Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Die „neueste Stufe“ der Rentenreform ist in Vorbereitung.

04/08

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Die Gewerkschaften sind „eher gegen“ die Anhebung der Rentenversicherungspflicht von 40 auf 41 Jahre. Doch die gewerkschaftliche  Landschaft zeigt sich zersplittert und reagiert bisher nur schwach. Erste Protestdemonstrationen fanden am vergangenen  Samstag (29.3.08) statt.

 Es war abzusehen, nun ist es soweit: Die französische konservative Regierung plant die nächste Stufe der so genannten „Rentenreform“. Und dies bedeutet ganz konkret, die nächste Anhebung der obligatorischen Rentenversicherungspflicht von (jetzt soeben erreichten) 40 Beitragsjahren für fast alle Beschäftigten auf künftig 41 Beitragsjahre. Letztere werden in Zukunft für alle Lohnabhängigen, die eine Rente zum vollen Pensionssatz beziehen möchten, erforderlich sein. Entsprechendes kündigte Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand am vorigen Donnerstag anlässlich einer Gesprächsrunde mit den sog. „Sozialpartnern“ an. 

In den kommenden vierzehn Tagen wird die Regierung von Premierminister François Fillon einen entsprechenden Gesetzentwurf im Zuge von „Konzertationen“ mit den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vorlegen – „Konzerationen“, bezüglich derer der zuständige Minister Xavier Bertrand betont, es handele sich „nicht um Verhandlungen“. Denn das Kernstück der Reform, die bis im Sommer dieses Jahres durch beide Parlamentskammern verabschiedet worden sein soll, gilt ihm (und der gesamten Regierung) schlicht als nicht verhandelbar: den Übergang zu den 41 Beitragsjahren zu organisieren. 

Ihn sieht im Prinzip bereits das  Gesetz zur so genannten „Rentenreform“  des damaligen Arbeits- und Sozialministers – eines  gewissen François Fillon – vor. Ein Gesetz vom 24. Juli 2003, das damals nach massiven Protesten (zwei Millionen Demonstranten auf der Straße und mehrere Berufsgruppe im Streik, unter ihnen insbesondere die Lehrer/innen als damalige „Speerspitze“ des Ausstands) und mitten im Hochsommer doch noch durchgesetzt worden ist. Dieses sieht zwar perspektivisch bereits den Übergang zu bis zu 42,5 Beitragsjahren am Horizont 2.020 vor. Jedoch beinhaltet das damalige Gesetz auch einen Passus, der vorsieht, alle vier Jahre – und zum nächsten Mal im Frühjahr 2008, also nach dem „Superwahljahr“ 2007 – eine Bilanz aus seiner Anwendung und aus den dann aktuellen ökonomischen & sozialen Erfordernissen zu ziehen.  

Jene Gewerkschaftsfunktionäre, die das Gesetz zur „Rentenreform“ damals unterstützten – das gilt insbesondere für die Führung des sozialliberalen Gewerkschaftsdachverbands CFDT, dessen Generalsekretär François Chérèque ihm am 15. Mai 2003 nach 75minütiger Unterredung beim Premierminister (damsls Jean-Pierre Raffarin) zustimmte – begründeten ihre Zustimmung u.a. auch mit dieser Passage. Nein nein, es werde schon nicht so heiß gegessen werden, wie es gekocht worden war, und man werde im Jahr 2008 ja sehen, wie es dann weitergehe. Vorläufig gehe es erst einmal „nur“ um die Anhebung von bisher 37,5 Beitragsjahren (für die öffentliche Bediensteten, denn für die Lohnabhängigen der Privatindustrie und im privaten Dienstleistungsgewerbe waren sie bereits durch die „Balladur-Reform“ im Hochsommer 1993 angehoben worden) auf nunmehr 40 Beitragsjahre zur Rentenkasse. Dies, so tröstete etwa die CFDT-Führung ganz im Jargon bürgerlicher Ökonomen, garantiere auch „in Zeiten steigender Lebenserwartung“ die Fortzahlung der Renten im Alter. - Das entscheidende Dogma, dass man vom Steigen der Lebenserwartung unter der Erwerbsbevölkerung zu reden, aber vom (noch viel schnelleren) Anstieg der Produktivität in der kapitalistischen Ökonomie zu schweigen habe, hatten damals auch viele Gewerkschaftsfunktionäre geschluckt. Inklusive übrigens bei der „postkommunistischen“ CGT, deren Apparat sich damals in oppositionellen Gestikulationen übte, während er de facto in den Tagen nach dem 13. Mai 2003 den spontan sich entwickelnden Ausstand der Beschäftigten in den Transportbetrieben (Eisenbahngesellschaft SNCF und Pariser Nahverkehrsbetriebe RATP) abwürgte. Während viele an der CGT-Basis offen und „ehrlich“ Wut auf die regressive „Reform“ zeigten, strebte der  Apparat damals vor allem nach Verhandlungen mit der Regierung. Insgeheim zeigten sich viele Funktionäre von der technischen Notwendigkeit der „Reform“ überzeugt, da, nun ja, die Lebenserwartung der Erwerbsbevölkerung nun einmal wachse. Aber abfedern könne man die Auswirkungen der Reform ja noch. 

Nun ist es also soweit: Die nächste Stufe der Rakete wird gezündet. Und wie reagieren die Gewerkschaften? Am vergangenen Samstag kam es zu ersten Protestdemonstrationen, zu denen freilich nur ein Teil der französischen Gewerkschaften aufgerufen hatte. Konkret, die CGT sowie die Union syndicale Solidaires – Dachverband u.a. der linken Basisgewerkschaften SUD – und die eher linke, stärkste Lehrer/innen/gewerkschaft FSU. Nicht dabei waren hingegen weder die (rechts)sozialdemokratische CFDT – als zweitstärkster Gewerkschaftsdachverband in Frankreich (hinter der CGT) – noch der populistisch schillernde drittstärkste Gewerkschaftsdachverband im Lande, Force Ouvrière (FO). Auch die kleineren, eher rechten Gewerkschaftsbünde wie die CFTC, also der Verband der Christenheinis, und die Standesvertretung der höheren und leitenden Angestellten (CGC) waren nicht mit von der Partie.  

Seitens der CFDT stellte ihr Generalsekretär François Chérèque – dieselbe Nase wie 2003, die damals der „Rentenreform“ von Raffarin und François Fillon zustimmte – unmissverständlich klar, dass er nicht damit rechne, dass der Übergang  zu 41 Beitragsjahren noch verhandelbar sei. Seine Gewerkschaft lasse sich nicht „in eine Infragestellung der Reform (von 2003) hineinziehen“, tönte Chérèque. Und er warf den anderen, oppositionelleren Gewerkschaften in einem Interview mit dem möchte-gern-hippen Wirtschaftswochenmagazin ‚Challenges’ – dessen Ausgabe vom vergangenen Freitag sein Konterfei auf dem Titelblatt ziert – vor, sie riefen nun nach „Verhandlungen“, obwohl sie doch genau wüssten, „dass sie ohnehin keine Vereinbarung dazu unterschreiben werden“. 

Allerdings erhob die CFDT dennoch eine Bedingung gegenüber der konservativen Regierung von François Fillon. Und zwar möchte sie einer neuerlichen „Reform“stufe bei den Renten erst dann zustimmen, wenn signifikante Fortschritte bei der Beschäftigung von über 50jährigen Lohnabhängigen (l’emploi des seniors) zu verzeichnen seien. Noch ist also die offenen Zustimmung der CFDT zur „Reform“ bzw. ihrem neuesten Schritt für die Regierung noch nicht im Sack. Ähnlich äußerten sich dazu auch der christliche Gewerkschaftsbund CFTC oder die Gewerkschaft der höheren Angestellten, CGC.

Tatsächlich benennt dieser zaghaft vorgetragene Einwand einen der Hauptwidersprüche der so genannten Reform. Denn einerseits wird die Anzahl der erforderlichen Beitragsjahre immer weiter hochgefahren -  und zwar in Höhen, bei denen man sich (in Anbetracht der heutigen Länge von Schul-, Studien- und Ausbildungszeiten sowie den beschäftigungsfreien Perioden etwa aufgrund beruflicher Umorientierung) ausrechnen kann, dass sehr viele abhängig Beschäftigte sie erst im Alter von 70 oder noch später erreichen. Andererseits aber trennen viele Unternehmen sich möglichst systematisch von den „älteren“ Beschäftigten (ab circa 50), da diese ihnen als „nicht flexibel genug“, „zu langsam“ oder schlicht „zu teuer“ – jedenfalls dort, wo die Löhne und Gehälter Alter oder Dienstjahre/Dauer der Betriebszugehörigkeit berücksichtigen -  gelten. Doch in Wirklichkeit geht es den neoliberalen „Reformern“ ja auch gar nicht so sehr darum, die Anzahl der in Lohn und Brot stehenden Lohnabhängigen im Alter von jenseits der 50 zu erhöhen. Dies vielleicht auch. Aber im Kern dreht es sich vor allem darum, das beitragsfinanzierte Solidarsystem bei den Sozialversicherungskassen (darunter der Rentenkasse) systematisch zu schwächen, um „begleitend“ immer stärker ein System der Kapitaldeckung einzuführen. Die Anzahl jener Französinnen und Franzosen, die vorgeben, individuell zu sparen oder sich eine private Absicherung zu finanzieren, um später eine Zusatzrente beziehen zu können, wuchs laut neuesten Umfragen von 49 Prozent (im Jahr 2007) auf jetzt 54 % (2008). – Vgl. dazu http://www.lefigaro.fr/ 

Die CFDT und die Christenbrüder (CFTC) möchte nun jeweils „erst einmal abwarten, was die Regierung in den nächsten 14 Tagen vorschlagen wird“. Als ob es daran, im Kern, noch den Hauch eines Zweifels geben könnte… 

Die neueste geplante Schandtat der französischen Regierung wird nun absehbar dazu führen, dass das durchschnittliche Niveau der Renten bis zum Jahr 2.020 auf dann nur noch 55 % des letzten Lohnes oder Gehalts sinken dürfte. (Vgl. http://journal-lamarseillaise.com/ Neben der Verschlechterung der Anrechnungsmodalitäten früherer Berufsjahre, die bereits in der „Reform“ von 2003 enthalten war, trägt dazu insbesondere auch der Mechanismus der Strafbeträge bei, also der Abzüge aufgrund fehlender Beitragsjahre (décotes). Dadurch werden die Lohnabhângigen doppelt bestrafen, denn einerseits fehlen ihnen schon rein materiell als notwendig erachtete Beitragsjahre bei der Umlage, und andererseits wird ihnen noch zusätzlich ein expliziter Abzug vorgenommen. Kein Wunder also, dass viele Lohnabhängige sich immer stärker dazu genötigt sehen, durch eine individuelle Kapitaldeckung ihr Lebensniveau im Alter „vorbeugend“ abzusichern. Sofern sie es sich denn leisten können, in Anbetracht ihres Lohnniveaus und der Lebenshaltungskosten. Am 6. März 08 demonstrierten übrigens – zum ersten Mal seit einer Protestmobilisierung im Oktober 1996, unter der damaligen Regierung Chirac/Juppé – die Renter/innen in Paris gegen ihren sinkenden Lebensstandard (vgl. http://fr.youtube.com/watch?v=uDZ-CENL7a8 ). 

Am vergangenen Samstag protestierten nun in Paris, je nach Angaben, 4.600 (lt. Polizei) bzw. 15.000 Menschen (Angaben der Veranstalter) gegen die neueste „Reform“stufe. In Lyon waren es je nach dem 2.000 bzw. 5.000 Personen, in Marseille klaffen die Angaben zwischen „1.500“ Menschen (Polizei) und „10.000“ (CGT) auseinander. Weitere Demonstrationen fanden in anderen französischen Städten statt, etwa in Toulouse (900/3.000 Teilnehmer/innen), Bordeaux oder Lille. (Vgl. http://www.letelegramme.com/) Diese Mobilisierung wird aber auf keinen Fall genügen, um die Regierung zu beeindrucken – wenn man bedenkt, dass allein am ersten Protesttag gegen die damalige „Reform“ François Fillons, am 13. Mai 2003, nur in Paris schon 150.000 Menschen auf den Asphalt gingen. Auf dem Höhepunkt waren es damals, bei einer landesweiten Demonstration am 26. Mai 2003 in Paris, eine Million Menschen, die gleichzeitig unterwegs waren. Und dennoch konnte das umstrittene Gesetz damals nicht verhindert werden... 

Unterdessen zeigt sich die öffentliche Meinung gespalten und widersprüchlich. Einerseits sollen laut jüngsten Umfragen 59 % bzw. 61 % eine Anhebung der Beitragsjahre zur Rentenkasse befürworten oder, eher resignierend formuliert, für „unumgänglich“ halten. Andererseits spricht sich eine annährend genauso große Anzahl von 60 Prozent dafür aus, dass derzeitige gesetzliche Rentenalter von 60 Jahren – das Mindestalter, an dem man sein Anrecht auf eine Alterspension geltend machen kann – beizubehalten und nicht anzuheben. (Ein gesetzliches Rentenalter, das immer mehr zur rein theoretischen Norm wird.) Als ginge es darum, sich doch noch einmal irgendwo subjektiv zu vergewissern. Ob die öffentliche Meinung vor diesem Hintergrund doch noch in Richtung einer kämpferischen Stimmung  „kippt“, bleibt vorläufig abzuwarten.

Editorische Anmerkungen

Den Aufsatz erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.