele Gefangene eingebradit.
Die Türme, die mit MG's bestückt waren, auf denen noch vor
wenigen Minuten die SS als „Ewige Wache" stand, wurden von
unseren Leuten beseht. Auf dem Hauptturm wehte die weiße Fahne.
Am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald zog eine
Abteilung ehemaliger Häftlinge als Wache auf. Der uns jahrelang
umschließende Stacheldraht war an mehreren Stellen
durchschnitten.
Wir waren frei! — — —
Einige Stunden danach rollte der erste amerikanische Panzer
ins Lager Buchenwald. Der Offizier war
überrascht, uns völlig befreit zu finden und
erstaunte noch mehr, als er vernahm, daß wir uns beim
Herannahen der alliierten Truppen selbst
befreit hatten. Er verkündete dann im Namen der
alliierten Mächte unsere Freiheit und dankte für die hier
angetroffene Disziplin.
Freiheit!!!
Gibt es eigentlich in der ganzen Welt etwas Schöneres, etwas
Herrlicheres, etwas Erhabeneres als die Freiheit?
Da standen sie, die noch stark auf den Beinen waren und im
Lager herumlaufen konnten, umhalsten sich, drückten sich immer
wieder die Hände und versicherten sich wiederholt, daß sie frei
wären. — — — Frei, erlöst — endlich erlöst — von all dem
Furchtbaren, Grausamen, das sie erleben mußten. Viele weinten
vor Freude wie Kinder.
Ich selbst konnte nicht so froh
werden. Auf mir lastete der seelische Druck noch zu stark. Ich
empfand die erste Stunde der Freiheit als etwas
Unaussprechliches, Großes, das nicht allein über uns, sondern
über alle gequälte Menschen
Europas gekommen war. Ich fühlte, daß die neue Zeit angebrochen
war, daß etwas Großes, Reines, Ungeahntes von uns Besitz
ergriffen hatte. Dieses mächtige Gefühl
war so stark, daß ich zurückgezogen eine kurze Zeit allein
verbringen mußte .....
Der amerikanische Offizier traf im Einvernehmen mit unserer
Lagerleitung sofort Maßnahmen betreffs unverzüglicher
Herbeischaffung von Verpflegung und teilte uns mit, daß wir uns
vorerst selbst überlassen blieben, bis die in den nächsten Tagen
folgenden Besatzungstruppen
für alles weitere sorgen würden.
Das gesamte Lager stand unter dem Freudenrausch der wieder
gewonnenen Freiheit. Die endliche Erfüllung des oft
schwer geprüften Glaubens und der manchmal vagen Hoffnung
stärkte nicht nur die noch einigermaßen Gesunden, sondern auch
die durch den jahrelangen Hunger krank und schwach Gewordenen
und gab uns allen neue Kraft.
Was in der Umgebung von Buchenwald nur an Nahrungsmitteln
aufzutreiben war, wurde nach oben geschafft. Die Brotration
wurde am nächsten Tage zunächst verdreifacht, das Essen kräftig
und reichlich zubereitet. Trotz der
Ermahnungen, bei dem Verzehr der Mahlzeiten auf den
ausgehungerten Körperzustand Rücksicht zu nehmen, starben viele
Leidensgefährten nach dem ersten Sattessen, das sie jahrelang
entbehren mußten.
Als endlich die ersten amerikanischen Soldaten unser Lager
betraten, spiegelte sich unsere große Freude auf ihren
Gesichtern wider. Sie waren verlegen wie Kinder, ob all der
Dankbarkeit und Freude, die aus uns sprach. —
— Um so größer war ihr Entsetzen, als
sie weiter ins Lager geführt wurden. Das furchtbare Elend, der
Anblick der bis zu Skeletten abgemagerten Menschen, der
ungeheuren Leichenberge, ließ ihren Blick vor den grauenhaften
Spuren der nationalsozialistischen Barbarei erstarren. Als man
ihnen dann die Torturen schilderte, die Foltereinrichtungen
zeigte, soweit diese noch vorhanden waren, steigerte sich ihr
Entsetzen über die Bestialitäten bis zur
Sprachlosigkeit.
Täglich starben noch unzählige Kameraden an den Folgen der
erlittenen Grausamkeiten und Qualen. Aber sie waren die ersten,
die wieder als Menschen beerdigt wurden. Sie wurden beigesetzt
und ihre Gräber mit Namen versehen, damit ihre Angehörigen sie
gegebenenfalls später in die Heimat überführen könnten.
Die Krankenpflege lag von nun an ganz in den Händen des
amerikanischen Militärs. Die Sanitätssoldaten pflegten und
betreuten die Schwerkranken mit rührender Liebe. Es wurde alles
versucht, die große Not, das unsagbare
Elend so schinell wie möglich
zu lindern und zu beseitigen.